«Viele denken an Jammergruppen im Stuhlkreis»
Männer, Junge und Menschen mit Migrationshintergrund schliessen sich nur selten einer Selbsthilfegruppe an. Dabei bringt der Austausch mit anderen Betroffenen viel.
Veröffentlicht am 28. August 2020 - 11:08 Uhr
Ein Haus wird klein, wenn man es mit Dämonen teilt. Plötzlich assen auch sie am Familientisch und schliefen im Ehebett. Christine Kuhns Psychose wurde nach der Geburt der zwei Kinder schlimmer. Manchmal wollte sie mit all den Schatten, Stimmen und Sorgen gar nicht mehr leben. «Fahr mich in die Klinik», bat sie ihren Mann eines Morgens. Er zögerte nicht.
«Ich wollte meine Familie unbedingt zusammenhalten», erinnert sich Thomas Kuhn. Also hetzte er morgens zur Arbeit und stresste am Abend nach Hause. Damit er kochen, putzen und hüten konnte. «Wo isch s'Mami?», fragte die Vierjährige immer wieder. Der Bub, zwei Jahre älter, kam regelmässig zu spät zur Schule. Dass er Autist ist, wusste da noch niemand. Kuhn war ausgelaugt. «Die suchen Leute», sagte seine Schwester irgendwann und legte das Inserat einer Selbsthilfegruppe für Angehörige auf den Tisch. Mehr Worte waren nicht nötig.
Kuhn ist einer von rund 43'000 Schweizerinnen und Schweizern, die eine Selbsthilfegruppe besuchen. Einer von vielen und doch in der Unterzahl: Nur drei von zehn Teilnehmenden sind männlich. «Noch immer haben einige Männer Mühe, offen über Schwächen und Probleme zu sprechen. Schuld ist das traditionelle Rollenbild, mit dem viele aufgewachsen sind», sagt Sarah Wyss, Leiterin der Stiftung Selbsthilfe Schweiz. «Zudem denken bei Selbsthilfe viele an Jammergruppen im Stuhlkreis – eine völlig falsche Vorstellung.»
Mehr als 2500 Selbsthilfegruppen gibt es hierzulande. Die Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und wächst weiterhin stark. Und doch kämpfen einige Gruppen ums Überleben. Mehr als die Hälfte zählt weniger als zwölf Teilnehmer, bei vielen sind es nur vier bis fünf Personen. Wenn sich immer dieselben Menschen treffen, ist irgendwann alles besprochen. Diskussionen können banal werden, neue Inputs fehlen. Mitglieder zu werben, ist aber eine Herausforderung. Allein an den fehlenden Männern liegt das nicht.
Eine Studie der Selbsthilfe Schweiz hat vor drei Jahren gezeigt, wo die Knackpunkte sind: Am schwierigsten zu erreichen sind Menschen mit tiefem Bildungsstand, Personen mit Migrationshintergrund und Junge. Seither arbeitet die Stiftung daran, die Zugangshürden abzubauen.
«In der Coronakrise haben wir zum Beispiel erkannt, dass die virtuelle Selbsthilfe eine gute, niederschwellige Möglichkeit für den Erstkontakt ist. Wer weitere Betroffene zuerst online kennenlernt, geht mit weniger Hemmungen zu einem richtigen Treffen», sagt Wyss. «Zudem wollen wir verschiedene Bevölkerungsgruppen individueller ansprechen. Junge reagieren auf andere Bilder und eine modernere Sprache als Senioren.»
Mike Pennella kann nachvollziehen, dass es junge Menschen Überwindung kostet, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Der Berner war 15 Jahre alt, als ihm eine manisch-depressive Erkrankung diagnostiziert wurde. Sein Sozialpädagoge empfahl einen «Treff», richtig wohl fühlte Pennella sich aber nicht: «Die Gruppe war zu gross, und einige Teilnehmer redeten ohne Pause. Ich wusste nicht, wie ich mich hätte einbringen sollen.» Auch der Leiter war ihm unsympathisch, also liess er es bleiben. «Über Probleme zu sprechen , musste ich erst lernen. Mein Vater, ein stolzer Italiener, hätte das nie gemacht. Er ging nur zum Arzt, wenn es unbedingt sein musste.»
«In vielen Kulturen ist es nicht üblich, offen über Krankheiten zu sprechen», sagt Sarah Wyss. «Und wenn man es doch tut, will man keine Worte in einer fremden Sprache zusammensuchen.»
Für ein neues Projekt arbeitet Selbsthilfe Schweiz mit Femmes-Tische/Männer-Tische zusammen. Der Verein organisiert moderierte Gesprächsrunden, in denen sich sechs bis acht Personen in ihrer Muttersprache über Themen der Gesundheit und Erziehung austauschen. Die Idee des gemeinsamen Projekts ist es, Kompetenzen im Bereich der psychischen Gesundheit zu fördern. Ein Fokus liegt dabei auf der Selbsthilfe. «Damit soll das Selbstmanagement gestärkt und der Zugang zu einer Selbsthilfegruppe erleichtert werden. Wir hatten auch schon türkische oder tamilische Selbsthilfegruppen», so Wyss. Grundsätzlich sei es aber sinnvoll, Teilnehmende in bestehende Gruppen aus der Region einzubinden. «Menschen mit Migrationshintergrund sollen auch ausserhalb der eigenen Kulturkreise Menschen kennenlernen.»
Auch Mike Pennella hat neue Kontakte geknüpft. Vor kurzem gab er der Selbsthilfe eine zweite Chance. Über zehn Jahre später, aus eigenem Antrieb. «Es geht mir inzwischen gut. Aber mit 29 will ich mein Leben neu ausrichten», sagt er. In der Zwischenzeit wurde ihm auch Asperger diagnostiziert. Deshalb besucht er nun zwei Gruppen. «In einer sind wir zu fünft und haben viel Zeit für Gespräche. In der anderen sind wir viele, dafür kochen und essen wir nach jeder Sitzung.» Dieses Mal fühlt Pennella sich wohl, will länger bleiben. Vielleicht so lange wie Thomas Kuhn? Seit 15 Jahren ist er seiner Gruppe treu. Seine Frau ist im vergangenen Jahr gestorben, auf die Treffen möchte der 68-jährige Basler aber nicht mehr verzichten. Die Mitglieder sind gute Freunde geworden.
Die aktuelle Finanzierung der Selbsthilfe ist mangelhaft, findet die Stiftung Selbsthilfe Schweiz und setzt sich für eine Förderung auf nationaler Ebene ein. «Mehr als drei Viertel der Selbsthilfegruppen widmen sich gesundheitsrelevanten Themen und sind auch sehr wichtig für die Prävention», sagt Sarah Wyss, Leiterin der Stiftung. «Würde man sie stärker unterstützen, liessen sich hohe Gesundheitskosten einsparen.»
In Deutschland sind Krankenkassen verpflichtet, die gemeinschaftliche Selbsthilfe mit rund einem Euro pro versicherte Person zu unterstützen. Zudem wurde Selbsthilfe schon früh in der Ausbildung von Fachpersonal verankert: «Auch in der Schweiz brauchen wir Ärztinnen, Pflegefachpersonen und Psychologinnen, die das Angebot besser kennen und empfehlen», sagt Wyss.
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