Mehr Luft für Verschuldete
Steuern sollen nicht zu neuen Schulden führen, fand der Ständerat bereits im März. Nun ist ihm der Nationalrat gefolgt.
Veröffentlicht am 28. Mai 2024 - 11:43 Uhr
Der Ständerat hat vor etwas mehr als zwei Monaten entschieden, dass die Steuern bei der Berechnung des Existenzminimums dazugezählt werden. Nun hat am Montag auch der Nationalrat zugestimmt. Der Entscheid hat weitreichende Folgen und löst endlich ein grosses Problem von Menschen mit Schulden.
Was ist das Problem mit den Steuern und dem Existenzminimum?
Wenn sich eine Person so stark verschuldet, dass sie gepfändet wird, darf sie nur das Geld fürs Nötigste behalten. Etwa für Miete oder Krankenkasse – das sogenannte Existenzminimum. Die Steuern gehören bisher nicht dazu. Die Folge: Gepfändete können die laufenden Steuern nicht bezahlen und machen so zwangsläufig neue Schulden beim Steueramt. Ohne dass sie irgendeinen Fehler begehen. Sie geraten in eine Schuldenspirale und haben oft kaum eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen.
Ein Beispiel
Eine Person verdient 5000 Franken. Weil ihr Einkommen gepfändet wird, darf sie nur das Existenzminimum von 2200 Franken behalten, um damit ihren Grundbedarf fürs tägliche Leben, die Miete und die Krankenkasse zu bezahlen. Die restlichen 2800 Franken zieht das Betreibungsamt ein.
Auf die 5000 Franken Einkommen fallen aber auch Steuern an, sagen wir auf den Monat umgerechnet 200 Franken. Doch womit soll die Person sie bezahlen, wenn sie nur den Betrag für Grundbedarf, Miete und Krankenkasse behalten darf? Ende Jahr haben sich damit 12-mal 200 Franken an Steuerschulden aufgetürmt, macht 2400 Franken.
Was tut die Politik?
Sie versucht schon seit Jahren, das Problem zu lösen. Bisher sind aber alle Vorstösse gescheitert – aus unterschiedlichen Gründen. Doch ist es endlich gelungen, den Knopf zu lösen. Der Bundesrat hat im Herbst 2023 gesagt, dass er konkrete Vorschläge für die Umsetzung macht, wenn ihm das Parlament einen klaren politischen Auftrag erteilt. Das haben nun beide Kammern getan.
Als nächsten Schritt wird der Bundesrat nun eine Gesetzesvorlage erarbeiten.
Wie wird das Existenzminimum genau berechnet?
Das Betreibungsamt kalkuliert es individuell. Dabei stützt es sich auf die Richtlinie der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten. Folgende Positionen gehören dazu:
- Grundbetrag von 1200 Franken für Alleinstehende und 1700 für Paare – für Essen und Kleider
- Miete inklusive Nebenkosten und Heizkosten
- obligatorische Versicherungen wie obligatorische Krankenkasse
- Berufsauslagen, auswärtige Verpflegung und Fahrkosten zum Arbeitsplatz
- Unterstützungs- und Unterhaltsbeiträge
- Schulkosten der Kinder
- Auslagen für Ärztin, Zahnarzt und Medikamente
Weshalb zählen die Steuern bisher nicht dazu?
Im Gesetz steht dazu nichts Genaues. Aber das Bundesgericht hat schon mehrfach entschieden, dass die Steuern nicht zum Existenzminimum zählen. Der Grund: Man kann auch leben, wenn man keine Steuern bezahlt, es ist keine lebensnotwendige Ausgabe. Darum steht das so in den Richtlinien der Betreibungsämter.
Was sind die Überlegungen dahinter?
Erstens – wie erwähnt – dass man nicht verhungert, wenn man keine Steuern zahlt. Die Existenz ist nicht gefährdet.
Zweitens wollte man Steuerämtern nicht den Vorrang geben vor anderen Gläubigern. Denn wenn man Schulden beim Steueramt zum Existenzminimum zähle, wäre das Geld exklusiv für den Staat reserviert.
Drittens kann man nicht gut überwachen, ob die verschuldete Person das gesperrte Geld tatsächlich dem Steueramt überweist – und nicht für etwas anderes ausgibt. Bei den Krankenkassenprämien zum Beispiel muss man dem Steueramt jeden Monat die bezahlte Rechnung zeigen. Doch Steuern zahlt man meist nicht monatlich, sondern einmal im Jahr. Für dieses Problem müsste der Bundesrat in seinem Umsetzungsvorschlag eine Lösung aufzeigen.
