Das Rätsel der Liebe
Forscher ergründen das Geheimnis des Begehrens und Sich-Verliebens – und finden erstaunliche Erklärungen. Doch die «Liebesformel» wurde noch nicht entdeckt.
aktualisiert am 22. März 2018 - 14:48 Uhr
Die Röcke werden kürzer, T-Shirts knapper – die Menschen zeigen mehr Haut. Mit dem Frühling haben die Hormone Hochsaison, die Erotik erwacht aus ihrem Winterschlaf.
Glauben wir Klischees wie diesem, dann sind wir Menschen im Wonnemonat Mai lauter triebgesteuerte Lustwesen. Durchströmt von Sexualhormonen und gelenkt von Duftstoffen, suchen wir jede sich bietende Gelegenheit, um uns rasch zu paaren. Mediziner und Biologen, die sich mit Liebe und Partnerschaft beschäftigen, verbannen den vielbeschworenen Hormonrausch im Lenz allerdings ins Reich der Legenden: Im Frühling gibt es beim Menschen keine Veränderung des Hormonspiegel im Vergleich zum restlichen Jahr.
Die Vorstellung von Männern und Frauen, die im Frühling von Sexualhormonen überwältigt werden, ist ein Mythos. Wäre der Frühling die wichtigste Balzzeit, dann müssten die meisten Menschen im Dezember und Januar auf die Welt kommen, auch wenn Sexualität schon lange nicht mehr nur im Dienste der Kinderzeugung steht. Die Geburtenzahl ist aber erstaunlich gleichmässig übers Jahr verteilt, mit einem leichten, aber konstanten Anstieg in den Sommermonaten Juli und August. Am meisten Kinder werden also im Herbst gezeugt, wenn die Tage kürzer werden.
Verschiedene Areale des Gehirns sind beim Gefühl von Liebe, Lust und Verliebtheit beteiligt. Der Botenstoff Dopamin spielt eine massgebende Rolle: Ausgeschüttet vom Hypothalamus, aktiviert er das Lustzentrum, den Nucleus accumbens. Der präfrontale und der orbitofrontale Cortex sind für bewusste und unbewusste Gefühle wichtig. Der cinguläre Cortex wird aktiviert, ebenso die VTA im Mittelhirn. Angstgefühle, die die Amygdala auslöst, werden inaktiviert.
Verliebt im Tomographen
Sehen Verliebte Bilder ihrer Partner, werden eng begrenzte Areale im Hirn aktiv (gelb-orange) oder inaktiv (blau). In der Seitenansicht sieht man den cingulären Cortex, der bei Emotionen wichtig ist, sowie einen Kleinhirnbereich. Erotische Anziehung lenken Nucleus caudatus und das Putamen – im Frontalschnitt sind sie erkennbar. Im Horizontalschnitt erscheint die sogenannte Insel, sie ist wichtig für Reizempfindung. Inaktiviert sind Grosshirnareale, wo rationales Denken stattfindet.
Quelle: Zeki, Bartels («Febs Letters» 581/2007); Tomographiebilder: Andreas Bartels; 3D-MODELL: Russi & Morelli; infografik: beobachter/dr
Das alles klingt erst mal ziemlich unromantisch. Man kann sich aber damit trösten, dass die wärmende Sonne im Mai trotzdem Wirkungen hat. Das zusätzliche Licht, die blühenden Pflanzen und die balzenden Tiere wirken auch auf uns Menschen angenehm und dürften Ursache der verklärten Frühlingsgefühle sein, denn wichtiger als hormonelle Einflüsse im Mai sind das intensive Erleben der Natur und die Erinnerungen und Erfahrungen, die wir damit verbinden.
Die gesteigerte Wahrnehmung nach den kalten Monaten, die Möglichkeit, sich endlich wieder draussen in der Natur zu bewegen, stimulieren die Sehnsucht nach Lust und Sex – die leichter gekleideten Männer und Frauen tun ihr Übriges. So kommt es, dass wir im Frühling offener als zu anderen Jahreszeiten sind.
Auch wenn die Liebe eine Herzensangelegenheit bleibt, so ist das dafür zuständige Organ das Gehirn. Neurobiologen, Psychologen und Mediziner haben in den letzten Jahren versucht, das Thema Lust und Liebe zu enträtseln. Mit wenig Erfolg: Die meisten Forscher geben unumwunden zu, dass ihre Erkenntnisse über das mächtige und komplizierte Gefühl bescheiden sind.
