Melchior Ehrler: Am Herd ist er nicht Direktor
Melchior Ehrler ist selten in seiner Küche anzutreffen – auch nicht nach seinem Rücktritt als Schweizer Bauernverbandsdirektor. Wenn er aber mal zu Hause ist, lässt er sich ganz von den Kochkünsten seiner Frau verwöhnen.
Veröffentlicht am 1. Oktober 2002 - 00:00 Uhr
25 Jahre beim Schweizerischen Bauernverband, davon 14 als
Direktor: Nein, so schnell räumt Melchior Ehrler seinen
Sessel nicht. Auch in der heimischen Küche in Riniken
AG weicht er kaum von seinem Platz. Warum auch? Vom Kopfende
des Tisches hat er den ganzen Raum unter Kontrolle und sieht
sofort, wer zur Tür hereinkommt. Und beim Kochen oder
Abräumen zu helfen würde nicht viel bringen: Man
müsste dem Mann alles erklären.
Ehrlers Küche hat dem Wohnzimmer den Rang abgelaufen.
Hier trifft man sich und kann essen und trinken, ohne gleich
wieder aufräumen zu müssen. Hier hats am grossen
Esstisch genügend Platz für die Familie und einigen
Besuch. Heute sind die Nachbarin, ihre Tochter und weitere
Kinder da.
Ob es oft vorkommt, dass Freunde vorbeikommen, will ich
von Melchior Ehrler wissen. «Man sagt es», schmunzelt
er, «aber ich bin meistens nicht dabei.» Als Ersatz
für den physisch nicht anwesenden Familienvater kleben
Post-it-Zettelchen mit seinem Konterfei auf der Ablage.
Die Rollen sind bei Ehrlers klar verteilt. In der Küche
ist Melchior ein Gast, der schätzt, was seine Frau Marianne
ihm auf den Tisch stellt. Er anerkennt ihre Kompetenz auf
diesem Fachgebiet und würde es nicht wagen, sich einzumischen.
Das Interesse für die Details der kulinarischen Welt
geht Ehrler weitgehend ab. Ausser wenn es um das Rohmaterial
geht, das die Bauern produzieren. Jahrelang hat er sich unermüdlich
für sie eingesetzt, ihnen klar gemacht, dass sie umdenken
und von jammernden Subventionsempfängern zu selbstbewussten
Unternehmern werden müssen.
In Ehrlers Haushalt kommen allerdings nur wenige Produkte
aus der einheimischen Landwirtschaft zur Verarbeitung. Politisch
unkorrekt eingekauft? Nein, Marianne Ehrler hat einen derart
grünen Daumen, dass im Garten Kartoffeln, Tomaten, Salate,
Aprikosen, Trauben und vieles mehr prächtig gedeihen.
Die Familie kann sich praktisch selber versorgen. Sogar Schafe
hatten Ehrlers bis vor ein paar Jahren. Und einen Esel, von
dem im Garten immer noch der Trampelpfad sichtbar ist.
Vorliebe für Wahrschaftes
In Melchior Ehrlers Elternhaus war die Ernährung nur
Mittel zum Zweck. Auf dem gepachteten Bauernbetrieb gabs viel
zu tun, und man musste futtern, um bei Kräften zu bleiben.
«Iss gschwind und gang wider», hiess es. Auf keinen
Fall lange herumhocken und die Zeit totschlagen. Vor allem
aber musste der Teller leer gegessen sein, denn das war die
Voraussetzung für schönes Wetter.
Melchiors Lieblingsmenü gabs immer, wenn man von einem
Spaziergang auf der Ibergeregg Selbergepflücktes nach
Hause brachte: Spaghetti an einer Heidelbeersauce. Noch heute
zählt er währschafte Menüs wie Älplermagronen,
Hafechabis oder Kartoffelstock («Gummelstunggis»)
zu seinen Leibspeisen.
Die Gewohnheit, dem Herrgott die Zeit nicht zu stehlen,
ist Ehrler bis heute geblieben, steht er doch oft um vier
Uhr morgens auf, um ungestört arbeiten zu können.
Da paaren sich Pflichtbewusstsein und ökonomisches Denken:
«Was ich frühmorgens erledige, kann mir keiner
mehr nehmen.»
Selbstkocher war Ehrler nur gerade während seiner
Studentenzeit. Im belgischen Leuwen, als er sich Kant, Wittgenstein
und anderen Philosophen widmete, war der Tauchsieder das wichtigste
Küchengerät. Und es kam sogar vor, dass er sich
Spaghetti oder eine Suppe zubereitete. Das reichte, um satt
zu werden und nicht allzu sehr vom Denken abzulenken.
Nicht mehr Herr über den Grill
Später, wenn ihn seine Frau mal allein zu Hause gelassen
hatte, versuchte er seinen Kindern Eindruck zu machen, indem
er eine Omelette in der Luft wendete. Kochen als spielerische
Nebenbeschäftigung. Heute machen ihm seine Söhne
sogar am Gartengrill, der ja in vielen Haushalten den Familienvätern
vorbehalten ist, etwas vor. «Die haben in der Kochschule
schon so viel gelernt, da habe ich keine Chance aufzuholen.»
Melchior Ehrler gibt definitiv in ganz anderen Bereichen
den Ton an. Zum Beispiel im Umgang mit Konflikten. Da konnte
er die Erkenntnisse aus dem Studium im politischen Alltag
umsetzen. «Ich habe gelernt, dass es die absolute Wahrheit
nicht gibt. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um zuhören
zu können.» Diese Qualität wird auch in seinem
zukünftigen Job gefragt sein, wenn es darum geht, Regionen
in Entwicklung und Tourismusfragen zu beraten.
Ich schaffe es, Melchior Ehrler dazu zu überreden,
uns ein Dessert zu machen. Es braucht mehrere Anläufe
– aber dann steht er auf und folgt Schritt für Schritt
den Instruktionen seiner Frau. Eine Schürze lässt
er sich allerdings nicht umbinden. Lieber widmet er sich einem
technischen Detail: dem Deckel der neuen Küchenmaschine.
Stolz verkündet er nach wenigen Minuten, er habe herausgefunden,
wie man ihn schliesse. Die gefrorenen Erdbeeren, den Puderzucker
und den Rahm mittels Knopfdruck zu mixen fordert sicher nicht
das Letzte vom ehemaligen Bauernverbandsdirektor. Aber das
Dessert schmeckt hervorragend. Warum kompliziert, wenns auch
einfach geht?
Wechsel in der Küche
Auf den Küchenseiten des Beobachters ändert das
«Menü»: Ab sofort schreibt hier exklusiv
Röbi Koller. Der Ex-Fernsehmoderator begegnet
jeweils einer Persönlichkeit aus Politik, Wirtschaft,
Kultur, Medien oder Sport in der Küche und guckt dabei
in deren Töpfe. Ganz nach dem Motto: «Sag mir,
wie du isst, und ich sage dir, wer du bist.»