Der Weg nach ganz unten
Krank, arbeitslos, Scheidung und keine IV-Rente: wie eine 49-Jährige in die Abwärtsspirale geriet.
Veröffentlicht am 17. Februar 2015 - 08:57 Uhr
Serafina Rossis* Einzimmerwohnung ist mit Stühlen verstellt – daran hangelt sie sich zum Bad und zur Küche. Noch. «Der Rollstuhl steht schon im Keller», sagt sie. Immer wieder sackt ihr Körper zusammen, die Ärzte sind ratlos. Ihre Schwäche könnte mit einem Bandscheibenvorfall zusammenhängen, der sich offenbar nicht operieren lässt.
Die Frau erzählt ihre Geschichte auf dem Bett liegend – die einzige Position, in der sie einigermassen schmerzfrei sei. Immerhin hat sie wieder eine Wohnung, muss nicht mehr in Heimen der Heilsarmee übernachten. Aber zum Leben bleiben ihr bescheidene 700 Franken im Monat.
Dabei war ihre Zukunft rosig gewesen damals, vor 15 Jahren. Sie hatte als temporär angestellte Briefsortiererin bei der Post gearbeitet. Dort erwies sie sich als so tüchtig, dass sie zur Gruppenleiterin aufstieg und im Monat fast 6000 Franken verdiente.
Da nahm das Unheil seinen Lauf. Während einer Schwangerschaft hatte sie Jahre zuvor das Steissbein gebrochen, was man erst nach der Geburt des Kindes feststellte, weil man nicht röntgen konnte. Zum gebrochenen Steissbein kam der Bandscheibenvorfall. Obwohl Rossi kaum mehr sitzen konnte, arbeitete sie weiter zu 50 Prozent. Dann kam vor zehn Jahren die Scheidung, es wurde finanziell knapp. Sie musste trotz grossen Schmerzen ihr Pensum auf 100 Prozent erhöhen. «Ich hielt es nur noch auf einem Sitzring aus», sagt sie. Es wurde noch schlimmer, als sie während der Weiterbildung täglich acht Stunden stehen musste.
Es kam nicht gut, Serafina Rossi wurde 2008 krankgeschrieben. Zwar bemühte sie sich noch um leichtere Arbeit in der sogenannten Briefklinik, wo beschädigte Sendungen geflickt werden – doch dort, sagt sie, habe man sie nicht gewollt.
Sie bezog Krankentaggelder. Nach anderthalb Jahren stellte sie einen Antrag auf IV-Rente, woraufhin die Post die Zahlung der Taggelder einstellte. Serafina Rossi musste Sozialhilfe beantragen. «Als ich eine Anwältin einschaltete, offerierte mir die Post 2000 Franken als Abgeltung. Ich akzeptierte, weil ich keine Kraft und Geld hatte, einen Prozess zu wagen», sagt sie. Zwei Jahre lang half die Arbeitslosenkasse aus, dann wurde Rossi ausgesteuert. Wegen ihrer chronischen Schmerzen fand sie keine Arbeit. Also war sie wieder auf Sozialhilfe angewiesen.
Serafina Rossi gehörte ein Zehntel des Hauses ihres Exfreundes, mit dem sie nach der Scheidung zusammen war. Die Sozialbehörde verlangte, dass das Haus verkauft wird, weil sie glaubte, Rossi könne vom Erlös noch längere Zeit leben. Doch das Haus war bis unter das Dach mit Hypotheken belehnt. «Zudem fanden sich Altlasten, wodurch der Wert um 100'000 Franken gesunken war», stellt Rossi nüchtern fest.
Nach Abzug aller Schulden blieben ihr 5000 Franken. Damit nicht genug. Sie musste just dann mit ihren beiden Kindern das Haus verlassen, als diese mitten in der Lehrabschlussprüfung steckten. «Man gab uns einen Monat Zeit, um die Sachen zu packen.» Der Sohn fiel prompt durch die Prüfung, er wird sie dieses Jahr wiederholen.
Die Familie fiel auseinander, die Kinder kamen in verschiedenen Wohngemeinschaften unter. Zu allem machte ihr der Exfreund das Leben schwer. «Ich war kurz davor, mich umzubringen», sagt Serafina Rossi. «Nur meine Kinder haben mich davon abgehalten.»
