Damit die Hand nicht ausrutscht
Nichts und niemand bringt Eltern so an Grenzen wie die eigenen Kinder. Wie eine gewaltfreie Erziehung gelingt.
aktualisiert am 28. April 2020 - 09:50 Uhr
Am 30. April ist «No Hitting Day». Der Tag der gewaltfreien Erziehung soll gegen die Gewalt sensibilisieren, die viele Eltern noch immer anwenden.
Doch was ist überhaupt Gewalt gegen Kinder ? Schon ein Klaps auf den Hintern? Oder das Kind ausschimpfen?
Die Antwort lautet zweimal Ja. Als körperliche Gewalt gelten Handlungen wie Schlagen, Treten, Stossen, Boxen oder an den Haaren ziehen. Psychische Gewalt wendet an, wer ein Kind als wertlos behandelt, es zurückweist oder verachtet und seine emotionalen und körperlichen Bedürfnisse nicht ernst nimmt.
In der Schweiz geht Gewalt von Eltern zum Glück zurück. Das zeigt eine Studie der Uni Freiburg von 2018. Aber: Rund 70 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten schon psychische Gewalt angewandt – wenn auch viele nur selten. Physische Gewalt hat etwa die Hälfte schon einmal angewandt.
Ob Gewalt Folgen für das Kind hat, hängt unter anderem davon ab, wie intensiv und häufig sie erfolgte. Psychische Gewalt hinterlässt genauso Spuren wie körperliche. Kinder, die Gewalt erlebt haben, verhalten sich öfter aggressiv und werden später eher selbst zu Tätern. Oder sie leiden unter psychischen Problemen.
Die grosse Mehrheit der Eltern greift nicht bewusst zu Gewalt; vielmehr entsteht sie aus einem Gefühl der Überforderung . Dazu schrieb der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul: «Die Qualität von Eltern bemisst sich nicht nach den Regeln, die sie ihren Kindern vorgeben, sondern nach der Art ihrer Reaktion, wenn diese Regeln gebrochen werden.»
Für Eltern ist es in der Erziehung wichtig, konsequent zu bleiben und ihren Kindern auch die Konsequenzen zu zeigen, wenn diese nicht gehorchen wollen. Wie Sie das am besten tun, erfahren Sie als Beobachter-Mitglied in der Checkliste «So gelingt konsequentes Erziehen» mit praktischen Beispielen aus dem Alltag.
Lernen Sie Ihre persönlichen Ärgerauslöser kennen.
Was regt Sie besonders auf? Warum? Wenn Ihnen diese Triggerpunkte bekannt sind, sind Sie besser vorbereitet. Dann gelingt es Ihnen eher, bei Konflikten überlegt zu reagieren.
Sprechen Sie das Kind direkt an, reden Sie auf Augenhöhe mit ihm.
Rufen Sie also nicht aus der Küche «Räum jetzt endlich dein Zimmer auf!», sondern gehen Sie zum Kind hin und sagen Sie, was Sie genau möchten
.
Kommunizieren Sie konsequent mit Ich-Botschaften.
Benennen Sie Regelverstösse klar und sprechen Sie dabei die eigenen Gefühle an: «Es macht mich wütend, wenn du dich nicht an unsere Abmachungen hältst.»
Nehmen Sie sich Zeit, bevor Sie reagieren.
Sie verlieren nicht das Gesicht, wenn Sie auf ein Fehlverhalten nicht sofort reagieren. Benennen Sie es aber: «Ich finde das nicht in Ordnung. Ich werde darauf zurückkommen.»
Schaffen Sie Distanz, wenn die Emotionen hochkochen.
Gehen Sie kurz nach draussen, trinken Sie einen Kaffee und sprechen Sie erst mit dem Kind, wenn Sie wieder ruhiger sind.
Setzen Sie Prioritäten.
Überlegen Sie sich, was Sie aktuell am meisten stört
, und suchen Sie für dieses Problem eine Lösung.
Nehmen Sie das Positive wahr.
Achten Sie darauf, dass Sie nicht ausschliesslich darüber sprechen, was alles nicht gut läuft. Sprechen Sie bewusst auch Dinge an, die das Kind gut macht
.
Zu viel reden wirkt eskalierend.
Klare Verbote verhindern Eskalation eher, als wenn Sie versuchen, das Kind von der Richtigkeit Ihrer Entscheidung zu überzeugen.
Holen Sie sich Hilfe.
Sprechen Sie mit Freunden über die Situation, mit der Sie Mühe haben. Oder wenden Sie sich an eine Fachstelle, etwa an Familienberatungsstellen oder den Elternnotruf Schweiz (Telefon 0848 35 45 55)
Achten Sie auf sich selbst und planen Sie Zeit für sich ein.
