Als das Jucken begann, kam Andrina* oft zu spät in den Chindsgi. Abends konnte sie nicht einschlafen, nachts lag sie stundenlang wach und kratzte sich blutig. Dann stellten ihre Eltern sie unter die kalte Dusche und nahmen sie mit zu sich ins Bett. Die empfindlichsten Stellen – Ellenbogen und Kniekehlen – wurden dick mit Salbe eingestrichen und verbunden. Manchmal trug die Fünfjährige Handschuhe, weil man einem Kind nur schwer erklären kann, weshalb es sich nicht kratzen darf. «Wieso haben die anderen Kinder keinen Ausschlag?», fragte Andrina.

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Angefangen hatte alles mit leichten Rötungen an den Handgelenken.

«Wir tippten auf einen Ausschlag, aber das Jucken wurde rasant schlimmer»,

erinnert sich Sarah Wyler*, Andrinas Mutter.

Ein Kinderarzt stellte die Diagnose Neurodermitis innert kürzester Zeit. Denn die Erkrankung ist längst häufig: War in den sechziger Jahren nur jedes 30. Kind betroffen, ist es heute jedes fünfte. In 85 Prozent der Fälle zeigen sich die Symptome bereits in den ersten fünf Lebensjahren. Glücklicherweise gehen die Beschwerden bei vielen bis zum 15. Lebensjahr zurück. Im Erwachsenenalter kann es dennoch Rückfälle geben – meist an den Händen.

«Einerseits war es uns ein Trost, dass Andrina vielleicht nicht ihr ganzes Leben leiden würde», so Sarah Wyler, «anderseits wollten wir uns auch keine zehn weiteren Jahre so vorstellen.»

Den Ursachen auf der Spur

Bei einer Neurodermitis Neurodermitis Wenn die Haut rebelliert handelt es sich um eine chronische Hautentzündung, deren Veranlagung vererbt wird. Die Haut ist trocken, rau und juckt. Die Störung der Hautbarrierefunktion wird als eine wichtige Ursache angesehen, denn dadurch können selbst harmlose Umweltstoffe in die Haut eindringen. Haut- und Immunzellen reagieren darauf und lösen zur Abwehr eine Entzündung aus. Die dabei freigesetzten Abwehr- und Zellbotenstoffe können die Hautbarriere weiter schädigen. Bei jedem Schub wirken mehrere Faktoren zusammen. So kann neben Umweltfaktoren (Temperatur, Feuchtigkeit, chemische Reize, Mikroben, Allergene) auch die Psyche mitverantwortlich sein.

Da eine Neurodermitis nicht im klassischen Sinne geheilt werden kann, zielt die Behandlung auf die Linderung der Symptome. Bei der sogenannten Basispflege wird die Haut mit Fett und Feuchtigkeit versorgt und die Hautbarriere wiederhergestellt. Entzündungshemmende Therapien mindern Hautrötungen und -schwellungen sowie den Juckreiz. Da so viele verschiedene Faktoren in der Krankheitsentwicklung eine Rolle spielen, muss die Behandlung individuell festgelegt werden. Neurodermitiker dürfen und sollen ausprobieren, was ihrer Haut am besten tut.

«Wir waren dauergestresst»

Als die Erkrankung noch schwach ausgeprägt war, besuchten die Wylers eine Naturärztin. Diese arbeitete nach Rudolf Steiners anthroposophischer Lehre: Arzneimittel basieren auf natürlichen Komponenten, die die Selbstheilungskräfte des Organismus aktivieren. Die Salbe sollte Andrinas Haut beruhigen, machte das Jucken aber nur noch schlimmer.

«Mein Mann und ich waren dauergestresst – wir konnten nicht aufhören zu googeln. Vielleicht ist Neurodermitis für Eltern fast genauso schlimm wie für Kinder», so Sarah Wyler. Auf einem Höhepunkt der Krise war Andrinas Körper flammend rot. Ihr Vater rief den Notfall mitten in der Nacht an, aber die Ärzte wollten das Mädchen nicht einmal sehen. «Gebt ihr Schmerzmittel», hiess es. Doch diese nützten nichts. Andrina schrie stundenlang weiter.

