Das Klischee hält sich weiter
Junge Frauen wählen seit Jahrzehnten die gleichen Berufe: solche mit tieferem Lohn und schlechteren Karrierechancen als jene der Männer. Dabei würde es an Jobvielfalt nicht mangeln – und die Wirtschaft braucht Frauen.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2009 - 18:50 Uhr
«Männer beteiligen sich immer stärker in Haushalt und Familie», verkündeten die Schlagzeilen im August. Nämlich 18,1 Stunden pro Woche – zehn Jahre zuvor waren es noch 15,7 Stunden gewesen. Bei den Frauen sank der Durchschnitt von 31,4 auf 30 Stunden.
Beatrice Seiler, 21, ausgebildete Automatikerin bei ABB Schweiz, Baden: «Ich habe mich immer für Berufe interessiert, bei denen man ein Resultat sehen kann. Meinen Traumberuf Automechanikerin konnte ich wegen Rückenproblemen nicht lernen. Im Internet las ich zum ersten Mal über den Beruf Automatikerin. Der sagte mir sofort zu. Auch meine Eltern haben mich gleich unterstützt. Der Beruf ist sehr abwechslungsreich, mir stehen jetzt sehr viele Technikberufe offen. Ich muss oft erklären, was eine Automatikerin macht. Manchmal werde ich gefragt, ob ich in dieser Männerwelt zurechtkomme oder ob ich nicht Probleme hätte mit dem technischen Verständnis. Es war nicht einfach, aber es ist möglich!»
Die Männer sind zu Hause zwar etwas fleissiger geworden, doch die Zahlen zeigen vor allem eins: An der klassischen Rollenteilung hat sich wenig geändert. Bekommt ein Paar ein Kind, tritt die Frau beruflich kürzer, und er macht weiter wie bisher. Die Weichen dazu werden bereits in der Berufswahl gestellt. Drei der zehn beliebtesten Ausbildungen der Mädchen enden mit -assistentin: medizinische Praxisassistentin, Dentalassistentin und Pharmaassistentin (siehe nachfolgende Grafik). Alles Berufe, die wenig Lohn, wenig Weiterbildungsmöglichkeiten und wenig Karriere bedeuten. Die Endung -assistent ist unter den Top-Ten-Berufen der Buben nicht zu finden.
Zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz machen eine Lehre – und wählen seit 30 Jahren praktisch die gleichen Berufe. Zwar stehen rund 230 Berufe zur Verfügung, aber die Mehrheit der Mädchen sieht sich unter gerade mal zehn davon um, die Knaben hingegen unter 100. Die Mädchen sind zwar besser in der Schule; dennoch beschneiden sie sich stark in ihren Entwicklungsmöglichkeiten.
«Viele Mädchen und Buben orientieren sich an überholten Vorstellungen von Frauen- und Männerrollen. Der Mann gilt immer noch als Haupternährer. Für viele Mädchen ist die Vorstellung, ein Leben lang berufstätig zu sein, keineswegs selbstverständlich», erklärt Isabelle Santamaria-Bucher, Projektleiterin des Nationalen Tochtertags, an dem Mädchen für die breite Palette der Berufe sensibilisiert werden. Mädchen und Buben nähmen zudem wahr, dass ganze Tätigkeitsbereiche einem Geschlecht zugeschrieben werden.
Moritz Greber, 22, Fachmann Betreuung Kind im dritten Lehrjahr, Chinderhuus Simsala in Windisch AG: «Erst wollte ich Steinbildhauer werden, aber das klappte nicht. Also begann ich mit der Fachmaturitätsschule. Irgendwie kam mir die Idee, Primarlehrer oder Kindergärtner zu werden. Ich war schulmüde, und dann hörte ich, dass man via Lehre Kinderbetreuer werden kann. Nach dem Praktikum bekam ich gleich eine Lehrstelle. Die Reaktionen hatte ich mir schlimmer vorgestellt. Viele Männer sagen: ‹Was? Das wäre nichts für mich, all die kreischenden Goofen.› Die Frauen finden es meist ‹herzig›. Insgesamt spüre ich aber viel Respekt. Der Beruf ist sehr anstrengend. Aber ich bekomme von den Kindern so viel zurück, dass sich meine Energie von selbst wieder auftankt.»
