Helfen statt bevormunden
Am 1. Januar 2013 wurde aus dem Vormundschafts- das Erwachsenenschutzrecht. Dahinter steht eine neue Philosophie. Ein Überblick.
aktualisiert am 8. August 2017 - 17:08 Uhr
Das Vormundschaftsrecht stammt aus dem Jahr 1912. Es befasste sich nur mit Personen, die nicht oder nur unzureichend für sich selber sorgen konnten. Interessiert hat das Gesetz deshalb vor allem die Angehörigen. Das Erwachsenenschutzrecht, das 2013 in Kraft trat, befasst sich auch mit Personen, die vielleicht irgendwann nicht mehr selber für sich selber sorgen können – also mit uns allen. Deshalb geht es auch uns alle an.
Unsere Vorväter hatten es gut gemeint. Mit dem Bild einer intakten Familie im Kopf formten sie Anfang des letzten Jahrhunderts das Vormundschaftsrecht für jene Erwachsenen, von denen sie dachten, dass sie wie Kinder auf Fürsorge und Unterstützung angewiesen seien. Insbesondere sollten jene geschützt werden, die unter «Geistesschwäche» oder an «Geisteskrankheit» litten. Dieser Schutz bedeutete im Wesentlichen den Entzug der Handlungsfähigkeit.
Weil damit aus damaliger Sicht noch nicht alle Probleme der Bürger gelöst wurden, befasste sich das Vormundschaftsrecht auch mit jenen, die durch «Trunksucht», «Verschwendung» oder «lasterhaften Lebenswandel» auffielen. Auch wer zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde, muss streng nach dem Gesetz bis zum 31. Dezember 2012 bevormundet werden. So wurden Zehntausende in den letzten 100 Jahren entmündigt und bekamen einen Vormund.
Wenn für die Entmündigung einer Person kein zureichender Grund vorlag, wurde ein Beirat eingesetzt. Und wer «bloss» infolge Abwesenheit, Unfähigkeit oder Krankheit nicht selber handeln konnte, bekam einen Beistand. In den achtziger Jahren wurde das Vormundschaftsrecht mit den Bestimmungen zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE) ergänzt. Damit wurden auf Bundesebene die kantonalen Bestimmungen für «Gesindel», «Arbeitsscheue und Liederliche» ersetzt.
Alles unter Kontrolle damit? Nein. Denn es zeigte sich je länger, je deutlicher: Der Schutz, den der Gesetzgeber den Hilfsbedürftigen geben wollte, engte diese viel zu häufig ein.
Als unsere Ur- und Ururgrossväter das Vormundschaftsrecht in Kraft setzten, haben sie nämlich nicht berücksichtigt, dass Erwachsene nicht hilflos wie kleine Kinder sind. Urteilsfähige Erwachsene können sich nämlich mögliche Ereignisse anhand der Frage «Was wäre, wenn?» vorstellen – Kinder können das nicht. Dieser kognitiven Fähigkeit soll mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht Rechnung getragen werden. Zudem macht der Gesetzgeber in jedem einzelnen der neuen Gesetzesartikel deutlich, dass Hilfsbedürftige nicht willenlose Geschöpfe sind.
Eines der Ziele der Revision ist es, das Selbstbestimmungsrecht zu fördern. Mit einem Vorsorgeauftrag kann eine handlungsfähige Person neuerdings selber bestimmen, wer im Fall der Urteilsunfähigkeit ihr Rechtsvertreter werden soll. Und mit einer Patientenverfügung kann festgelegt werden, wer im Fall der Urteilsunfähigkeit bestimmten medizinischen Massnahmen zustimmen oder nicht zustimmen darf. Ehegatten und eingetragene Partner sollen darüber hinaus Rechte erhalten, die ihnen bis anhin verweigert waren.
Im Erwachsenenschutzrecht tauchen immer wieder juristische Begriffe auf. Beobachter-Mitglieder erfahren nicht nur, was diese bedeuten, sondern auch welche Aufgaben die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) erfüllt und wie man sich mittels eines Musterbriefs gegen einen Entscheid wehren kann.
Im neuen Recht haben das Verhältnismässigkeitsprinzip und die Flexibilität einen grossen Stellenwert: Behördliche Massnahmen sind nicht mehr unflexible Beistand-, Beirat- und Vormundschaften, sondern werden individuell den Bedürfnissen der Hilfsbedürftigen angepasst. Es wird neu zwischen drei Beistandschaften und der umfassenden Beistandschaft unterschieden.
