Das Dilemma, vor dem Eltern stehen, beginnt wenige Wochen nach der Geburt ihres Kindes: Sollen sie das Baby gegen Diphtherie, Hirnhautentzündung, Kinderlähmung und andere Krankheiten impfen lassen? Und vielen graut es bei der Vorstellung, ihrem Schützling in den ersten zwei Lebensjahren 14 Spritzen gegen acht Krankheiten setzen zu lassen, wie es die Gesundheitsbehörden empfehlen.

Eine Haltung, die bei vielen Medizinern auf Verständnis stösst. «Eine skeptische Haltung gegenüber Impfungen darf nicht verwechselt werden mit Uneinsichtigkeit oder gar Verantwortungslosigkeit», sagt der Berner Arzt Peter Klein, Mitglied der Arbeitsgruppe für differenzierte Impfungen. Als Familienarzt mache er die Erfahrung, dass gerade diejenigen Eltern, die verstehen wollen, worum es bei den einzelnen Impfungen geht, ihre Verantwortung gegenüber den Kindern ausgesprochen ernst nehmen würden.

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Manche Eltern haben Bedenken, in das Immunsystem des Kindes «künstlich einzugreifen». Oder es fällt ihnen schlicht schwer, ihr Baby piksen zu lassen. Sie fragen sich, ob ihr Kind die impfbaren Krankheiten nicht auch gefahrlos überstehen könnte. Und warum es so früh gleich so viele Impfungen sein müssen.

Der Impfplan des Bundesamts für Gesundheit sieht die ersten Impfungen im Alter von zwei Monaten vor. Eine Empfehlung, die von Skeptikern teilweise infrage gestellt wird. «Abgesehen von der Impfung gegen Hämophilus-Bakterien, Keuchhusten und allenfalls gegen Pneumokokken gibt es keinen absoluten Grund, schon im ersten Lebensjahr zu impfen», sagt Peter Klein.

Impfbefürworter hingegen sind der Meinung, «dass theoretisch schon Neugeborene geimpft werden könnten, weil ihr Immunsystem dafür bereit wäre», so Hans Binz, Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF). Die Kommission setzt sich aus unabhängigen Experten zusammen, die bei Impffragen zwischen Behörden, Fachkreisen und der Bevölkerung vermitteln und Empfehlungen für oder gegen bestimmte Impfungen ausarbeiten.

Neugeborene sind durch den sogenannten Nestschutz geschützt: durch die mütterlichen Antikörper, die das Kind während der Schwangerschaft via Nabelschnurblut erhalten hat und nach der Geburt über die Muttermilch erhält. Doch nach ungefähr einem halben Jahr versiegt diese von der Mutter geliehene Immunität. «Damit Säuglinge den Krankheiten nicht schutzlos ausgeliefert sind, werden sie ab dem zweiten Monat mit den ersten Dosen geimpft und erhalten dann zwei weitere Dosen, so dass sie in der Regel mit sechs Monaten durch ihr eigenes Immunsystem geschützt sind», erklärt der Impfspezialist Binz, der im Spital in Solothurn tätig ist.

Ausserdem beobachte man im Säuglingsalter am wenigsten Nebenwirkungen bei Impfungen. Kindern unter eineinhalb Jahren mache zudem das Stechen beim Kinderarzt deutlich weniger Angst.

Zweifel an Impfungen werden durch Kritiker genährt, die die fehlende Unabhängigkeit der Impfforschung von der Pharmaindustrie bemängeln oder auf die sehr seltenen, aber möglichen schweren Nebenwirkungen von Impfungen und auf mögliche Langzeitschäden durch Zusatzstoffe in den Impfungen hinweisen (siehe auch: «Streitfrage: Impfen statt durchseuchen»).

Es gibt auch Gegner, die jenseits rationaler oder wissenschaftlich überprüfbarer Thesen argumentieren. Sie behaupten, dass das Impfen für eine ganze Reihe von Phänomenen und Krankheiten verantwortlich sei – von Autismus, Diabetes und Allergien über das Aufmerksamkeitsdefizit ADHS bis hin zur Homosexualität. Infektionskrankheiten durchzumachen sei zudem ein nötiger Schritt in der Entwicklung des Kindes.