«Ich erlebe manchmal, dass Mädchen, die sich für einen sogenannten Männerberuf interessieren, keine Unterstützung von den Eltern erhalten, weil sie sich dieses Umfeld für ihre Tochter nicht vorstellen können», sagt Andrea Egli, Präsidentin der Fachvereinigung für Berufsberatung. Umgekehrt würden Buben, die ihren Freunden erzählten, sie wollten Kleinkinderzieher werden, ausgelacht. «Wer einen atypischen Beruf wählt, braucht zuweilen ein starkes Selbstbewusstsein. Mit 14 oder 15 Jahren orientiert man sich noch stark an der Meinung des sozialen Umfelds und der Eltern.»
Berufsberaterinnen und -berater hingegen vertreten gemäss Egli die geschlechtsneutrale Berufswahl schon lange: «In einer guten Beratung wird auf Stärken und Interessen eines Jugendlichen eingegangen. Wenn ein Mädchen einen Beruf wählt, in dem es mit vielen Männern zu tun haben wird, weise ich es auf mögliche Reaktionen aus dem persönlichen und dem Arbeitsumfeld hin, um es darauf vorzubereiten. Manchmal rede ich auch mit den Eltern.»
Frauen sind besser geeignet für fürsorgliche Tätigkeiten und Männer besser für körperliche und technische Arbeiten: Dieses Klischee ist in der Schweiz weit verbreitet und wird gern biologisch begründet. Ein Blick in andere Länder zeigt jedoch, dass vor allem kulturelle Prägung dahintersteckt. In Indien sind Bauarbeiterinnen keine Seltenheit. «In der Schweiz haben wir grosse Mühe, Ingenieurinnen und Informatikerinnen zu finden, während das in China und in Ländern des ehemaligen Ostblocks kein Problem ist», erzählt Lukas Inderfurth von ABB. In der Schweiz versucht die Firma seit Jahren, Mädchen auf die Attraktivität technischer Berufe aufmerksam zu machen. Das beste Beispiel für einen unkonventionellen Berufsweg steht an der Spitze des Unternehmens: Jasmin Staiblin ist ausgebildete Physikerin und Elektrotechnikerin und ist im Sommer Mutter geworden. Nach 16 Wochen Mutterschaftsurlaub ist die Topmanagerin zurück an der Spitze.
Seit rund zehn Jahren bieten immer mehr Firmen und Ausbildungsstätten – häufig zusammen mit Gleichstellungsorganisationen – Schnuppertage und Unterrichtsmaterial an, um die Berufswahlpalette der Mädchen zu erweitern und sie für die hohe Bedeutung eines Berufs zu sensibilisieren.
Joëlle Weber, 18, Elektropraktikerin/Automatikmonteurin im zweiten Lehrjahr bei Siemens in Zürich: «Meine Mutter arbeitet als Logistikerin in einem Elektrogeschäft. Dort jobbte ich manchmal in den Ferien. So kam ich erstmals mit dem Beruf Elektropraktikerin in Berührung, der seit diesem Jahr Automatikmonteurin heisst. Ich merkte bald: Das will ich werden! Elektronik ist ein Bereich, der sich ständig weiterentwickelt, das gefällt mir. Meine Mutter hat mich bei meiner Berufswahl voll unterstützt. In meiner Firma bin ich die einzige Frau, die diese Lehre macht, glaube ich. Viele fragen mich, ob das nicht schwierig ist, so unter Männern. Aber für mich ist das überhaupt kein Thema. Ich fühle mich voll akzeptiert.»
Die grösste Initiative ist der Nationale Tochtertag, der seit 2001 jeweils im November stattfindet – mit finanzieller Unterstützung des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie. Einen Tag lang begleiten Tausende Mädchen zwischen 10 und 13 Jahren in der Regel ihren Vater – häufig auch die Mutter – zur Arbeit.
