Prostitution: Blühendes Geschäft mit sexhungrigen Kunden
<b>In Sachen Bordelldichte ist die Schweiz weltweit die Nummer eins. Jenseits von Strassenstrich und Schmuddelpuff buhlen immer mehr Prostituierte um die gehobene Klientel - mit viel Selbstbewusstsein und Geschäftssinn.</b>
Veröffentlicht am 26. November 2008 - 18:11 Uhr
Warum gratis mit Männern ausgehen, wenn du damit einen Haufen Geld verdienen kannst?» Leandra, sonst selten um eine kesse Antwort verlegen, fiel einfach kein gutes Gegenargument ein. Den Fragesteller hatte sie einige Wochen zuvor auf einer Party kennen gelernt und erfahren, dass er Inhaber eines Begleitservice «für den Herrn mit gehobenen Ansprüchen» ist.Sie war damals 25 Jahre alt, lebenshungrig, gerade Single und ziemlich unzufrieden mit ihrer Arbeit als Hotelsekretärin und Receptionistin. «Ich liebte schon damals den Luxus und teure Klamotten, und das Konto war ständig überzogen», erinnert sich Leandra - so will sie heissen. Zwei Monate lang habe sie mit sich und mit ihren eingeimpften Moralvorstellungen gerungen. «An einem öden Freitagabend griff ich dann einfach zum Telefon und sagte meinem Bekannten: Okay, ich versuche es.»
24 Stunden später traf sie sich mit ihrem ersten Kunden.
Das war vor fünf Jahren. Vor drei Jahren machte sie ihren lukrativen Freizeitjob zum Hauptberuf; seither arbeitet sie vorwiegend selbstständig. Ihre Kundschaft erreicht sie durch Inserate in der Tagespresse und via Internet. Auch wenn sie es ist: Leandra liebt den Ausdruck «Prostituierte» nicht. «Das tönt nach Strich, Puff und Erniedrigung.» Beim Steueramt figuriert sie als «selbstständig erwerbende Hostess».
Mag die verbale Kosmetik ein Stück Selbstbetrug sein, das Klischee von der ausgebeuteten Frau, die auf die schiefe Bahn geraten ist, oder von der niveaulosen und vulgären Hure passt nicht zur selbstbewussten Erscheinung. Leandra ist mindestens 1,80 gross, schön und würdig in ihren Bewegungen. Umso schwieriger sich vorzustellen, dass sie in ihrer «Arbeitswohnung» in der Zürcher Agglomeration die gierigen und bisweilen bizarren Wünsche der Sexhungrigen befriedigt. Ihre Kleider und ihre Wohnung zeugen nicht nur von Geschmack, sondern auch von der Zugehörigkeit zur höheren Einkommensschicht.
Leandra hat Karriere gemacht und sich in den letzten fünf Jahren einen solventen Kundenstamm - «auch Polit- und Wirtschaftsprominenz ist darunter» - und ein stattliches Vermögen erarbeitet. Die gewiefte Geschäftsfrau redet nur ungern über Zahlen. «Diskretion gehört zum Geschäft, und Neider gibt es genug.» Dann gewährt sie doch noch einen vagen Blick aufs Honorar: «Ab 1200 Franken buche ich es als guten Tag ab.»
Scheinheilige Doppelmoral
Um die Prostitution weht seit jeher eine scheinheilige Doppelmoral. Während einzelne Vertreterinnen des horizontalen Gewerbes wie etwa Irma la Douce in Liedern, Filmen und Geschichtsbüchern glorifiziert und Kurtisanen und japanische Geishas als Kulturerscheinungen verherrlicht werden, gelten hiesige Huren als gesellschaftlicher Abschaum, als Schlampen und liederliche Frauenzimmer.
Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Justiz und der Politik nimmt der käufliche Sex eine sonderbare Zwitterstellung ein: Abscheu und Faszination, Verdrängung und Voyeurismus, Legalität und Gesetzwidrigkeit liegen haarscharf beieinander. Kaum ein Politiker mimt heute gern noch den prüden Moralisten, und der Sittenpolizei sind angesichts der unklaren Rechtslage die Hände gebunden.
Die Prostitution wird gern als «ältestes Gewerbe» bezeichnet - trotzdem ist sie in keinem Handelsregister eingetragen. Und eine Sexworkerin, die von ihrem Freier um ihr Entgelt betrogen oder ausgeraubt wurde, kann nicht auf richterliche Unterstützung hoffen. Prostitution gilt als legal, Liebeslohn auszuhandeln hingegen als «sittenwidrig» - und am Schluss macht der Fiskus die hohle Hand. Dilemma total.
