Alles Quatsch mit Sosse
Der Weg zu gesundem Essen ist gepflastert mit guten Ratschlägen. Nur: Die meisten dieser Volksweisheiten sind falsch oder nützen nichts.
aktualisiert am 21. Februar 2019 - 10:47 Uhr
Wer zu später Stunde ausgiebig tafelt, vielleicht sogar deftige Kost zu sich nimmt, der lebt ungesund und wird dick, so die gängige Meinung. Stimmt nicht: «Wenn dem so wäre», sagt Peter Ballmer, Chefarzt der Medizinischen Klinik des Kantonsspitals Winterthur, «wären die Völker des Mittelmeerraums
und viele andere ständig krank und viel zu dick.»
Das Verbot der Völlerei um Mitternacht ist nur ein Irrtum unter vielen, denen wir seit Jahren aufsitzen. Der Beobachter hat gängige Essweisheiten durch Ernährungsfachleute kommentieren lassen.
Mit fast gläubigem Eifer behaupten die Anhänger der Rohkost-Ernährung , dass diese gesünder sei. Unsinn, meint Nicolai Worm, Autor zahlreicher Bücher zum Thema Essen. In der Rohkost befänden sich mehr Allergene und Bakterien. Zudem würden viele Menschen nur Gekochtes vertragen.
Nicht ganz so eindeutig sieht das Peter Ballmer. Zwar gebe es keine harten Belege, dass Rohkost gesünder sei. Aber die sekundären Pflanzenstoffe, die darin enthalten seien, täten allemal gut. Dass Rohköstler vielleicht gesünder seien als andere, habe vermutlich weniger mit der Kost als mit ihrem sonst gesunden Lebensstil ohne Alkohol und Tabak zu tun.
Doch Rohköstler können sich auch schädigen: Eine wissenschaftliche Untersuchung zeigt, dass sie mehr Zahnschäden aufweisen, eine andere, dass sie teilweise massiv Untergewicht haben.
Wie gesund ist Salat?
Während Jahrhunderten wurde Kaffee mit dem Stigma der Sünde belegt ; in Kinderreimen wird vom Konsum abgeraten, weil er reizt, vielleicht zu ungehörigen Gedanken führt. Als diese Moral etwas weniger gefragt war, nahm sich die Wissenschaft des Kaffees an und hob den Warnfinger. Kaum eine Krankheit, so lautete einst der wissenschaftliche Konsens, die nicht durch übermässigen Kaffeekonsum verursacht wird.
Alles Quatsch. «Es gibt keine Studie, die zeigt, dass Kaffeetrinker weniger lang leben würden», sagt Peter Ballmer. Bei bis zu sieben Tassen pro Tag ist überhaupt kein Effekt feststellbar. Kaffee kann sogar eine positive Wirkung haben, ähnlich wie Aspirin , das auch prophylaktisch genommen wird. «Und bei älteren Menschen hat man festgestellt, dass sie dank Kaffee sogar besser einschlafen können», fügt Ballmer an.
Ebenfalls ins Reich der Fantasie gehört die Behauptung, dass Kaffee ein «Flüssigkeitsräuber» sei, man also jede Tasse Kaffee mit Flüssigkeit kompensieren müsse. Koffein ist allerdings ein starker Wirkstoff, der abhängig machen kann. Die Wochenend-Migräne lässt sich auch so erklären, dass Leute, die im Büro viel Kaffee trinken, übers Wochenende auf Entzug sind und deshalb Migräne entwickeln können.
Generationen von Kindern wurden in der Annahme gequält, dass Spinat besonders gesund, weil stark eisenhaltig sei. Der Schweizer Physiologe Gustav von Bunge mass im 19. Jahrhundert den Eisengehalt von getrocknetem Spinat. Als seine Zahlen von anderen Wissenschaftlern übernommen wurden, übertrug man sie auf frischen Spinat, was einen zehnmal höheren Eisengehalt ergab. Obwohl dies seit Jahrzehnten bekannt ist, hält sich dank Popeye der Glaube an den stark machenden Spinat bis heute.
Weil Milch Kalzium enthält und dieses für den Knochenaufbau wichtig ist, soll Milch vor Osteoporose schützen. Auch diese Theorie klingt zu einfach, um wahr zu sein. Tatsache ist, dass es keinen Zusammenhang gibt. Die Knochenbildung und die Ursache für Osteoporose sind viel komplexer, als dass man sie auf diese banale Ursache-Wirkung-These zurückführen könnte. Dennoch: Milch ist gesund .
Freuen dürfen sich die Eierliebhaber, die aus Rücksicht auf ihren Cholesterinspiegel bisher sparsam beim Verzehr von Eiern waren. Es gibt keine Belege dafür, dass deren Konsum den Cholesterinspiegel und damit das Herzinfarktrisiko erhöht. «Seit zehn Jahren weiss man das», sagt Buchautor Worm, «und dennoch behauptet sich diese These hartnäckig.»
