Eine Ungeheuerlichkeit, ins Grab des eigenen Kindes zu schauen. Denn eigentlich sollte es umgekehrt sein. Vielleicht ist der Tod des Kindes für die Eltern deshalb so schwer zu begreifen. Weil die natürliche Ordnung auf den Kopf gestellt wird. Judith und Heinz Frutiger, Christine und Alfred Löhrer, Silvia und Karl Weber – sie alle sind Eltern, die ein Kind verloren haben, durch Krankheit, Drogen und Unfall.

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Quelle: Vera Hartmann

Judith und Heinz Frutiger, 58 und 63: Ihre Tochter Karin starb im Februar 2003 an Krebs. Sie war 19. Frutigers haben noch eine zweite, ältere Tochter.

Quelle: Vera Hartmann

Christine und Alfred Löhrer, 64 und 66: Matthias, ihr Sohn, starb mit 26 Jahren im Dezember 1997 an einer Überdosis Heroin. Löhrers haben noch drei weitere Kinder.

Quelle: Vera Hartmann

Silvia und Karl Weber, 63 und 67: Tochter Andrea war 17, als sie am Weihnachtstag vor zwölf Jahren beim Reiten verunfallte. Sie war nicht sofort tot, sondern lag noch einen Tag im Koma. Am 26. Dezember, nachdem der Hirntod festgestellt wurde, schalteten die Ärzte die lebenserhaltenden Geräte ab. Andrea war ein Einzelkind.

Es gibt diese Redewendung: Wenn ein Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Wie schaffen es die betroffenen Eltern, trotzdem weiterzuleben? Ja, weiterleben zu wollen? Frutigers, Löhrers und Webers erzählen ihre Geschichte.

Den Schilderungen der Eltern sind Kommentare der Expertin Freya von Stülpnagel an die Seite gestellt. Als ihr Sohn sich 1998 das Leben nahm, liess sich die ehemalige Anwältin zur Trauerbegleiterin ausbilden. Seitdem betreut sie im Verein «Verwaiste Eltern München» trauernde Eltern.

Kapitel I: Die erste Zeit danach

Judith und Heinz Frutiger: Nach Karins Krebstod kapselten sie sich voneinander ab. Er stürzte sich in die Arbeit, konnte nur noch an Karin denken, die nie mehr zurückkehren würde. Als seine Mutter drei Monate nach Karins Tod starb, bekam er das gar nicht richtig mit. Judith Frutiger sass häufig mit Sarah, der zweiten Tochter, zusammen. Stundenlang sprachen sie über Karin. Er konnte nicht reden. Stattdessen sass er vor dem Fernseher und fühlte sich ausgeschlossen von der Zweisamkeit zwischen Mutter und Tochter.

«Nirgendwo sonst ist man so allein wie in der Trauer. Jeder hat seine eigene Überlebensstrategie.»

Freya von Stülpnagel, Trauerbegleiterin

Christine und Alfred Löhrer: Matthias starb an einer Überdosis Heroin. Seit anderthalb Jahren war er clean, nur ein einziges Mal gab er der Versuchung nach. Diesmal tötete ihn die Droge. Christine Löhrer sah ihn, den leblosen Körper, am Tisch sitzen, das Drogenbesteck neben sich. Sie lief zu ihm hin, umarmte ihn und schrie: Matthias, was hast du gemacht? Warum? «Ich war vollkommen fassungslos.» Mit letzter Kraft, «wie in Trance», setzte Alfred Löhrer die Todesanzeige auf. «Die Sehnsucht nach unserem toten Sohn liess uns anfangs am Lebenssinn zweifeln. Ich wäre ihm am liebsten gefolgt. Irgendwann hörte ich zu essen auf, wurde anorektisch», sagt Christine Löhrer. Zehn Monate nachdem sie Matthias gefunden hatte, entschied sie sich für eine psychotherapeutische Betreuung in einer spezialisierten Institution. «Das war meine Rettung.» Auch Alfred Löhrer liess sich in diese Therapie miteinbeziehen.

Silvia und Karl Weber: Im ersten Jahr nach Andreas Reitunfall funktionierten sie wie Roboter. «Es geht nur ums Überleben, man ist nah am Durchdrehen», sagt Heinz Frutiger. Das Roboterhafte spüre er manchmal noch. Eine komische Steifheit im Körper.

Freya von Stülpnagel: Eltern, die ihr Kind verloren haben, sind anfangs wie gelähmt. Für Ehepaare ist es schwer, gemeinsam den Weg durch die Trauer zu gehen. Nirgendwo sonst ist man so allein wie in der Trauer. Jeder hat seine eigene Überlebensstrategie. In diesem Zustand von Einsamkeit und Schock müssen die Eltern alle erforderlichen Formalitäten rund um die Bestattung regeln und – wenn es weitere Kinder gibt – das Familienleben aufrechterhalten.

Gleichzeitig ist es wichtig, dass sie bereits in den ersten Tagen gut betreut werden, um in einen heilsamen Trauerprozess zu kommen. Eine neuere dänische Studie belegt, dass besonders Mütter, aber auch Väter in der ersten Zeit nach dem Tod eines Kindes deutlich höhere Suizidraten aufweisen als Eltern, deren Kinder noch am Leben sind.