«Die neurobiologische Wissenschaft der Liebe steckt noch in den Anfängen», bilanziert etwa Semir Zeki, der in London das «Laboratory of Neurobiology» leitet.
Er veröffentlichte mit dem Hirnforscher Andreas Bartels wegweisende Studien zur Neurobiologie der Liebe. Sie basieren auf Aufnahmen mittels funktioneller Magnetresonanztomographie, mit der sich sozusagen ins Gehirn blicken lässt. Hinzu kommen Studien zur Hirnchemie, in denen die Vermittler von Aktivitäten zwischen den Hirnzellen, die Hirnbotenstoffe, untersucht werden. Zwar ist dabei vieles ans Tageslicht getreten, das meiste bleibt aber verborgen.
Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Begrifflichkeit. Wenn wir von Lust und Liebe sprechen, verbindet damit jeder eigene Vorstellungen. Dazu kommt, dass das Gefühl für einen geliebten Menschen, sexuelle Lust, Verliebtheit oder Mutterliebe nicht dasselbe sind. Die verschiedenen Arten von Liebe sind mit unterschiedlichen, teils überlappenden Hirnaktivitäten verbunden. Diese sind aber neurobiologisch schwer voneinander zu trennen.
Wer sich in einen Menschen verliebt, wählt die Person zunächst vor allem aufgrund äusserlicher Merkmale aus. Was wir als anregend empfinden, ist sehr persönlich und hat mit unserer Herkunft und Geschichte, mit Kindheit und Eltern sowie unseren Schönheitsidealen zu tun. Zwar gibt es reihenweise Studien, die nach allgemeingültigen Kriterien für Attraktivität bei Mann und Frau suchen. Das Ergebnis ist jeweils, dass Frauen auf eher gutgebaute Typen mit kantigen Zügen, breiten Schultern und reiner Haut stehen, die sexuelle Potenz und gute Gene für die Nachkommen versprechen.
Demgegenüber ziehen Männer Frauen mit breiten Hüften, vollen Lippen und weichen Gesichtszügen vor. Für Frauen sind neben den körperlichen Attributen auch «soziale» Faktoren wie materielle Sicherheit wichtig – und beide Geschlechter wünschen sich intelligente Partner. Solche Aussagen sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen: Je nachdem, ob die Studie mit reichen nordamerikanischen Studentinnen, schottischen Bauern oder süditalienischen Jugendlichen durchgeführt wird, ändert sich der Idealtyp – ganz zu schweigen von Menschen anderer Kulturkreise. Interessant ist, dass Frauen im Allgemeinen Männer mit individuellen Gesichtszügen, also etwas Extravaganz, vorziehen. Demgegenüber finden Männer ein symmetrisches Durchschnittsgesicht bei Frauen am attraktivsten.
Erster Flirt
Ob wir einen Menschen sympathisch finden oder nicht, bestimmen weniger die biochemischen Prozesse, sondern unsere Wünsche und Erwartungen. Doch die Hormone beginnen schon bald zu fliessen. Oxytocin fördert Vertrauen und reduziert Stress, es bewirkt, dass wir die Nähe zu einem Menschen als angenehm empfinden.
Sicher ist: Stärker als summende Bienen und längere Sonnentage im Frühling fördern aufregende Situationen das Gefühl von emotionaler Nähe. Bei aufwühlenden Erlebnissen sind Menschen offenbar rascher bereit, sich zu verlieben. Diese Schlussfolgerung zogen die beiden US-Psychologen Donald Dutton und Arthur Aron 1974 aufgrund eines Versuchs, der als «Hängebrückenexperiment» bekannt wurde. Dabei schickten sie Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren über eine 140 Meter lange Hängebrücke, die in schwindelerregender Höhe die Capilano-Schlucht bei Vancouver überspannt. Auf ihrem Weg zur Mitte der schwankenden Brücke kamen die Testpersonen an einer attraktiven Frau vorbei, die sie bat, an einem «Experiment» teilzunehmen. Sie mussten ihre Personalien angeben und sollten eine Fotografie schriftlich beschreiben. Auf dem Rückweg gab ihnen die Interviewerin ihre Telefonnummer: Sie könnten mehr über den Ausgang des Versuchs erfahren, falls sie dies interessiere.