Was ist Neurodermitis

Verschiedene Faktoren können die Erkrankung auslösen. Die Hornzellen der Haut und ihre Kittsubstanz aus Fetten, Eiweiss und Wasser werden defekt. Die Haut verliert so ihre Schutz- und Abwehrfunktion, entzündet sich und juckt.

Grafische Darstellung, was auf der Haut bei Neurodermitis passiert.

Infografik: Beobachter / Anne Seeger

Quelle: UNIBE, Aha

Die nächste Station war der Kinderarzt – eine Enttäuschung. «Wir hatten das Gefühl, null Unterstützung zu erhalten», erinnert sich Sarah Wyler. Der Arzt nahm sich wenig Zeit für Andrina und händigte der Familie eine Kortisonsalbe aus. Damit verschwinde das Jucken schnell. Als sich die Mutter nach einem Spezialisten erkundigte, antwortete der Mediziner etwas eingeschnappt: «Die kochen auch nur mit Wasser.» Und tatsächlich nahm sich der Spezialist zwar viel Zeit für die Untersuchung, pochte aber ebenfalls auf den Einsatz von Kortison. Damit ging Andrinas Ausschlag zwar sofort zurück, erschien nach einer Weile aber erneut – und noch viel stärker ausgeprägt.

Obwohl sich in der Forschung inzwischen viel getan hat, bleiben bei Betroffenen manchmal Bedenken gegenüber einer Kortisontherapie. Kortison ist ein körpereigenes Hormon, das den Stoffwechsel steuert und bei Stress- sowie Abwehrreaktionen eine Rolle spielt. Es unterdrückt eine überschiessende Immunreaktion des Organismus. Bei einer langfristigen Anwendung verändern sich allerdings die Hautstruktur und Kollagenfasern, die für die Hautelastizität verantwortlich sind. Die Haut wird immer dünner und spröder, verheilt schlechter und ist anfällig für Infektionen und Erkrankungen. Besonders empfindlich sind Gesicht, Décolleté, Hals und Bereiche rund um die Genitalien.

Kortison kann nützlich sein

Trotzdem sollten Eltern den Wirkstoff nicht verteufeln. «Kortison ist bei einer Neurodermitis sehr wirkungsvoll und selbst bei kleinen Kindern sinnvoll. Wichtig sind die Wahl der richtigen Wirkungsstärke und eine sorgfältige Überwachung», erklärt Dagmar Simon, leitende Dermatologin am Inselspital Bern. So darf das Medikament nur kurzfristig und im Akutfall angewendet werden. Um den Rebound-Effekt zu vermeiden, sollte der Wirkstoff nicht von einem Tag auf den anderen abgesetzt werden – der Körper würde auf den Entzug mit noch schlimmeren Entzündungen reagieren.

Es müsste eine Alternative geben, da war sich Sarah Wyler sicher. Sie pilgerte mit ihrer Tochter von Arzt zu Arzt – koste es, was es wolle. Die Zusatzversicherung für alternative Medizin übernahm einen Teil der Kosten, aber längst nicht alles. Homöopathie, Vitalstofftherapie, Stutenmilchkapseln, eine schamanische Heilerin – nichts brachte Linderung. «Ich halte das nicht mehr aus», stöhnte Andrina manchmal. Doch meistens ging sie mit, ohne zu murren. So sehr wünschte sich das Mädchen, sich nicht mehr kratzen zu müssen.

Neue Alternative zu Kortison

«Die Wirksamkeit alternativer Methoden wie Homöopathie ist zwar nicht ausgeschlossen, klinische Studien fehlen aber oft», sagt die Dermatologin Dagmar Simon. Bei 25 bis 30 Prozent der Patienten trete ein Placebo-Effekt ein. Von unnötigen Einschränkungen bei der Ernährung und ausschliesslicher Anwendung alternativer Behandlungsmethoden rät die Ärztin ab.