Ohne Hilfe von aussen ist all das für die Trauernden kaum zu schaffen. Viele sind aber zu schwach, um aktiv um Unterstützung zu bitten. Hier braucht es Menschen – Freunde, den Pfarrer, den Arzt, egal wen –, die den Hinterbliebenen zur Seite stehen.

Kapitel II: Das Umfeld

Judith und Heinz Frutiger: Karin hatte viele Freunde, die sie während ihres Krebsleidens begleitet haben. «Inzwischen wurden ihre Freunde auch unsere», sagt Judith Frutiger. Sie kommen zu Besuch, und gemeinsam erinnert man sich der schönen Momente. Am Todestag schicken die jungen Leute Karten, oder sie legen Blumen aufs Grab.

Christine und Alfred Löhrer: Lange nach Matthias’ Drogentod gestehen sehr gute Freunde von Löhrers, dass sie die ganze Zeit Angst gehabt hätten vor einem Treffen. «Sie wussten einfach nicht, wie sie das Thema anschneiden sollten», sagt Alfred Löhrer.

Silvia und Karl Weber: «Gute Freunde und Bekannte wechselten plötzlich die Strassenseite, wenn sie uns sahen. Sie wollten nichts wissen vom Reitunfall und vom Tod unserer Tochter Andrea. Zeitweise fühlten wir uns, als hätten wir etwas Ansteckendes», sagt Silvia Weber. Die Leute hatten Angst, als könnte das tragische Schicksal der Familie Weber ihr eigenes Glück zerstören. Und dann die schrecklichen Ratschläge: «Tut euch doch einen kleinen Hund zu.» Oder: «Versucht loszulassen.» «‹Loslassen› ist ein schlimmes Wort für Eltern, die ein Kind verloren haben, gleichbedeutend mit ‹vergessen›», sagt Karl Weber. Es gab aber auch Freunde, die sie stumm umarmten. Ohne Fragen zu stellen. Das tat gut. Freunde, die sie mitschleppten auf einen Ausflug, in ein Restaurant, raus aus der Verzweiflung.

Etwa ein Jahr nach dem Unfall traten Webers der Zürcher Sektion des Vereins «Regenbogen» bei, einer Selbsthilfegruppe von Eltern, die um ein Kind trauern. Inzwischen leiten Silvia und Karl Weber die Gruppe. Hier trafen sie auf Menschen, die auch ein Kind verloren hatten und sogar wieder lachen konnten. Das half. «Nach einem Jahr kann man im persönlichen Umfeld nicht mehr ständig über das tote Kind sprechen. In der Gruppe geht das immer», sagt er. Viele Mitglieder der Gruppe sind inzwischen gute Freunde geworden.

Freya von Stülpnagel: Trauernde Eltern sind häufig enttäuscht von ihrer Familie, vom Umfeld. Bei der Beerdigung sind alle da, aber ein Jahr danach, wer denkt da noch an sie? Viele Freunde und Angehörige wollen helfen, wissen aber nicht, wie. Viele haben auch Angst, dass ihre heile Welt erschüttert wird, und meiden den Kontakt zu den Hinterbliebenen. Sie halten die Gefühle der trauernden Eltern nicht aus.

Das Schlimmste, was Angehörige und Freunde tun können, ist, das tote Kind nicht mehr zu erwähnen. Oder nur noch von ihren eigenen Kindern oder Enkeln zu sprechen. Die beste Hilfe ist oft die ganz praktische. Mir half etwa, dass Freunde mir Essen vor die Tür stellten. Ich selbst hatte ja gar nicht mehr die Kraft zum Kochen.

Es ist wichtig, den Schmerz der betroffenen Eltern zu würdigen. Indem man etwa am Todestag eine Karte schreibt, auch noch am zehnten Todestag. Die Menschen meinen, nach dem ersten Trauerjahr müsste der Trauernde langsam wieder normal werden. Oft ist das zweite oder dritte Jahr aber viel schwieriger, weil erst dann die Endgültigkeit, das Nie-Wieder den Verstand und das Herz der Hinterbliebenen erreichen.

Kapitel III: Die anderen Kinder

Judith und Heinz Frutiger: Als der Krebs ihnen Karin weggenommen hatte, klammerten sie sich an Sarah, ihre zweite Tochter, die damals 22 war. Sarah wurde es zu eng. Sie ging ins Ausland. «Das war schlimm, wie wenn uns nun auch noch das zweite Kind wegstirbt», sagt Judith Frutiger. Aber es war auch eine Chance, weil die Eltern plötzlich nur noch zu zweit waren. «Als Sarah weg war, fanden wir allmählich wieder zueinander», sagt Heinz Frutiger. Auch sie sind, wie Silvia und Karl Weber, inzwischen Mitglieder einer Selbsthilfegruppe.

«Der Tod des Kindes zwingt uns, alles zu hinterfragen. Will ich das noch? Brauche ich das noch?»