Ob Sommer oder Winter, Kind oder Greis: Der Griff zur Wasserflasche ist für viele fast zu einem Automatismus geworden. Mindestens zwei bis drei Liter Flüssigkeit soll der Mensch täglich zu sich nehmen, machen uns seit Jahren vermeintliche Ernährungsfachleute weis, und die Getränkeindustrie trägt kräftig das Ihre dazu bei, den Absatz von Tranksame zu fördern.
Was als wissenschaftliche Erkenntnis verkündet wurde, ist indes purer Schwachsinn. «Es gibt keine wissenschaftliche Studie, die so etwas untermauern würde», sagt Nicolai Worm. Wieso hätte es denn sonst die Natur so eingerichtet, dass die Menschen Durst bekommen?
Dass Millionen von Menschen in Ländern, wo es bis zur nächsten Wassertränke keinen längeren Fussmarsch braucht, dennoch einen ständigen Flüssigkeitsvorrat mit sich herumschleppen, hat laut Worm auch mit dem Glauben zu tun, dass ein grösserer Wasserkonsum die Schönheit fördere und zu einer strafferen Haut verhelfe.
Eine Ausnahme gibt es indes: Ältere Menschen haben oft kein Durstgefühl mehr, was an heissen Sommertagen dazu führen kann, dass sie zu wenig trinken und eventuell dadurch sogar eine Niereninsuffizienz erleiden.
Vollkornbrot ist gesünder als Weissbrot : Auch das ist nicht haltbar. Im ganzen Mittelmeerraum, dessen Küche als die Basis einer gesunden Ernährung gilt, findet sich praktisch nur weisses Brot. «Ich esse mindestens zur Hälfte Weissbrot», sagt Ballmer und stellt noch einen weiteren Irrglauben richtig, mit dem vor allem früher Kinder vom Verzehr von frischem und deshalb besonders wohlschmeckendem Brot abgehalten wurden. «Dass man von warmem Brot Bauchweh bekommt, ist ebenfalls ein Märchen.»
Eine der harmloseren Fabeln, zu deren Opfern meist Kinder gehören: Wasser auf den Verzehr von Steinfrüchten zu trinken führt zu Bauchweh. «Ich habe das Hunderte von Malen gemacht», sagt Ballmer, «dabei aber nie Bauchschmerzen bekommen.»
Ein weiterer Irrtum: Fett ist ungesund, macht dick und ist schlecht fürs Herz. Doch es gibt keine Studien, die belegen, dass der Fettkonsum die Gefahr von Herzinfarkten erhöht.
Fett ist aber nicht gleich Fett. Jenes Fett, das so genannte einfach ungesättigte Fettsäuren und Alpha-Linolensäure enthält, wie es in Oliven- und Rapsöl vorkommt, aber auch Omega-3-Fettsäuren (so genannte Fischöle), die in Muskelfleisch und Fisch vorhanden sind, üben eine günstige Wirkung auf die Gefässe aus.
Im Fisch sind diese «guten» Fette ebenfalls reichlich vorhanden, doch gerät man da in ein ökologisches Dilemma: Wenn grössere Teile der Bevölkerung bis zu dreimal pro Woche - wie das wissenschaftlich empfohlen wird - Fisch essen wollten, wären die Meere schon längst leer gefischt.
Functional Food, also industriell gefertigte Lebensmittel, versetzt mit Vitaminen und anderen Zusätzen, ist dank fetten Margen zu einer bekömmlichen Einnahmequelle der Lebensmittelkonzerne geworden. Doch diese machen ihr dickes Geschäft mit etwas, was es gar nicht braucht. Mangel an Folsäure oder Vitamin D kann allenfalls ein Problem sein, wenn man wenig grünes Gemüse und wenig Fisch isst.
Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker aus Deutschland und Autor mehrerer Bücher, findet kein gutes Wort für Functional Food: «Es ist schlicht überflüssig, mehr will ich nicht sagen, damit ich nicht Schwierigkeiten mit den Herstellern bekomme.» Und Ballmer meint, dass zu viel Vitamin C, das gerade im Winter oft in übergrossen Mengen eingenommen wird, völlig unnötig und ohne Zusatznutzen ist. «Man hat genügend gute Produkte wie Kiwis, Zitrusfrüchte oder Kohlarten, um den Vitamin-C-Verbrauch zu decken.»
Gewarnt wurde jahrzehntelang vor übermässigem Salzkonsum. Auch hier gibt es keinen Zusammenhang zwischen hohem Blutdruck und übermässigem Salzen, wenngleich heutzutage etwa doppelt so viel Salz gestreut wird, wie der Körper benötigt.
