Das Kind, das unbekannte Wesen
Die Vorboten der Pubertät machen sich bei vielen Kindern schon früh bemerkbar. Die Veränderungen verwirren nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern. Ist mit neun die Kindheit etwa schon vorbei?
Veröffentlicht am 5. April 2007 - 11:32 Uhr
Treffender gehts kaum: «Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich noch mein eigenes Kind vor mir habe», schreibt Diskussionsteilnehmerin Rastella im Online-Erziehungsforum des Beobachters. Tatsächlich kann es sein, dass Vorpubertierende quasi über Nacht nicht wiederzuerkennen sind. Statt morgens wie gewohnt am Frühstückstisch zu sitzen, kräht es aus dem Kinderzimmer: «Ich habe nix zum Anziehen!» Was bis anhin als tadellose Jeans durchging, sieht in den Augen der Tochter plötzlich «voll bekloppt» aus. Und überhaupt: Alle anderen dürfen Dinge haben und tun, die die eigenen Eltern verbieten.
Vorpubertät ist die Phase zwischen Kindheit und Jugend. Sie tritt heute rund zwei bis drei Jahre früher ein als noch vor wenigen Generationen: Bei Mädchen beginnt sie etwa mit neun, bei Knaben mit elf Jahren. Die Merkmale sind augenfällig: Das Kind ist launisch, fängt ohne ersichtlichen Grund Streit an, findet seine Eltern blöd, verweigert sich dem Familienausflug. Hauptursachen sind ein Hormonschub sowie eine Neuordnung im Gehirn - just in Bereichen, die für Motivation, Disziplin, Konzentration, Urteils- und Einfühlungsvermögen zuständig sind.
Das Kind empfindet in dieser Zeit viele Dinge anders als Erwachsene; es will eigentlich schon, aber es kann nicht: früh aufstehen, konzentriert lernen, drei Dinge im Kopf behalten, rücksichtsvoll sein, den Fernseher von sich aus abstellen. Zudem beginnt die Identitätsfindung: Wer bin ich? Welche Rolle spiele ich heute? Welche will ich künftig spielen?
Spielen Sie mal den Prellbock
Trotzdem: Als Eltern können und sollen Sie Ihrem vorpubertären Kind weiterhin eine Vertrauensperson sein. Auch wenn es Sie provoziert oder sich (scheinbar) von Ihnen abwendet. Es braucht Sie wie eine Wand, an der es sich anlehnen, aber eben auch mal aufprallen kann. Reagieren Sie deshalb auf Provokationen wie zum Beispiel Schimpfworte mit einer klaren Haltung. Sie zu ignorieren würde Ihrem Kind signalisieren: «Du interessierst mich nicht.» Die folgenden fünf Regeln können Ihnen und Ihrem Sprössling helfen, die Umstellung von der Kindheit in die frühe Pubertät positiv zu gestalten:
- Interesse und Motivation: Fragen Sie Ihr Kind, warum es gerade eine Landschildkröte haben möchte, Karate als Sportart wählt, was es an seinen Freunden mag. Loben Sie es für Bemühungen und Erfolge in Schule und Freizeit und ermutigen Sie es nach Rückschlägen.
- Liebesbekundung: Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie es lieben und was Sie besonders an ihm schätzen. Kleine Gesten wie ein Schoggistängeli schenken oder zuzwinkern sind ebenso wirksam, wie das Kind mal wieder zu knuddeln (falls es dies noch zulässt) oder mit ihm herumzualbern.
- Abmachungen: Lassen Sie Ihr Kind mitreden, wenn es darum geht, wer welche Hausarbeiten erledigt, wie lange es fernsehen und gamen darf, wohin Sie einen gemeinsamen Ausflug machen. Halten Sie die Abmachungen schriftlich fest; unterzeichnen und kontrollieren Sie sie gemeinsam. Vereinbaren Sie auch zusammen die Konsequenzen bei Nichteinhaltung.
- Rituale: Das Gute-Nacht-Ritual behält auch in diesem Alter seine Wirkung - etwa ein kurzer Rückblick auf den Tag, eine Rückenmassage, sich gegenseitig ein Kapitel aus einem Buch vorlesen.
- Kind bleiben: Lassen Sie Ihrem Kind die Momente, in denen es selbstvergessen spielt, sich an Sie kuschelt, blödelt und herumtollt. Es bleibt noch genug Zeit, erwachsen zu werden.
Jeder Beginn der Pubertät ist anders. Es gibt heftige Verläufe mit Streit und Stress, aber auch unspektakuläre. Immerhin bleiben rund 30 Prozent aller Kinder während dieser wichtigen Entwicklungsphase von Körper und Gehirn ganz die «Alten».