Sogar Masern- und Windpocken-Kinderpartys werden auf einschlägigen Internetseiten empfohlen: Diese sollen den Kindern eine Ansteckung mit einem bestimmten Erreger «ermöglichen», der gerade kursiert. Das Motto lautet: durchgemacht ist durchgemacht. «Das sind alles Behauptungen ohne wissenschaftliche Belege», kontert der Impfspezialist Hans Binz.

Viele Eltern verhalten sich paradox und unterschätzen die Gefährlichkeit von Kinderkrankheiten. Die Vorstellung, ihrem Sprössling mit dem Piks beim Kinderarzt womöglich einen Impfschaden zuzufügen, bereitet ihnen schlaflose Nächte. Dass ihr ungeimpftes Kind aber einen Masernerreger oder ein Tetanus-Bakterium auflesen und daran erkranken könnte, vergessen sie dabei oft – oder sie nehmen es als etwas Naturgegebenes hin.

Sachlichen Kriterien hält diese Sicht nicht stand. Keine Impfung ist ganz ohne Risiko, aber die Gefahren sind viel geringer als bei einer natürlichen Erkrankung. So ist etwa das Risiko, durch die sogenannte MMR-Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln eine Gehirnentzündung zu erleiden, 1000-mal kleiner als bei einer Erkrankung an Masern.

Eltern wissen oft nicht, dass etwa die Masern schwerste Lungenentzündungen und lebensgefährliche Hirnentzündungen auslösen können und wegen Komplikationen immer wieder Kinder ins Spital müssen – oder gar sterben. Und dies nicht nur in Ländern mit Unterernährung oder mangelhafter Gesundheitsversorgung: «Man hegt die Illusion, wir könnten hierzulande alle auftretenden Infektionen medikamentös beherrschen», sagt der Zürcher Präventivmediziner Robert Steffen. Dem sei nicht so: Die Masern sind auch in der Schweiz in einem von 3000 Fällen tödlich, und auch an Keuchhusten sterben hierzulande noch Babys (zwischen 1995 und 2005 waren es drei Todesfälle).

Wie erklärt sich in diesem Zusammenhang die vor allem in der deutschen Schweiz vorkommende Skepsis gegenüber dem Impfen? «Impfungen sind Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden», glaubt Hans Binz von der EKIF. Heute seien schwere Krankheiten aus unserem Bewusstsein verschwunden – dank Impfungen. «Die Menschen heute kennen die Missbildungen bei Kindern nicht mehr, die durch eine pränatale Infektion mit Röteln entstehen. Oder sie haben nicht miterlebt, dass jemand mit Starrkrampf oft 30 Tage lang auf der Intensivstation zubringen musste – falls der Patient die Erkrankung überhaupt überlebte.»

Todesfälle wegen Röteln gibt es heute zum Glück nicht mehr, und Starrkrampf tritt hierzulande nur noch selten auf – und nur bei ungenügend oder nicht geimpften Personen. Auch Robert Steffen betont: «Dank Impfungen ist in der Schweiz seit mehr als 25 Jahren niemand an Diphtherie gestorben.» Und ebenso lange sei es her, dass ein Kind in der Schweiz eines Morgens vollkommen gelähmt im Bett erwachte, weil es sich mit dem Erreger der Kinderlähmung angesteckt hatte.

Doch warum soll man sein Kind gegen nahezu ausgerottete Krankheiten impfen? «Impfungen sind nach wie vor unerlässlich», sagt Steffen: «Damit diese Krankheiten in Zukunft nicht wieder vermehrt auftreten, sind hohe Durchimpfungsraten wichtig – je nach Krankheitserreger von 80 bis 95 Prozent.» Die seit 2003 in der Schweiz in Wellen auftretende Masernepidemie zeige, dass Erreger schnell die Überhand gewinnen, wenn nicht genügend Kinder geimpft sind. Zudem könnten Krankheiten wie die Kinderlähmung, die es bei uns nicht mehr gibt, aus Regionen wie Indien oder Afrika wieder eingeschleppt werden. «Die Eltern eines geimpften Kindes werden nie wissen, ob ihr Kind ohne Impfung erkrankt wäre – und dies allenfalls mit Todesfolge», bringt der Präventivmediziner die Krux mit dem Impfen auf den Punkt. Und fügt an: «Deshalb werden sie dies der Impfung nie danken.»