So wurden Zehntausende entmündigt und bekamen einen Vormund. Mögen sie noch so liebevoll betreut werden: Sie geniessen dort nicht immer den Schutz, den sie brauchen. Mit schriftlichen Betreuungsverträgen wird nun Transparenz geschaffen – und die Kantone werden verpflichtet, die Institutionen zu beaufsichtigen.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der alte Ausdruck «fürsorgerische Freiheitsentziehung» erinnert mehr an Strafe als an Hilfe. Der Ersatzbegriff «fürsorgerische Unterbringung» ist aber mehr als alter Wein in neuen Schläuchen. Wer wider Willen in eine Klinik eingewiesen wird, hat mehr Rechte als zuvor. Gesetzlich verankert ist das Recht darauf, eine Vertrauensperson beizuziehen, die Behörden müssen periodisch die Notwendigkeit der Hospitalisation überprüfen, und neu wird auf Bundesebene festgelegt, ob und welche Zwangsmassnahmen erlaubt sind.
Fachleute setzen einige Erwartungen ins neue Instrumentarium. «Es ist ein Gesetz, das eindeutig bei den Betroffenen ansetzt und nicht bei der Frage, was Hilfe kosten darf», sagt etwa der Jurist und Sozialarbeiter Daniel Rosch, Verfasser diverser Publikationen zum Kindes- und Erwachsenenschutz. Ihm gefällt, dass das Erwachsenenschutzrecht im Zeichen der Selbstbestimmung steht. «Es ist eine Abkehr vom paternalistisch-bevormundenden Verständnis des alten Vormundschaftsrechts. Ziel ist es, dass auch eine schutzbedürftige Person so weit als möglich selbstbestimmt leben soll.» Dementsprechend solle der Eingriff in die Rechtsstellung der betroffenen Person nur dann erfolgen, «wenn es nicht anders geht und nur dort, wo es zwingend notwendig ist».
Hilfsmittel und Infos
Handlungsfähig zu sein bedeutet, dass man selbständig Rechte ausüben und Pflichten übernehmen kann. Handlungsunfähig sind Urteilsunfähige, Minderjährige und Personen, die unter umfassender Beistandschaft stehen.
Urteilsfähig ist ein Mensch, der seine Handlungen vernunftgemäss zu beurteilen vermag. Die Urteilsfähigkeit einer Person kann dauernd oder auch nur vorübergehend fehlen. Urteilsfähig ist jede Person, der es nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände an der Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.
Die Vormundschaftsbehörden sind Geschichte. In der Deutschschweiz sassen in diesen Gremien bisher vor allem Laien, die politisch gewählt waren und keine fachlichen Vorgaben erfüllen mussten. Nun werden die heute rund 1420 Vormundschaftsbehörden im Land durch 148 Fachbehörden ersetzt, die sich interdisziplinär zusammensetzen müssen: Fachleute aus Rechtswissenschaften, Sozialarbeit, Psychologie, Medizin oder dem Treuhandwesen.
Es steht den Kantonen frei, die jeweilige Behörde auf Gemeinde-, Bezirks-, Kreis- oder Regionsebene einzurichten. Diese Behörden organisieren sich in den meisten Deutschschweizer Kantonen (inklusive Wallis) als Verwaltungsbehörden, in der Romandie (ausser Jura), in Schaffhausen und im Aargau aber als Gerichtsorganisationen. Das Tessin plant ein Familiengericht. Eine Behörde ist für das Einzugsgebiet von 50'000 bis 100'000 Einwohnern zuständig und kann sich also um mehrere Gemeinden kümmern.
Die zentrale Aufgabe einer Erwachsenenschutzbehörde ist der Schutz und die Sicherstellung einer adäquaten Unterstützung und Betreuung für hilfsbedürftige Personen. Die Behörde ernennt für die Person einen Beistand, wenn eine behördliche Massnahme nötig wird. Sie muss einschreiten, wenn einer Patientenverfügung nicht entsprochen wird, wenn die Voraussetzungen für das Vertretungsrecht nicht erfüllt sind oder wenn das Wohl von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeeinrichtungen nicht gewährleistet ist. Daneben muss die Behörde auch prüfen, ob ein Vorsorgeauftrag gültig errichtet wurde und wann er seine Wirkung entfalten kann. Darüber hinaus ist die Behörde bei fürsorgerischen Unterbringungen beteiligt und ist – wie bislang die Vormundschaftsbehörde – auch für Belange im Kindesschutz zuständig.