Der Professor, der es auf die Studierten abgesehen hat
Mathelehrer sollen mehr verdienen als Deutschlehrer, Akademikerinnen mit tiefem Einkommen ihre Studienkosten zurückzahlen. Der oberste Bildungsforscher des Bundes fällt immer wieder mit provokanten Vorschlägen auf. Was treibt ihn an?
Veröffentlicht am 18. Mai 2023 - 16:20 Uhr
Es gibt zu wenig Mathematiklehrer? Dann müsse man ihnen eben mehr Lohn zahlen als ihren Kolleginnen und Kollegen, sagte Stefan Wolter, Professor an der Uni Bern, vor kurzem in der «Sonntagszeitung». «Wenn Mathe- und Physiklehrer fehlen, während es mehr als genug Deutschlehrer oder Geografielehrerinnen gibt, muss man sich doch fragen, wie man Mathematiker und Physikerinnen in die Schulzimmer bringt.»
Es ist ein typischer Wolter. Immer für eine Schlagzeile gut. Vom Glauben an den Markt beseelt. Nicht gerade ein Kandidat für den Beliebtheits-Award der Geisteswissenschaftler. «Den Namen Wolter gelesen und die virtuelle Zeitung gleich wieder zugeklappt …», war eine Antwort auf Twitter. Doch so einfach ist das nicht.
Der heimliche Bildungsminister
Wenn es in der Schweiz um Schule und Bildung geht, kommt niemand um den 57-jährigen Bildungsökonomen herum. Seit über 20 Jahren ist er Direktor der Koordinationsstelle für Bildungsforschung von Bund und Kantonen in Aarau. Mit seinem zwölfköpfigen Team verfasst er alle vier Jahre den Bildungsbericht Schweiz, der wichtigste, weil offizielle Befund, wie es um das Schweizer Bildungswesen steht.
Die «Aargauer Zeitung» nennt Wolter «den heimlichen Schweizer Bildungsminister». Kein anderer Bildungsexperte ist in Verwaltung und Politik so gut vernetzt, keiner so oft in den Medien wie der eloquente, stets wie aus dem Ei gepellte Anzug- und Krawattenträger. «Er erklärt, was an den Schulen gut läuft – und was nicht. Er empfängt Staatschefs, Minister, ja sogar Könige und erklärt ihnen die Berufsbildung.»
«Sozialpolitisch getarnter Bildungs-Neoliberalismus»
Stefan Wolter eckt aber auch immer wieder an. Etwa mit seinem Vorschlag für nachgelagerte Studiengebühren. «Ungerecht und kaum durchdacht», sei das, schrieben Forscherkollegen der Uni Bern in einer Replik im «Tages-Anzeiger». «Sozialpolitisch getarnter Bildungs-Neoliberalismus», nannte es das Online-Portal «Infosperber».
Vereinfacht gesagt sollen Akademiker ihre Studiengebühren über Steuern zurückzahlen. Wer später nicht genug verdient und damit nicht genügend Steuern zahlt, muss für die Studienkosten extra aufkommen. So würden sich Studierende besser überlegen, ob sie zuerst acht Jahre Psychologie studieren wollen, um sich später als Künstlerin zu versuchen oder als Barkeeper zu jobben, glaubt der Professor. «Eine Ärztin, die freiwillig nur Teilzeit arbeitet, lebt auf Kosten der Kassiererin, die mit ihren Steuern das Medizinstudium der Ärztin mitfinanziert hat», sagte er im «Tages-Anzeiger».
Hohepriester der Berufslehre
Auch Wolters ständiges Loblied auf die Berufsbildung bringt ihm zwar Applaus von Gewerbe und Industrie, Gymilehrer empfinden es aber oft als gegen die Matura gerichtet. Die Hausaufgaben an Gymnasien abschaffen, um die Jugendlichen weniger zu belasten? Für den Sohn einer KV-Absolventin und eines Mechanikers «ein Affront für alle Lehrlinge» («Tages-Anzeiger»). Die Berufsschülerinnen und Berufsschüler seien ohnehin schon stärker belastet als ihre Kolleginnen und Kollegen vom Gymi.