Vielen Eltern erscheint das Hinauszögern der Impfung als guter Kompromiss zwischen Impfverweigerung und offiziellem Impfplan. Eine Strategie, die sich jedoch als Trugschluss erweist.

  • Bei Masern, Mumps oder Röteln beispielsweise steigt die Komplikationsrate mit zunehmendem Alter an. Weshalb manche impfkritischen Ärzte vorschlagen, Kinder nicht wie empfohlen schon mit zwölf Monaten, sondern erst als Kindergarten- oder Schulkind oder erst bei einer lokalen Masern- oder Mumpsepidemie zu impfen. Das Problem: Bis zur Impfung fehlt dem Kind somit ein Schutz. Zudem ist es fraglich, ob sich Kinder bis zum Bekanntwerden einer Epidemie nicht bereits angesteckt haben. Denn vor allem Masern sind hochansteckend und werden vor dem typischen Hautausschlag an andere weitergegeben. Zudem häufen sich seit einigen Jahren Fälle von Masern in der Schweiz.
     
  • Auch gegen Diphtherie und Starrkrampf könnte später geimpft werden, also nicht wie im Impfplan vorgesehen schon im Alter von zwei Monaten, sondern erst mit zwölf Monaten. Denn Diphtherie gibt es in der Schweiz nicht mehr. Für Babys, die noch nicht krabbeln oder laufen können, ist die Verletzungsgefahr und damit die Gefahr, sich mit dem Starrkrampfbakterium zu infizieren, viel geringer als bei älteren Kindern.

    Aber: Diphtheriebakterien zirkulieren noch in einigen Ländern wie Russland oder Nordafrika und könnten eingeschleppt werden – was auch bei Reisen zu bedenken ist. Und: Trotz Behandlung mit Antibiotika verläuft die Diphtherie bei einem von zehn Kindern tödlich. Bei vorläufigem Verzicht auf die Tetanusspritze müssen Eltern beachten, dass Starrkrampfbakterien überall vorkommen: in der Erde, im Pferdestall und im Strassenstaub. Auch dieses Bakterium kann mit einer Antibiotika- und Antitoxintherapie nicht immer in Schach gehalten werden: In einem von vier Fällen verläuft die Infektion tödlich.
     
  • Eine andere Alternative sieht vor, Kinder nur bei erhöhtem Risiko gegen Keuchhusten und Haemophilus influenza b (Hib) impfen zu lassen. Zum Beispiel bei früher Geburt, Ernährung mit Flaschenmilch, wenn das Kind bereits als Baby Krippe oder Spielgruppe besucht oder wenn es mehrere Geschwister hat. Was Eltern hierbei bedenken müssen: Beide Erkrankungen sind vor allem für Babys gefährlich. Bei einer Infektion mit dem Bakterium Hib kann es zu einer Hirnhautentzündung oder einer Kehlkopfdeckelentzündung mit Erstickungsgefahr kommen. Trotz Antibiotikatherapie haben zehn Prozent der infizierten Kinder Dauerschäden. Auch Keuchhusten wird in seiner Gefährlichkeit meist unterschätzt: Gefürchtete Komplikationen sind Lungenentzündungen und Krampfanfälle. In Industrieländern führt Keuchhusten bei 2 von 1000 Erkrankten zum Tod.

Ob Erwachsene gegen Krankheiten wie Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten und Kinderlähmung geschützt sind, hängt davon ab, ob «die Grundimmunisierung im Kindesalter gemacht worden ist», sagt Hans Binz, Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen. «Dann ist auch der Erwachsene gegen Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten und Kinderlähmung geschützt.» Allerdings müssen die Diphtherie- und Starrkrampfimpfungen alle zehn Jahre aufgefrischt werden. Die Impfung gegen Keuchhusten braucht nicht aufgefrischt zu werden, die Impfung gegen Kinderlähmung nur, wenn der Betreffende in Länder reist, in denen Kinderlähmung vorkommt.