Allerdings reagiert ein Teil der Bevölkerung salzsensitiv. Obwohl also nicht die Gesundheit geschädigt wird, salzt die Industrie ihre Fertigprodukte mehr als nötig; möglicherweise, um den Geschmack zu verstärken.
Gertenschlanke Menschen verheissen in der Werbung für Lightprodukte Gewichtsabnahme und ein besseres Lebensgefühl. Das Dumme beim Verzehr von Lightprodukten ist bloss, dass sich der Stoffwechsel nicht hinters Licht führen lässt. Wenn der Körper Fett braucht und es nicht erhält, holt er es sich anderswo.
Der kleine Hunger nach dem Genuss von Lightprodukten wird mit etwas Süssem zwischendurch gestillt - schliesslich hat man ja vorher ein paar Kalorien gespart. Doch was man spart, nimmt man nachher in umso grösserer Menge wieder zu sich. Udo Pollmer meint in seiner unverblümten Art, für die er bekannt ist: «Wenn Sie zunehmen wollen, dann müssen Sie Lightprodukte essen.»
So wenig wie mit Lightprodukten kann man mit Hungern abnehmen, auch wenn das schon Millionen mit grossen Enttäuschungen versucht haben. «Für mich ist das der wohl grösste Irrtum überhaupt», sagt Udo Pollmer. Aber Abmagerungsdiäten sind weit verbreitet, und sie sind vor allem ein Riesengeschäft. «Wenn man mit Sicherheit dicker werden will, dann soll man eine dieser unzähligen Diäten machen, die empfohlen werden», sagt Pollmer.
Vogelgrippe, BSE, Pestizid-Rückstände in Lebensmitteln, Aflatoxin in Nüssen, Nitrat im Trinkwasser: Die Liste von dräuenden Gefahren in Lebensmitteln scheint endlos, Krankheitserreger und mikroskopisch kleine Gesundheitsfeinde, die uns das Essen vermiesen, lauern überall.
Doch wir ängstigen uns völlig grundlos. Wenn wir glauben, Krankmacher machten sich überall und jederzeit in unserer Nahrung breit, ist das primär dem Fortschritt der wissenschaftlichen Analysemethoden zu verdanken. Modernste Verfahren spüren noch so kleine Rückstände auf, die es früher oft in viel grösserer Konzentration gab. Die Angst ist unbegründet und vermiest höchstens die Freude am Essen. «Noch nie waren die Qualität und die Sicherheit der Lebensmittel so gross wie heute», sagt Peter Ballmer. «Ich möchte gar nicht wissen, wie viel verschimmeltes Zeugs man früher gegessen hat. Im Vergleich zu früher sind etwa Schwermetalle und Mikroben vernachlässigbar.»
Oftmals am schädlichsten sind gut gemeinte Ernährungstipps , die sich häufig schon wenige Jahre später in ihr Gegenteil verkehren. «Erstaunlich ist ja», meint Udo Pollmer, «dass es den Menschen meist nicht geschadet hat, auch wenn sie auf diese falschen Tipps hörten.»
Beim Essen solle man weniger ängstlich sein und das essen, worauf man Lust habe und was einem bekomme. «Wenn man normalgewichtig ist, kann man sich kreuz und quer und nach Lust und Laune durch die Mittelmeerküche essen», meint Ballmer. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, sich auch Zeit dafür zu nehmen.
Die beste Diät heisst Mittelmeerküche
Die Ernährung in den Ländern rund ums Mittelmeer weist viele gemeinsame Elemente auf: Olivenöl; viel Obst; viel Gemüse; Knoblauch; Zwiebeln; Fisch und Meeresfrüchte; Kräuter wie Thymian, Rosmarin, Oregano und Basilikum; Brot, Pasta und Reis; massvoller Rotweingenuss. Die Mittelmeerküche gilt als besonders gesund; sie enthält Stoffe, die das Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten mindern, wie einfach ungesättigte Fettsäuren, Alpha-Linolensäure und Omega-3-Fettsäuren. Wer sich auf der Basis der Mittelmeerküche ernährt, kann alles essen, was ihm Spass macht - sofern dabei die Bewegung nicht vergessen geht.
1 Kommentar
«Vollkornbrot ist gesünder als Weissbrot» Diese Ernährungsweisheit wird hier als "nicht haltbar" dargestellt. Als Begründung wird die Küche des Mittelmeerraums und der darin enthaltene hohe Anteil von weissem Brot angeführt. Ist Peter Ballmer bewusst, wie stark die Bevölkerung des Mittelmeerraums unter den ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten leidet? Weissem Brot, welches zu fast 100% aus industriell stark verarbeitetem Mehl hergestellt wird, fehlen die Vitalstoffe, die für die rückstandslose Verdauung/Verstoffwechselung im Körper unerlässlich sind.