Dasselbe Experiment mit derselben Frau machten die Wissenschaftler auf einer nicht schwankenden, kurzen Holzbrücke, die unspektakulär und tiefer gelegen über einen Nebenfluss führte. Man ahnt das Ergebnis: Die aufregende Hängebrücke animierte die Hälfte der Teilnehmer zum Rückruf, die langweilige Brücke nur ein Achtel. Das emotionale Erlebnis erhöhte das sexuelle Interesse der Männer.
Seither durchgeführte Experimente mit Achterbahnen oder furchterregenden Filmen brachten ähnliche Ergebnisse. Man verliebt sich eher auf Anlässen, bei denen Emotionen im Spiel sind, etwa auf einer Nachtwanderung oder bei einem Erlebnis-Workshop. Und zwar das ganze Jahr hindurch. Schliesslich haben Menschen zu jeder Jahreszeit Lust auf Sex – und nicht nur im Frühling.
Der Sexual- und Vermehrungstrieb ist ein Erbe unserer tierischen Abstammung. Doch: Bei der Wahl des Partners geht es nicht in erster Linie instinktiv zur Sache, da sich der Sexualtrieb und die kulturelle Vorstellungen überlagern. Gehen Menschen ein erstes Mal aufeinander zu, spielen sowohl bewusst als auch unbewusst wahrgenommene Reize eine Rolle. Bemerkenswert ist, was ein Stoff namens Oxytocin mit uns anstellt. Das im Gehirn ausgeschüttete Hormon reduziert Stressreaktionen und schafft die Bereitschaft, Nähe zuzulassen. Dabei spielt eine Reduktion der Angstgefühle im sogenannten Mandelkern eine wichtige Rolle.
Ein wichtiger Weg zur Erkennung sexueller Signale im Gehirn verläuft über das limbische System, einen evolutionsgeschichtlich alten Teil unseres Gehirns zur Wahrnehmung von Emotionen. Äussere Sinnesreize können uns über diese Eintrittspforte in Stimmung versetzen und erregen, das Herz beginnt zu klopfen. Wichtig ist: Wir verlieben uns nicht, weil unser Gehirn mit speziellen Botenstoffen überflutet wird, sondern die Chemie der Lust ist eine Folge des Verliebens. Der Philosoph und Autor Richard David Precht schreibt dazu in seinem fulminanten Bestseller «Liebe – ein unordentliches Gefühl»: «Die Lust auf Sex wird durch unsere Psyche beim Anblick eines sexuell stimulierenden Menschen geweckt. Die Hirnbotenstoffe sind nur die Erfüllungsgehilfen.»
Siebter Himmel
Das Gefühl der Verliebtheit wird massgeblich vom Hirnbotenstoff Dopamin vermittelt. Es aktiviert mehrere Hirnbereiche wie den Nucleus accumbens. Die sogenannte Inselregion wird für das Gefühl der «Schmetterlinge im Bauch» verantwortlich gemacht. Das Angstzentrum in der Amygdala wird inaktiv.
Verlieben wir uns, entzündet sich im Gehirn ein Feuerwerk chemischer Stoffe, die uns in einen Zustand führen, den man zu Recht als «von Sinnen» beschreibt. Massgeblich verantwortlich ist der Hirnbotenstoff Dopamin, der vom Hypothalamus – einer kleinen, wenige Gramm leichten Region tief im Gehirn – ausgeschüttet wird. Nicht nur das stimmungsfördernde Dopamin wird dort abgegeben, auch andere lustfördernde und anregende Stoffe wie Phenylethylamin oder Adrenalin durchströmen von dort aus das Gehirn. Dopamin macht euphorisch und aktiviert das Belohnungszentrum, den Nucleus accumbens im Vorderhirn. Das Areal ist übrigens auch bei der Entstehung von Sucht involviert.
So verwundert es kaum, dass Verliebtheit und Sucht im Gehirn nahe beieinander liegen. Verliebtheit kann durchaus als eine suchterzeugende Droge aufgefasst werden. Dazu passt, dass körpereigene Rauschstoffe wie Endorphine aktiviert werden. Der rauschartige Zustand schaltet das rationale Denken im Vorderhirn (frontaler Cortex) aus. Beobachtet wird ein Abfallen des Serotonins, eines Botenstoffs, der auf Stimmung und Appetit wirkt. Semir Zeki vergleicht den Ausnahmezustand im Hirn gar mit einer Zwangsstörung; Verliebtheit wäre dann ihre positive Seite, Manie die negative.