Auf eine Hepatitis-B-Impfung können Erwachsene verzichten, falls kein spezielles Risiko vorliegt. Ein erhöhtes Ansteckungsrisiko haben etwa das Medizinal- und Pflegepersonal, Konsumenten von injizierbaren Drogen, enge Kontaktpersonen von Patienten mit Hepatitis B, Sozialarbeiter, Polizeiangestellte oder Personen aus Ländern, in denen Hepatitis B häufig vorkommt – etwa China, der Nahe und Mittlere Osten oder Teile Afrikas. Ebenso kann auf die Impfung gegen die von Zecken übertragbare Frühsommer-Meningoenzephalitis verzichtet werden, wenn man sich nicht in Regionen aufhält, wo infizierte Zecken vorkommen.

Sich gegen die saisonale Grippe impfen zu lassen ist für gesunde Erwachsene unter 65 Jahren nicht zwingend. Für Risikopersonen oder Ältere ist die Grippe jedoch eine ernste Krankheit: Für diese Menschen und deren Umfeld macht eine Impfung Sinn. Leute, die durch eine Grippeerkrankung gefährdeter sind als andere, sind etwa chronisch Kranke sowie Personen, die an Herz- oder Lungenkrankheiten, Niereninsuffizienz, Diabetes oder Blutkrankheiten leiden. Ebenfalls impfen lassen sollten sich Personen mit einem geschwächten Immunsystem – etwa nach einer Organtransplantation.

In der Schweiz ist es Eltern freigestellt, ihr Kind impfen zu lassen. Dennoch rufen Kinderärzte dazu auf. Denn je mehr Kinder geimpft sind, desto seltener treten Infektionskrankheiten auf.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt 2009 – im Einklang mit Kinderärztinnen und -ärzten sowie nationalen und internationalen Gremien wie der Weltgesundheitsorganisation –, Kinder gegen Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten, Kinderlähmung, Hirnhautentzündung und Kehlkopfdeckelentzündung durch das Bakterium Haemophilus influenzae b (Hib) sowie gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) impfen zu lassen. Ausserdem rät das BAG je nach Wohnregion in der Schweiz – und frühestens ab sechs Jahren – zur Impfung gegen die von Zecken übertragbare Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME).

Ergänzend vorgesehen sind für Eltern, die auf Nummer sicher gehen wollen, Impfungen gegen Pneumokokken und Meningokokken. Pneumokokken sind bei Kindern unter zwei Jahren die häufigste Ursache für akute bakterielle Hirnhautentzündung, Meningokokken wiederum können Blutvergiftungen oder Hirnhautentzündung auslösen. Bei besonders gefährdeten Kindern, zum Beispiel bei Kindern mit speziellen Vorerkrankungen oder bei Frühgeborenen, rät der offizielle Impfplan zu weiteren Impfungen: gegen Hepatitis A und B, Grippe und Windpocken.

Eine Tuberkuloseimpfung wird für Neugeborene und Säuglinge unter zwölf Monaten empfohlen, die aus osteuropäischen, asiatischen oder anderen Ländern kommen, in denen die Tuberkulose verbreitet ist.

Vor der Pubertät werden weitere Impfungen empfohlen: 11- bis 15-Jährigen die Impfung gegen Hepatitis B, ein Virus, das sexuell oder durch Blut übertragen wird. Hepatitis B kann eine Leberzirrhose oder gar Leberkrebs nach sich ziehen.

Mädchen im Alter zwischen 11 und 14 Jahren empfiehlt das BAG die Impfung gegen Humane Papillomaviren (HPV). Diese Viren sind sexuell übertragbar, weit verbreitet und werden für Gebärmutterhalskrebs verantwortlich gemacht. 15- bis 19-Jährige, die bisher nicht geimpft worden sind, können die Impfung nachholen.

Ausserdem raten Ärztinnen und Ärzte heute Jugendlichen, die die Windpocken (Spitze respektive Wilde Blattern) noch nicht durchgemacht haben, zu einer Impfung. Die Krankheit ist bei Kindern zwar meist harmlos, im Erwachsenenalter aber ist das Komplikationsrisiko erhöht: Es kann zu Mittelohr-, Lungen- oder Gehirnentzündung kommen – und bei schwangeren Frauen auch zu Schädigungen des Ungeborenen.

Was oft vergessen geht: Impfungen gegen Diphtherie und Tetanus sollten im Alter von 11 bis 15 Jahren erneuert werden, damit der Impfschutz weiterhin gewährt ist.