Hunderte Betriebe bieten tagesfüllende Programme für ganze Mädchengruppen. Angesprochen werden immer mehr auch Buben. Sie diskutieren im Schulzimmer mit rollenteilenden Vätern oder erleben den Berufsalltag im Pflegeheim oder in einer Kindertagesstätte. Behandelte der Tochtertag zunächst das Thema offene Berufswahl, geht es heute immer mehr darum, Jugendlichen Lebensentwürfe aufzuzeigen, die ohne traditionelles Rollendenken auskommen.
Die Wirtschaft hat gemerkt, dass sie die Frauen braucht: Die Sorge um qualifizierte Arbeitskräfte für Branchen wie etwa Technik und IT wächst, und junge Frauen werden gezielt gesucht. «Wir möchten den Nachwuchs langfristig sichern», begründet zum Beispiel Hans Marfurt, Geschäftsführer der Trumpf Maschinen AG in Baar, die regelmässige Teilnahme seines Unternehmens am Nationalen Tochtertag.
David Aliosha, 22, Fachmann Gesundheit im zweiten Lehrjahr, Alters- und Pflegeheim Ergolz in Ormalingen BL: «Wir haben die soziale Ader wohl in der Familie. Ich habe zwei Schwestern, eine ist Physiotherapeutin, die andere Pflegefachfrau. Sie waren es auch, die mich zum Schnuppern in ein Behindertenheim mitnahmen. Dort merkte ich gleich, dass mir das gefällt. In meinem Alters- und Pflegeheim sind wir nur zwei Männer unter rund 50 Pflegefachleuten. Meine Kollegen machen manchmal faule Sprüche, aber wenn ich ihnen erkläre, dass der Beruf viel mehr ist als nur Füdliputzen, haben sie doch Respekt. Mir gefällt der intensive Umgang mit Menschen, die Vielseitigkeit der Arbeit. Und nicht zuletzt lernt man hier viele kompetente Frauen kennen.»
Ob Initiativen wie der Tochtertag oder die Technikschnuppertage der Fachhochschulen etwas bewirken, wird sich erst zeigen. In den Berufswahlstatistiken wirken sie sich bisher nicht aus. «Die Sensibilisierung in Sachen Berufswahl muss viel früher beginnen. Uns war es ein grosses Anliegen, dass der Berufswahlprozess stärker im Lehrplan 21 verankert wird, der künftig für alle Deutschschweizer Kantone gelten soll», erzählt Christine Davatz-Höchner, Vizedirektorin des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV).
Der aktuelle Vorschlag trägt dem allerdings kaum Rechnung: Die Berufswahl ist als fächerübergreifender Bereich angelegt, der frühestens ab dem siebten Schuljahr beginnt. «Das ist viel zu spät», sagt Davatz-Höchner. Sie fordert einen professionellen Umgang mit der Berufswahl in Schulen – aber auch bessere Arbeitsbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. «Eine bessere Durchmischung von Frauen und Männern in allen Arbeitsbereichen ist wichtig. Ohne Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt lässt sich die Gleichstellung nicht erreichen.»
Zumindest in Sachen Lohndiskriminierung wird der Bund nun aktiv: Die durchschnittlich 20 Prozent, die Frauen weniger verdienen, sollen minimiert werden. Im Frühling haben die Dachverbände der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden, das Bundesamt für Justiz, das eidgenössische Gleichstellungsbüro und das Staatssekretariat für Wirtschaft einen «Lohngleichheitsdialog» aufgenommen. Die Idee ist, dass möglichst viele Unternehmen ihre Löhne freiwillig überprüfen und allfällige Diskriminierungen beseitigen sollen. Gemäss Projektleiter Martin Urech gehen bereits einige Unternehmen über die Bücher.
Ob eine Angleichung der Löhne und der Berufsfindung irgendwann auch dazu führt, dass sich Frauen und Männer Haus- und Familienarbeit gerechter teilen, darf bezweifelt werden. Immerhin hätten die Männer keine Ausreden mehr.
Die zehn häufigsten Lehrberufe der Frauen
erhaltene Fähigkeitszeugnisse, 2008 (total: 23'483 Fähigkeitszeugnisse)
Die zehn häufigsten Lehrberufe der Männer
erhaltene Fähigkeitszeugnisse, 2008 (total: 31'176 Fähigkeitszeugnisse)
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