Zeki und Bartels haben verliebte Menschen in einen Tomographen gesteckt und ihnen Bilder ihrer Liebespartner in die Hände gedrückt. Das Gerät macht die aktiven Hirnregionen sichtbar. Nebst dem Nucleus accumbens ist bei Verliebtheit der vordere cinguläre Cortex beteiligt, der bei der Erkennung von Emotionen und Aufmerksamkeit beteiligt ist; der Nucleus caudatus und das Putamen wiederum sollen für die erotische Anregung verantwortlich sein. Aktiv wird zudem ein kleiner Bereich, der mitten im Kleinhirn liegt. Gleichzeitig sind die aktivierten Hirnbereiche für das «Gemeinsamkeitsgefühl» zuständig, das liebende Menschen füreinander entwickeln.
Während beim Verlieben die Erregungszonen aktiv werden, sinkt die Aktivität in weiten Teilen des Grosshirns. Auch diejenigen Bereiche schalten sich aus, in denen sonst negative Emotionen lokalisiert werden. Diese Beobachtungen machen deutlich, dass verliebte Menschen allfällige negative Seiten ihrer Partner richtiggehend ausblenden. Verliebtheit macht eben blind, wie der Volksmund schon lange weiss. Der Verlust des Urteilsvermögens und das starke Glücksgefühl führen in einen Zustand, den die Umgebung gerne als Verrücktheit interpretiert. Die Forscher weisen aber auch darauf hin, dass die zugrundeliegenden Hirnbilder im Prinzip nichts anderes seien als Abbildungen aktiver Hirnareale und an sich nichts erklären.
Neurobiologen sprechen denn auch lieber von sogenannten «neuronalen Korrelaten», also von Zuordnungen bestimmter Gehirnareale zu Empfindungen oder Aktivitäten. Gerade für die mächtigen Gefühle wie die der Verliebtheit lassen sich auf diese Weise zwar Zonen erhöhter Aktivität lokalisieren. Beteiligt ist aber immer das ganze Gehirn.
Das gilt auch beim Orgasmus, wenn Paare auf dem Höhepunkt der körperlichen Vereinigung ein Maximum an Lust erleben. Wiederum ist Dopamin involviert, das das Lustzentrum im Nucleus accumbens anfeuert. Die Sexualhormone Testosteron und Östrogen sind wichtig für das Lustempfinden beim Sex. Das als männliches Hormon bekannte Testosteron kommt auch bei Frauen vor, wenn auch in kleineren Dosen. Mit im Spiel sind zudem das Oxytocin und das ebenfalls vom Hypothalamus ausgeschüttete Vasopressin, das sowohl Lust als auch Aggressionen fördert. Während die fürs Lustempfinden zuständigen Gehirnzonen hochaktiv sind, ist die Grosshirnrinde, wo rationales Denken stattfindet, lahmgelegt. Oxytocin wurde schon mal als Orgasmus- oder Liebeshormon bezeichnet, seine Funktion ist allerdings hochkomplex und vielschichtig.
Sicher ist, dass es beim Orgasmus bei beiden Geschlechtern in höheren Dosen ausgeschüttet wird. Es fördert das Lustgefühl und stimuliert wie Dopamin die Belohnungsareale, es ist aber auch bei anderen biologischen Schlüsselvorgängen involviert: Oxytocin löst Gebärmutterkontraktionen aus und findet sich in der Muttermilch.
Die euphorisierende Wirkung von Sex und die Verliebtheit schaukeln sich gegenseitig hoch und verursachen einen Ausnahmezustand, der mehrere Wochen bis Monate anhält. Mit der Zeit ebbt das berauschende Gefühl ab – zu unserem Leid und Wohl, denn die anhaltende Euphorie, die Verliebte empfinden, kann der Körper auf Dauer gar nicht aufrechterhalten, da er dazu – via Adrenalin – alle Energieressourcen freisetzen muss. Von Luft und Liebe lebt sich auf Dauer schlecht. Mit der Zeit dämpfen Biochemie und Verstand die Gefühle, langsam kommen Verliebte vom siebten Himmel zurück auf den Boden. Wie aber gelingt es, die Verliebtheit in eine gefühlsintensive Liebesbeziehung – eine anhaltende Bindung – umzumünzen? Wie kommt es zur partnerschaftlichen Liebe, einem Gefühl, weniger geprägt von sexueller Begierde als von inniger Gemeinsamkeit und idealer Schönheit?