Hoffnung weckt ein Medikament, das letztes Jahr in der EU zugelassen wurde. Dupixent enthält den Antikörper Dupilumab, der den Rezeptor für gewisse Zellbotenstoffe blockiert. Nach einer Anfangsinjektion spritzen sich Betroffene den Wirkstoff alle zwei Wochen selbst unter die Haut. «Der Ansatz ist innovativ, und Studien zeigen ein sehr gutes Ansprechen», so Simon. Dupixent soll in der Schweiz 2019 zugelassen werden. Um die Frage zu beantworten, wie lange diese Therapie durchgeführt werden muss, sind weitere Untersuchungen nötig.

Endlich ein Lichtblick

Schon fast hatte die Familie alle Hoffnung aufgegeben, da schaffte es eine Therapeutin der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), Andrinas Beschwerden zu lindern. Aus chinesischen Kräutern stellte sie eine Mischung zusammen, die Andrina in Form von Tabletten einnehmen und als Creme auftragen sollte. «Das waren 16 grosse Tabletten am Tag – ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein kleines Kind sie schlucken könnte», so die Mutter.

Aber Andrina tat es. Tablette für Tablette, mehrere Monate lang. Weil der Leidensdruck gross war. An jedem Tag, an dem sie ihre Tabletten genommen hatte, durfte das Mädchen ein Mosaikteilchen eines Bildes ausmalen, das ihre Mutter für sie gezeichnet hatte. Für jedes vollendete Bild gab es ein kleines «Gschänkli».

Ernährungswechsel

Schlimmer als die Tabletten war für Andrina die begleitende Ernährungsumstellung. Viele Kinder mit Neurodermitis reagieren überempfindlich auf bestimmte Lebensmittel. Da nur schwer nachzuweisen ist, wodurch ein Schub ausgelöst wird, ist die «Liste der Verdächtigen» lang: Nüsse, Fisch, Fleisch, Weizenprodukte, Milch – um nur einige zu nennen. Betroffene probieren wochenweise aus, ob sich das Hautbild durch Weglassen eines Lebensmittels verbessert. Aus Sicht der traditionellen chinesischen Medizin begünstigen gewisse Lebensmittel ausserdem Feuchtigkeit und Hitze im Körper, was die Haut irritieren kann.

Andrina verzichtete deshalb auf Mehl, Milch und Zucker. Nun gab es Pancakes aus Maismehl und Reismilch zum Frühstück. Die grösste Selbstbeherrschung war nötig, wenn ein Kind Kuchen in den Kindergarten brachte. Dann musste Andrina ihr Stück nach Hause nehmen und durfte es gegen eine Playmobil-Figur eintauschen.

Bereits wenige Wochen nach Beginn der Therapie stabilisierte sich der Zustand. Die Neurodermitis heilte langsam, und Andrina konnte wieder besser schlafen. Heute sind die Symptome fast vollständig verschwunden. Nur im Winter kommen sie manchmal zurück: wegen der trockenen Luft und der Vorfreude auf Weihnachten.

 

*Namen geändert

Eine einfache Creme kann helfen

Auch Kathrin Egli* war der Verzweiflung oft nah: Ihr Sohn erkrankte als Baby an Neurodermitis und kratzte sich im Schlaf blutig. Die Ärzte empfahlen Kortison, doch die Glarnerin wehrte sich dagegen, ein kleines Kind mit derart starken Medikamenten zu behandeln. Egli stiess auf eine Selbsthilfegruppe in ihrer Region: «Das Beste, was mir passieren konnte», sagt sie. Endlich fühlte sie sich verstanden und ernst genommen. Schliesslich empfahl ihr eine der Mütter eine Creme auf natürlicher Basis. Obwohl es sich um ein Kosmetikum und kein Arzneimittel handelte, stellte der Kinderarzt ein Rezept aus. Die Salbe verhalf schnell zur Besserung – mit drei Jahren war der Kleine beinahe beschwerdefrei.

Auf der Website des Allergiezentrums Aha! tauschen die Mitglieder eines Betroffenenrats Erfahrungen aus und teilen Tipps. Eltern können sich ausserdem telefonisch beraten lassen und an Schulungen teilnehmen. 

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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