«Auf der Bühne bin ich nackt»
Lea Vejnovic ist es leid, auf ihre Behinderung reduziert zu werden. In ihrem Tanzstück «bewegt» berührt die kreative Zürcherin Menschen auch ohne physischen Kontakt.
Aufgezeichnet von Jasmine Helbling:
Ich bin Architektin und Künstlerin, gehe gern zelten, reisen und Ski fahren. Philosophiere bei einem Glas Wein und erkunde die Umgebung mit meiner Kamera. Bei mir ist immer etwas los – meist mache ich 20 Sachen gleichzeitig und habe doppelt so viele Ideen. Gerade baue ich ein Haus in Kroatien um und arbeite an zwei Kunstprojekten in der Schweiz. Ich liebe den Austausch mit Freunden, aber auch neuen Bekanntschaften. Voraussetzung sind Offenheit und Interesse für den Menschen hinter der offensichtlichen Behinderung.
Ich habe Spinale Muskelatrophie, eine neuromuskuläre Erkrankung. Der Gendefekt führt dazu, dass sich meine motorischen Nervenzellen abbauen. Mein Gehirn sendet zwar Impulse, doch die kommen nur schwach oder gar nicht an. Da die Muskeln ungenügend aktiviert werden, bauen sie sich ab. Äussere Reize nehme ich normal wahr, Umarmungen, Berührungen, Wärme oder Wind.
Die täglichen Fragen
Ich sitze im Elektrorollstuhl und kann mich nur minimal bewegen. Ausserdem brauche ich ein Beatmungsgerät. Das Sprechen ist wegen der schwachen Muskulatur erschwert – in lauter Umgebung brauche ich Unterstützung, um mich verständlich zu machen. Wegen meiner Behinderung bin ich 24 Stunden auf Assistenz angewiesen. Will ich darauf reduziert werden? Sicher nicht.
Aus diesem Gefühl heraus habe ich mit der Tänzerin Andrea Frei und dem Filmer Raphael Zürcher «bewegt» geschrieben – Tanz, Theater und Film in einem. Ein Versuch, schwer Fassbares greifbar zu machen. In «bewegt» stelle ich die Fragen, die mich täglich beschäftigen:
- Wie überwinde ich Distanz ohne körperliche Nähe?
- Wie umarme ich ohne Berührungen?
- Wie bewege ich, ohne Kraft auszuüben?
Bewegung geht weit über die Körpergrenzen hinaus, ich brauche dafür weder Arme noch Beine. Mit der Tänzerin führe ich einen Diskurs über Bewegungswelten und die Grenzen der Sprache. Der Filmer zoomt heran und fängt das Unsichtbare ein. Gleichzeitig steht er für das voyeuristische Glotzen. Auf der Bühne bin ich nackt, da kehre ich mein Innerstes nach aussen.
«Früher habe ich mich unsichtbar gemacht»
Das Stück ist parallel zu meinem Masterstudium an der ETH Zürich entstanden. Als Architektin und Künstlerin jongliere ich mit Räumen – sie sind die Bühnen der Gesellschaft. Die Architektur schafft eine Kulisse, der die Kunst durch Bewegung Leben einhaucht. Mittendrin: die Zuschauer.
«Bewegt» wird am IntegrART gezeigt, einem Netzwerkprojekt des Migros Kulturprozents, das sich für die Gleichstellung von Künstlerinnen mit Behinderungen einsetzt. Diese sind auf Schweizer Bühnen noch immer selten zu sehen. Die Gesellschaft hat einen Begriff dafür, wenn Kreative mit und ohne Behinderung zusammenkommen: Inklusion. Ich habe Mühe damit, denn er macht zwei Kategorien auf: eine Norm und Menschen, die davon abweichen. Wir müssen aufhören, in Schubladen zu denken.
Früher habe ich mich oft unsichtbar gemacht. Ich blieb stumm, um anderen das unangenehme Gefühl zu ersparen, wenn sie meine Aussprache nicht verstehen. Oder wenn sie unsicher sind, wie sie mit meiner Beeinträchtigung umgehen sollen. Es frustrierte mich, meine physische Behinderung mit Worten kompensieren zu müssen. Heute habe ich den Mut, zu zeigen, was in mir drin ist und wie facettenreich unsere Gesellschaft ist.
Das IntegrART findet vom 26. Mai bis zum 6. Juni in Basel, Bern, Genf und Lugano statt.
Das Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent fördert inklusive Bühnenkunst seit 2007. «Mit Pioniergeist gestalten Künstler*innen mit und ohne Behinderungen gewohnte Ausdrucksformen neu und erweitern das Spektrum an Möglichkeiten für die Kunstschaffenden sowie für das Publikum», heisst es auf der Website. Die gesellschaftliche Utopie einer gelebten Inklusion werde auf der Bühne real.