Unter den Hausaufgaben würden vor allem jene Schülerinnen leiden, die sowieso nicht ans Gymnasium gehörten. «Die Matur easy zu machen, hilft niemandem – wie wir im Bildungsbericht zeigen können, scheitern die schwächeren Maturandinnen und Maturanden dann einfach häufiger an den Hochschulen.» Harte Fakten, hart ausgesprochen – auch das ist typisch Wolter.
Für den Bildungsökonomen ist Bildung eine Investition. Zuerst kostet sie etwas; Zeit, Mühe, Geld. Später soll daraus eine Rendite abfallen; mehr Lohn, ein spannender Beruf, aber auch Innovationen und kluge Köpfe für Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Sicht auf Bildung ist seit den 1990er-Jahren der Kern der Schweizer Bildungspolitik. Dass Bund und Kantone mit Wolter einen früheren Banker und Chefökonomen des Bundes an die Spitze der Schweizer Bildungsforschung gesetzt haben, ist für viele Ausdruck davon. Sein Vorgänger war Soziologe gewesen.
Ein gebrochener Gesellschaftsvertrag?
Wolter lebt, was er sagt. Seine ganze Jugend lang habe er Historiker werden wollen, noch heute sei Geschichte sein liebstes Hobby, erzählt er im Gespräch. In der Studienberatung habe er aber erfahren, dass nur die allerwenigsten Geschichtsstudierenden in der Geschichtsforschung landen. «Über Jahre etwas studieren, das man dann nicht anwenden kann, das war nichts für mich.»
Geht es darum, wer Bildung bezahlt, spricht FDP-Mitglied Wolter von einem Gesellschaftsvertrag. Wenn die Allgemeinheit sie bezahlt, müsse sie etwas zurückbekommen von jenen, die von ihr profitieren. Und zwar auch in Form von Steuergeld. Die Teilzeitärztin oder der Barkeeper mit dem Psychologiestudium halten für Wolter deshalb den Gesellschaftsvertrag nicht ein. «Ich bin liberal, alle dürfen studieren und leben, wie sie wollen, es darf aber nicht auf Kosten anderer geschehen.»
Immer aus der Ökonomensicht
Ist der rechtsliberale Professor ein Kämpfer für die kleinen Leute? Nein, sagt der linke Gymilehrer und Hochschuldozent Philippe Wampfler. «Stefan Wolter macht Stimmung gegen Geisteswissenschaftlerinnen, weil sie seiner Meinung nach der Wirtschaft nicht viel bringen, und er will die Zahl der Maturanden tief halten, weil sie viel kosten.»
Anders urteilt Karl Weber, früher Professor für Weiterbildung an der Uni Bern. Wenn man den Bildungsökonomen auf den reinen Kosten-Nutzen-Maximierer reduziere, werde man ihm nicht gerecht. «Es ist Stefan Wolters Rolle als Verfasser des Bildungsberichts, das Augenmerk auf Werte wie Effizienz zu legen. Als Forscher habe ich ihn offener und unvoreingenommener als viele andere erlebt.»
Wie viel Bildungsbericht steckt in Wolter – und wie viel Wolter im Bildungsbericht? «Auch wenn Stefan Wolter und sein Team Forschungsergebnisse aus allen Fachgebieten zusammentragen, überwiegen die ökonomische Betrachtung und eine einseitige Positionierung zugunsten der Berufsbildung», sagt Regula Leemann, Professorin für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. Die frühe Einteilung der Kinder in verschiedene Leistungsniveaus etwa sorge empirisch belegt für Bildungsbarrieren und Ungleichheiten. «Das wird kaum problematisiert.» Ebenso wenig, dass sich Jugendliche bereits mit 14 Jahren für einen Beruf entscheiden müssen.