*Name geändert
Die Kinder waren versorgt, Serafina Rossi fand Unterschlupf bei einem älteren Ehepaar. Was sie erst nach ihrem Einzug erfahren habe: «Ich hätte hier den Haushalt führen müssen, doch das konnte ich wegen meiner Schmerzen nicht.» Nach sechs Wochen war Schluss. Sie kam bei einer Kollegin unter, doch dann bot ihr das Sozialamt Zürich einen Platz in einem Wohnheim der Heilsarmee an. «Ich musste diesen Platz nehmen, weil er sonst später wieder belegt gewesen wäre.»
Die Schlafstelle im Heim lag an einer verkehrsreichen Strasse, es war lärmig Tag und Nacht. Die Zimmerkollegin war auch nicht ihre Wunschpartnerin. «Sie klaute mir Sachen, Kleider und sogar mal ein teures Parfüm, das ich geschenkt bekommen hatte», erzählt Rossi. «Als ich sie zur Rede stellte, stritt sie natürlich alles ab.» Zwar habe man ihr geglaubt, doch weil die andere Frau schwanger war, konnte sie bleiben, Serafina Rossi musste sich eine neue Bleibe suchen.
Sie fand vorübergehend bei einem Kollegen Unterschlupf, hatte bei Verwandten ein Dach über dem Kopf und bewarb sich mehrmals für städtische Wohnungen, doch ohne Erfolg. «Weil ich keinen festen Wohnsitz hatte, wurde mir sogar das Existenzminimum von 780 auf 700 Franken gekürzt.»
Warum haben ihr die Kinder nicht finanziell ausgeholfen? «Ich war selber in Geldnöten», sagt Tochter Maria. «Der Take-away, den ich mit einem Kollegen zusammen führte, lief nicht gut, ich hatte Betreibungen am Hals.» Heute kann Maria ihrer Mutter aushelfen, sie hat eine feste Anstellung in einem Altersheim.
Etwa fünf Monate verbrachte Serafina Rossi in Heilsarmee-Heimen. In einem wurde sie weggewiesen, weil man sie mit einem Joint erwischt hatte. «Alkohol wird in diesen Heimen toleriert, aber wer kifft, wird rausgeschmissen», ärgert sie sich.
Pro Nacht bezahlte das Sozialamt der Heilsarmee 100 Franken, im Monat 3000 Franken. «Wenn mir das Amt eine Wohnung gegeben hätte, wäre das die Steuerzahler wesentlich günstiger gekommen», sagt Rossi. Mit diesem Preis fuhr das Sozialamt sogar noch günstig: Andere Einrichtungen verlangen 150 Franken und mehr, bestätigt ein Mitarbeiter.
Nach ihrer zweijährigen Odyssee fand Rossi vor einigen Monaten eine Genossenschaftswohnung in einem Zürcher Aussenquartier. Hier verbringt sie ihre Tage, wartet auf einen Entscheid der IV. «Mir würde schon genügen, wenn ich nur ein wenig selbständiger sein könnte und nicht ständig meine Familie um Geld anbetteln müsste.» Trotz Schmerzen und Geldsorgen wirkt Rossi nicht verbittert. Doch: «Ohne starke Schmerzmittel und Antidepressiva ginge es nicht.»
Hat Serafina Rossi einfach Pech gehabt oder hätte sie ihren schrittweisen Abstieg verhindern können? «Sie ist sicher durch eine Verknüpfung unglücklicher Umstände in diese Abwärtsspirale geraten», sagt der Arzt, der sie bis vor einem Jahr betreut hat. «Aber vielleicht hat sie sich auch ein bisschen zu passiv verhalten und gewartet, bis man ihr aus der Misere hilft.» Sie könne zudem sehr fordernd sein und aufbrausend, was auch nicht unbedingt Sympathien wecke.
Serafina Rossi wird kaum mehr arbeiten können. Sie ist bei der IV in Abklärung, doch das dauert. Ob sie angesichts des finanziellen Drucks auf die IV zu einer Rente kommt oder ob ihr leichte Arbeit zugemutet wird, ist offen, meint ihr früherer Arzt. Und bis zu einem Entscheid muss sie von der Sozialhilfe leben. «Das ist nur einer von Tausenden von Fällen», sagt der auf Sozialversicherungsrecht spezialisierte Winterthurer Anwalt Massimo Aliotta. «Wer auf einen IV-Entscheid warten muss, muss in der Regel von der Sozialhilfe unterstützt werden, weil es so lange dauert.» – «Wenn man mir vor fünf Jahren gesagt hätte, dass ich einmal obdachlos werde, hätte ich das nicht geglaubt», sagt Rossi.