Was ist so schlimm, wenn sich Steuerschulden auftürmen?
Für die verschuldeten Personen verlängert sich so eine Lage, die schon per se eine grosse Belastung ist. Denn wenn der Lohn gepfändet wird, muss man sich stark einschränken – alles, was ein bisschen Spass macht, wird gestrichen, etwa Ferien, Sport oder Ausflüge. Wenn dann endlich die ursprünglichen Schulden bezahlt sind, geht es gleich weiter. Dann fordert das Steueramt die laufenden Steuern, die nächste Lohnpfändung beginnt, der Geldhahn ist wieder abgedreht. So geht es Jahr für Jahr.
Viele Betroffene kommen gar nicht aus diesem Strudel raus, werden krank und geben auf. Auch für den Staat sind die Konsequenzen negativ. Ihm fehlen nicht nur die Steuereinnahmen, sondern er muss Betroffene im schlimmsten Fall finanziell unterstützen, wenn sie krank werden und nicht mehr arbeiten können.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde erstmals mit dem Entscheid des Ständerats am 13.3.2024 publiziert und nun aktualisiert. (28.5.2024)
9 Kommentare
Seit man einen Anbieter für TV und Internet haben muss, schrumpft das Existenzminimum um diesen Betrag Wer könnte zuständig sein?
Leider bin ich genau in dieser Situation, habe aufgegeben.
Guten Tag Herr Minder,
ich komme gerade auch in diese situation. Bzw. kämpfe seit mittlerweile 5 Jahren dagegen an nicht in diese situation zu kommen. War seit 2016 nicht mehr in denn Ferien, arbeite unter der Woche 100 Prozent bei einem Arbeitgeber und seit mittlerweile 3 Jahren Jeden Samstag nochmals 9h zusätzlich bei einem zweiten.
Jetzt geht es nicht mehr und die Lohnpfändung ist der nächste schritt.
Ich weiss nicht wie weiter…. Das schönste daran? Das berechnete Existenzminimum ist MEHR als das womit ich mich seit Jahren versuche durchzuschlagen.
Ich hoffe sie überstehen das. Ich hoffe auch das ich es überstehe.
Es ist nur besonders schwierig daran zu denken wieviel geld vom mittel- und unterstand genommen wird um am ende ein Bank aus den Roten Zahlen zu holen, während wir daran eingehen mit 120% Pensum zu überleben.
Miete? Krankenkasse? Schön wäre es ja schon..
Leider wird weder die Krankenkassenprämie noch der effektive Mietzins bei der "Berechnung" (man sollte es eher "Ermessenspielraum des Pfändungsbeamten" nennen) berücksichtigt. Selbst mit dem nächstmöglichen Kündigungstermin in eine günstigere Wohnung (was an sich schon zynisch genug ist) wird einem das Existenzminimum weggepfändet. Unterschiede zwischen den Kantonen und individuelle Situation des Schuldners hin oder her.
Wer überschuldet ist und trotz Arbeit nicht genug Geld hat, ist eben nicht in der Lage Kohle vorzuschiessen (z.B. um Krankenkassenprämien zu bezahlen). Da hilft es auch nicht wenn man theoretisch mit der Quittung den Betrag vom Betreibungsamt zurückfordern könnte. So sieht es jedenfalls in der Praxis aus.
Das macht mir nicht gerade Mut für meine kommende Situation xD.
Ständerat zeigt ein Herz für Verschuldete ? Das scheint mir eine zynische Formulierung. Die Korrektur bei diesem Rechtsmissstand ist seit Jahrzehnten überfällig.
Nein, nix Herz. Das führt vor allem dazu, dass die Verpfändung viel kleiner ist (s. Beispiel: statt 2'800 /Monat nur noch 400 /Monat) und damit der Verschuldete bis zum Sankt Nimmerleinstag im Schuldensumpf bleibt.
Für mich ist hier kein Missstand korrigiert. Es ist für die Betroffenen dasselbe in Grün. Nur das er sich länger mit den privaten Schuldnern herumschlagen muss und nicht mehr absehbar nur noch mit dem Staat als Schuldner. Ob das wirklich besser ist?!