«Überall sonst das Normalste der Welt»
Das Staatssekretariat für Bildung winkt ab. Der Bildungsbericht orientiere sich an den Vorgaben von Bund und Kantonen und untersuche die Bildung in der Schweiz auf ihre Effizienz, ihre Effektivität und ihre Equity, also die Chancengerechtigkeit. «Zu fragen, ob Bildungsziele erreicht werden, oder den Bildungserfolg unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu messen, ist keineswegs etwas rein Wirtschaftswissenschaftliches.» Im Autorenteam des Bildungsberichts seien zudem auch Pädagoginnen, Soziologen und Politikwissenschaftlerinnen vertreten.
«In der Bildung bin ich als Ökonom einfach ein Exot», sagt Stefan Wolter selbst. «Überall sonst wäre etwa meine Idee für mehr Lohn für Mathelehrpersonen doch das Normalste der Welt.» Zum Vorwurf der Ökonomen-Brille verweist er auf seinen Nebenfach-Abschluss in Psychologie und auf die vielen Aufsätze, die er in nicht ökonomischen Zeitschriften für Soziologie, Erziehungs- oder Politikwissenschaften veröffentlicht hat. «Es wäre spannend zu erfahren, wie oft meine Kritikerinnen und Kritiker in Journalen ausserhalb ihres Fachgebiets publiziert haben.» Auch diese Spitze – ein typischer Wolter.
Vorschläge verpuffen
Bleibt die Frage, wie viel ein heimlicher Bildungsminister als Person in der Schweiz tatsächlich bewirken kann. Wolters Wort, das sagen alle, habe Gewicht in Bundesbern wie bei den Kantonen. Und der Bildungsbericht ist zweifellos der meistgelesene Bericht in der Schweizer Bildungspolitik.
Wolters schlagzeilenmachende Ideen hingegen haben einen schweren Stand. Zwar schlägt auch der Arbeitgeberverband in seinem neuesten Positionspapier nachgelagerte Studiengebühren vor, politisch scheint der Vorschlag aber chancenlos. In Luzern etwa wollte auf eine entsprechende FDP-Anfrage im Kantonsrat keine andere Partei etwas davon wissen. Auch seinen Exotenbonus für Mathematiklehrerinnen hat bisher niemand aufgenommen. Wolters Vorstösse mögen manche nerven, Angst haben vor ihnen muss aber niemand.
2 Kommentare
Die Missstände im Schweizer "Bildungs-Un-Wesen"!!!
Im Kleinstaat Schweiz = "Kantönligeist-Wirrwarr" auch im Bildungswesen"!!!
Wann wird endlich ganzheitlich und gesamtschweizerisch gehandelt???
WER ist fähig dazu???
Herr Wolter verweist auf seine vielen Aufsätze, die er in nicht-ökonomischen Zeitschriften veröffentlicht hat: „Es wäre spannend zu erfahren, wie oft meine Kritikerinnen und Kritiker in Journalen ausserhalb ihres Fachgebietes publiziert haben.“
Noch viel spannender wäre es zu erfahren, warum die Forderungen von Herrn Wolter - der keine einzige Ausbildung im Zusammenhang mit dem praktischen Unterrichtswesen absolviert hat (skbf-csre.ch, 10.3.2023) - in der Regel unübersehbar der Bürgerlichenpolitik entsprechen.
Dafür lässt sich Herrn Wolters Frage für praxiserfahrene Kritiker sehr leicht beantworten: Diese KritikerInnen publizieren nicht in fachfremden Journalen, weil sie a) nichts publizieren, wofür ihnen die fachlichen Kompetenzen fehlen und b) weil sie mit der Unterrichtspraxis vollauf ausgelastet sind keine Zeit für praxisfernes darüber Theoretisieren haben.