Freya von Stülpnagel, Trauerbegleiterin

Christine und Alfred Löhrer: Löhrers haben noch drei weitere erwachsene Kinder. Nach Matthias Drogentod versuchen sich Eltern und Kinder gegenseitig zu trösten. «Trotzdem lebten wir anfangs jeder für sich in einer verzweifelten Ohnmacht», sagt Christine Löhrer. «Neben der Trauer und dem Schmerz verspürten wir aber auch eine unermessliche Dankbarkeit, dass Matthias Geschwister noch leben und es ihnen gutgeht.» Das Bewusstsein für den gegenseitigen sorgsamen, offenen und toleranten Umgang sei grösser geworden.

Silvia und Karl Weber: Andrea war ein Einzelkind. Irgendwie seien sie nach ihrem Reitunfall froh gewesen, keine weiteren Kinder zu haben. «Ich hätte dieses Kind viel zu sehr behütet, vor Sorge und Angst wäre ich gestorben», sagt Silvia Weber.

Freya von Stülpnagel: Die Geschwister der verstorbenen Kinder haben nicht nur den Bruder oder die Schwester verloren, sondern auch die Eltern, insofern sie nicht mehr die sind, die sie vor dem Todesfall waren. Plötzlich sind sie zutiefst verunsichert und hilflos. Gerade für Kinder, die noch nicht erwachsen sind, ist das eine beängstigende Situation. Wer gibt ihnen jetzt Halt?

Statt ihre eigene Trauer zuzulassen, sorgen sich die Kinder um den Zusammenhalt der Familie. Ich erlebe oft, dass Eltern in der ersten Zeit nach dem Todesfall nur das verstorbene Kind im Blick haben, es manchmal gar stark idealisieren. Dann ist es wichtig, dass die Geschwister eine andere Bezugsperson haben, die ihnen erklärt, warum sich die Eltern im Moment so verhalten. Und dass sie manchmal nicht anders können.

Kapitel IV: Die Verwandlung

Judith und Heinz Frutiger: «Nachdem Karin an Krebs gestorben war, begannen wir, viel zusammen zu unternehmen. Wir gehen wandern oder schwimmen, machen Wellnessferien oder kurze Städtetrips. Früher, vor Karins Tod, nahmen wir uns nie die Zeit für solche Sachen. Wir haben uns fest vorgenommen, den Rest des Lebens zu geniessen. Es kann so schnell vorbei sein.»

Christine und Alfred Löhrer: Manchmal verstehen sie die Leute um sich herum nicht mehr, weil die sich über Sachen ärgern, die in ihren Augen nur Lappalien sind. «Matthias Tod hat uns Demut gelehrt», sagt Alfred Löhrer. «Materielle Werte sind uns unwichtig.»

Silvia und Karl Weber: «Nach dem Reitunfall und dem Tod von Andrea gab es für mich zwei Möglichkeiten: Liegenbleiben oder aufstehen und weiterleben», sagt Karl Weber. Jeder von uns trägt eine Uhr in sich, sind Webers überzeugt. Der Moment, in dem sie zu ticken aufhört, ist vorbestimmt. Andreas Zeit war eben nach 17 Jahren abgelaufen – so versuchen sie, mit dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit fertigzuwerden. Inzwischen können sie akzeptieren, aber das hat Jahre gebraucht. Plötzlich kehrte sogar ihre Lebensfreude zurück, sie fühlten sich nicht mehr jeden Morgen wie im Würgegriff. «Es gibt Tage, an denen ich nicht an meine Tochter denke», sagt Karl Weber. Doch die Rückschläge kommen immer. «Das ist dann das Ego, das nicht versöhnlich sein will», sagt Silvia Weber. «Der Tod des Kindes bedeutet so viel Verzicht. Andrea wäre jetzt 29, vielleicht verheiratet, Mutter. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Grossmutter zu sein. Das meine ich mit Ego.»

Silvia und Karl Weber sind zufrieden. Aber das Glücksgefühl sei für immer weg. Den Verlust sehen die Eltern heute nicht mehr nur negativ. Andreas Tod war auch eine Lebensschule. «Wir haben gelernt, in der Gegenwart zu leben», sagt Karl Weber.

Freya von Stülpnagel: Der Tod des Kindes zwingt uns, alles zu hinterfragen. Er schärft das Urteilsvermögen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Nach dem Suizid meines Sohnes verlor ich mein altes Leben. Ich musste mich neu verankern. Mein Anwaltsberuf machte plötzlich keinen Sinn mehr, ich liess mich zur Trauerbegleiterin ausbilden. Gleichzeitig standen alte Beziehungen auf dem Prüfstand.

Die Trauer zwingt uns in die Knie, lässt uns in den Abgrund stürzen. Aber wenn wir den Mut haben, uns fallen zu lassen, stellen wir am Ende fest, dass uns das Herz fast zerrissen, aber nicht vollständig zerstört wurde. Diese Erfahrung setzt neue Kräfte frei. Die Trauerarbeit hört nie auf, wir werden den Verlust nie bewältigen können. Aber wir können ihn verwandeln und in unser Leben integrieren.

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