Vergessen Sie vor lauter Kindererziehung nicht sich selbst, das macht auf Dauer unzufrieden. Wenn es Ihnen gut geht, können Sie auch eher ruhig und überlegt handeln.
Wenn Eltern auf Provokationen mit Gewalt reagieren, wird das Kind das nächste Mal noch herausfordernder oder wendet gar selbst Gewalt an, sagt der israelische Familientherapeut Haim Omer. Eine Spirale, die oft in der Kapitulation der Eltern endet. Damit verstärkt sich das Fehlverhalten der Kinder, und die Eltern sind erst recht frustriert. Das wiederum führt zu weiteren Eskalationen. Dieser Teufelskreis lässt sich laut Omer nur mit gewaltlosem Widerstand durchbrechen: «Zentrales Ziel ist nicht die Macht, sondern ein Kämpfen um eine Beziehung, deren Grundlage die Liebe der Eltern zum Kind ist.»
Haim Omers Prinzipien der elterlichen Präsenz:
- Gewalt, Beleidigungen und Demütigungen sind absolut tabu.
- Eltern sind von ihrem Standpunkt überzeugt, sie bleiben ruhig und beharrlich bei ihrer Position.
- Es werden Lösungen gesucht, die das Kind weder demütigen noch besiegen.
Provokationen widerstehen: Durchbrechen Sie den Teufelskreis der Eskalation und steigen Sie nicht mehr auf Provokationen des Kindes ein.
- Klare Ankündigung:
Teilen Sie dem Kind deutlich mit, dass Sie sein Verhalten in Zukunft nicht mehr tolerieren werden. Kündigen Sie an, wie Sie in Zukunft darauf reagieren werden. Sagen Sie klipp und klar, dass Gewalt nicht toleriert wird. Achten Sie darauf, keinerlei Drohungen auszusprechen.
- Netzwerk aufbauen:
Legen Sie die Scham ab und sprechen Sie mit Freunden, Familie, Nachbarn oder Fachpersonen über die Probleme. Das ist ein schwieriger, aber wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigen Veränderung. Diese Personen können Ihnen zur Seite stehen.
- Sit-in:
Gehen Sie ins Zimmer des Kindes und sagen Sie ruhig und klar, dass Sie sein Verhalten nicht länger tolerieren. Das Kind soll sagen, wie die Lösung aussieht. Sobald es einen konstruktiven Vorschlag macht, verlassen Sie das Zimmer. Wenn kein Vorschlag kommt, gehen Sie nach einer halben Stunde raus und sagen: «Wir haben noch keine Lösung gefunden.» Wiederholen Sie dieses Sit-in am nächsten Tag.
- Gesten der Wertschätzung:
Zeigen Sie, dass Sie Ihr Kind wertschätzen – ganz unabhängig von seinem momentan schwierigen Verhalten. Kochen Sie etwa sein Lieblingsessen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Es geht hier um die Botschaft, dass Sie als Eltern an einer guten Beziehung zu Ihrem Kind interessiert sind.
Kinder und Jugendliche testen immer wieder ihre Möglichkeiten bei den Eltern aus. Aus diesem Grund ist es für Eltern wichtig, konsequent zu bleiben. In der Checkliste «Erfolgreich Grenzen setzen» erhalten Beobachter-Mitglieder nützliche Erziehungstipps.
3 Kommentare
Nichts und niemand bringt die Eltern
Ich habe viel Gewalt erlebt, inklusive im katholischen Kinderheim. Ich habe jede Form von Gewalt, welche sich jenseits von Notwehr bewegt, immer abgelehnt. Lange war ich deshalb in dieser Männerwelt das schwarze "Schaf" oder der Aussenseiter. Bis Marshall Rosenberg kam, mit seiner grossartigen Arbeit und Aufklärung in Buchform: Die gewaltfreie Kommunikation, eine Sprache des Lebens. Der Titel wird dem professionellen Buchinhalt nicht gerecht. Um das machtvolle Handeln kommt kein Mensch herum, viele haben Probleme mit Macht. Doch das Motiv, der Zweck und das Ziel entscheiden, ob Gewalt Gewalt ist, oder eben machtvolles Handeln zum Wohle aller Beteiligen. Machtvolles Handeln muss immer an die bestmöglichen Werte geknüpft sein, wenn dem immer so wäre in allen Bereichen des Lebens, dann hätten wir eine bessere Welt. Danke und Gruss Beatus Gubler www.streetworkbasel.ch
Deshalb gilt weiterhin: "Eltern werden, ist nicht schwer, Eltern sein, dagegen sehr"! Weshalb Frauen und auch Männer sich sehr gut überlegen sollten, betreffend Kinderwunsch, Familie, jahrelange Verantwortung, Verpflichtungen einerseits und Beruf/Arbeit, berufliche Zukunft, Freizeit, Reisen andererseits - oder doch "Verhütung"?