Sicher ist, dass das Geschäft mit der Lust boomt wie nie zuvor. In der Schweizer Sexindustrie werden jährlich fast vier Milliarden Franken umgesetzt - rund 2,7 Milliarden entfallen auf die Prostitution. Abgezockt wird heute weniger von klassischen Zuhältern, sondern von Salon-, Klub- und Saunabesitzern sowie von Immobilienhändlern und Appartementsvermietern. Auf der nächsten Gehaltsstufe figurieren selbstständig arbeitende Edelprostituierte sowie Liebesdienerinnen, die auf Neigungen wie Sadomasopraktiken oder Fetischsex spezialisiert sind.
Aber das grosse Heer der Sexworkerinnen und -worker wird mit seiner Dienstleistung nicht reich. «Vielen bleiben nach Abzug der horrenden Mieten oder einer hälftigen Gewinnbeteiligung von Salonbesitzern höchstens 3000 bis 4000 Franken im Monat», schätzt die engagierte Exprostituierte Brigitte Obrist. Und sie wagt gleich noch eine Schätzung: «Uber 80 Prozent der Freier sind verheiratet.» Das schwächste Glied in der Kette machen Drogensüchtige und illegal eingeschleuste Migrantinnen aus. Was andere verweigern, wird auf dem Billigmarkt schamlos erpresst. Auf dem Drogenstrich ist ein «Vollservice» schon ab 30 Franken zu haben - wenns sein muss auch ohne Gummi.
Grenzenlose Macht über Männer
Leandra weiss, dass sie zu den Privilegierten im Rotlichtmilieu gehört. Sie kann sich ihre Kunden mehr oder weniger auswählen. «Stinkende, unflätige oder sturzbetrunkene Männer bediene ich nicht.
Mit der Zeit habe ich gelernt, schon am Telefon zu selektionieren.» Trotzdem: Kennt sie keine Gewissensbisse? Keinen Ekel? «Gegenfrage: Haben Sie jeden Tag Spass an ihrer Arbeit? Natürlich gibt es Tage, an denen ich meinen Beruf hasse. Aber meistens geniesse ich meine Selbstständigkeit. Vor allem aber liebe ich das Gefühl der Macht: Ich habe etwas, was die Männer wollen und wofür sie immer wieder ihr sauer verdientes Geld abliefern. So betrachtet bin ich es, die ausbeutet.»
Mühe bereiten Leandra die «lustfeindlichen Fundamentalisten» und jene «Antisex-Feministinnen», die jede Sexworkerin als hirn- und willenloses Dummchen ansehen». Sie sei kein Opfer und absolut freiwillig ins Business eingestiegen. Wirklich bereut habe sie es bisher erst einmal: als sie vor zwei Jahren in ihrem Studio ausgeraubt und vergewaltigt wurde und sich danach nicht getraute, Anzeige zu erstatten. «Die Angst, einem gewalttätigen oder irren Freier ausgeliefert zu sein, ist der hohe Preis, den wir bezahlen.»
Die Liebe bleibt auf der Strecke
Und noch etwas anderes hat sie eingebüsst: Ihre unbeschwerte Naivität ist ständigem Argwohn gewichen. Das Lächeln eines Nachbarn oder ihres Bankers deutet Leandra nicht mehr als Freundlichkeit, sondern als geringschätziges Grinsen. «Mein Beruf hat mich einsam gemacht. Ich habe kaum noch Freundinnen, und meine Eltern zwingen mich mit ihrer herzlichen Liebe, eine Lebenslüge zu konstruieren: Für sie bin ich eine erfolgreiche Vertreterin in der Kosmetikbranche.»
Im eigenen Liebesleben würde Leandra es gern wie die Bäcker halten: «Die backen ja auch ständig Brötchen für andere und essen dennoch zum Frühstück mit Genuss ihr Brot.» In Sachen Liebe, Zärtlichkeit und persönlicher Sex komme sie allerdings seit längerem zu kurz: «Zuhältertypen widern mich an. Und finden Sie mal den Mann ohne exklusive Besitzansprüche, der es ausserdem erträgt, dreimal weniger zu verdienen als seine Frau.» Den Traum von der uneigennützigen und treuen Beziehung hat sie sich sowieso abgeschminkt: «Die Desillusion in Sachen Liebe ist eine verbreitete Berufskrankheit.»
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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und Fernsehen DRS. Redaktionelle Verantwortung: Balz Hosang und Monika Zinnenlauf