Im Reich der Lust
Beim sexuellen Höhepunkt machen die Grosshirnrinde und das rationale Denken Pause, das Begehren nimmt überhand. Das Lustzentrum im Nucleus accumbens ist aktiv, Dopamin durchflutet das Gehirn. Die Hormone Oxytocin und Vasopressin werden augeschüttet. Die Sexualhormone Testosteron und Östrogen steigern die Empfindung noch.
Biologen sind der Meinung, dass die biologischen Wurzeln der Liebesbeziehung in der Bindung zwischen Mutter und Kind liegen. Beide Beziehungen dienen dem Zweck, die Art zu erhalten. Dazu führen sie die beiden Neurohormone Oxytocin und Vasopressin ins Feld, die bei der Mutter-Kind-Bindung wie auch bei Verliebtheit und sexueller Lust involviert sind. Die Stoffe fördern die Tendenz, den Partner an sich zu binden. Es ist aber schwer, naturwissenschaftlich einen klaren Zusammenhang von Lust- und Sexualempfindungen mit Partnerschaft und Liebe zu konstruieren.
So ist laut den Untersuchungen des britischen Neurobiologen Semir Zekis der Hypothalamus nur bei sexueller Lust und Verliebtheit aktiv, nicht aber bei Mutterliebe oder Partnerschaft. Das Gleiche gilt für die Inaktivierung des vorderen Grosshirns: Die Menschen sind fähig, ihre mentalen Vorstellungen von Liebe an Gefühle anzubinden, das heisst, die innige Verbundenheit für einen Menschen an die emotionalen Empfindungen im Stammhirn zu knüpfen. Wir lernen sozusagen, jemanden zu lieben. Getrieben vom Wunsch nach Sicherheit, die wir als Kleinkinder erlebten, kann der Mensch offenbar die biologischen Vorgänge der Mutterliebe in solche der Partnerschaftsliebe umfunktionieren und ausweiten. Eine schöne Umschreibung, die zeigt, dass auch die Neurobiologen vor der Liebe kapitulieren müssen und sie nicht erklären können.
Ebenso spekulativ sind Erklärungsversuche der Evolutionsbiologen. Aus ihrer Sicht machen Sexualtrieb und Lustempfindung Sinn, denn sie dienen dazu, Kinder zu zeugen und den Fortbestand des Menschen zu sichern.
Demgegenüber sind die lebenslange Bindung und das Gefühl von Liebe biologisch nicht zwingend, sondern eine Kulturleistung des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet. 95 Prozent der Säugetiere sind polygam und wechseln regelmässig die Paarungspartner. Wann und warum es aber zur menschlichen Liebesbindung kam, ist nach wie vor ungeklärt.
Auch gibt es die oft gehörte These: Die Paarbeziehung beim Menschen ist Folge der langen Aufzuchtzeit, einer Besonderheit bei menschlichen Babys. Kein anderes Säugetier investiert derart viel Zeit in die Nachkommen wie der Mensch – was eine Paarbeziehung der Eltern sinnvoll macht. So finden sich etwa auch bei den Primaten feste Paare – zum Beispiel dort, wo die Affen ihren Nachwuchs gemeinsam aufziehen. Der Ursprung dürfte in der Paarbeziehung beim Menschen in den Anfängen der Gattung Homo liegen – in grauer Vorzeit vor rund zwei Millionen Jahren also. Mit dem Wachstum des Gehirns und der Lernfähigkeit des Homo sapiens hat sich die Kindheit, in der die Menschen Schutz und Behütung brauchen, drastisch verlängert. Dies bereitete den Boden für die Entwicklung der partnerschaftlichen Liebe – diesem allumfassenden und prägenden Gefühl, das je nach Sicht eher als göttliche Erfahrung, utopisches Ideal oder gesellschaftliches Konstrukt betrachtet wird.
Letztlich scheint nur eines klar: «Die Liebe ist ein Rätsel», wie der amerikanische Psychologe John Gottman sagt, der sonst selten um eine Antwort verlegen ist. Dem Philosophen Richard David Precht ist nur zuzustimmen, wenn er in seinem Buch zur Liebe schreibt: «Je komplexer die Gefühle sind, desto weniger lassen sie sich mit Chemie erklären.»
Wahre Liebe
Das biochemische Feuerwerk von Verliebtheits- und Lustgefühlen ist abgeebbt – es steht nicht mehr im Zentrum. Liebe ist ein tiefes Gefühl, das wir für einen Menschen aufbauen können. Ein romantisches Ideal, vor dem die Naturwissenschaften kapitulieren müssen.