So lernt Ihr Kind, mit Frustration umzugehen
Frustrationstoleranz wird den Menschen nicht in die Wiege gelegt. Diese Fähigkeit muss ein Kind im Laufe seiner Entwicklung erlernen und einüben. So können Sie Ihr Kind dabei unterstützen.
Veröffentlicht am 26. November 2019 - 15:00 Uhr
Leserfrage: «Jugendliche zeigen heute wenig Ausdauer, wenn es mal schwierig wird. Verwöhnen wir unsere Kinder zu sehr?»
Wer ein eigenständiges Erwachsenenleben führen möchte, muss auch langwierigen Aufgaben gewachsen sein. Jede Ausbildung, jeder Arbeitseinsatz verlangt Frustrationstoleranz. Die Psychologie beschreibt das als die Fähigkeit, frustrierende Erlebnisse über längere Zeit auszuhalten. Will heissen: Wenn Erwartungen oder Wünsche enttäuscht werden, sollen nicht gleich depressive oder aggressive Zustände den Menschen lahmlegen und blockieren.
«Erziehung ist keine Einbahnstrasse.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin
Ein Neugeborenes kann Frustration noch nicht tolerieren. Es gerät sehr schnell ausser sich und zeigt heftigste Emotionen, wenn seine existenziellen Bedürfnisse nach körperlichem Versorgtwerden und nach Sicherheit nicht sofort befriedigt werden. Dieser Alarm ist überlebensnotwendig: Wir spüren, hier duldet es keinen Aufschub, und kümmern uns.
16 Jahre später muss derselbe Mensch in der Lage sein, das Bett zu verlassen trotz Müdigkeit , aufmerksam zu bleiben trotz Langeweile, Aufgaben zu erledigen trotz Unlust. Und auszuhalten, dass sich das Leben uns gegenüber mehrheitlich nicht so verhält, wie wir es angenehm fänden.
In weiten Teilen eines Menschenlebens geht es darum, Unangenehmes akzeptieren zu können – und am Ball zu bleiben, auch wenn Hunger sich meldet, Handy und Netflix locken .
Der gesellschaftliche Alltag fordert von jedem gesunden Erwachsenen Frustrationstoleranz. Diese Fähigkeit muss langsam und stetig im Laufe eines Kinderlebens erlernt und eingeübt werden, damit in der Lehre oder der höheren Schule nicht Verzweiflung und Versagen drohen . Die grosse Frage ist: Wie entwickelt das Kind diese Kompetenz über die Jahre?
«Wir haben verlernt, geduldig zu sein.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin
Stabile kindliche Entwicklung braucht Führung. In der zunehmend überdrehten und unüberschaubaren Welt von heute ist starke und liebevolle Führung durch Erwachsene wichtiger denn je. Wie sieht sie aus?
In der Erziehung findet ein Grossteil dieser Führung im täglichen Zusammenleben statt. Erziehung ist aber keine Einbahnstrasse , wo eine Seite befiehlt und die andere gehorcht – sondern ein gemeinsamer Familien-Entwicklungsprozess, in dem die Eltern mit ihrer Erfahrung vorangehen und Orientierung geben. Durch das Vorbild, das sie abgeben, lernen Kinder am Modell. Sie ahmen nach, probieren aus und integrieren das, was sie erleben, schliesslich in ihre eigene Persönlichkeit.
Es gibt in der Erwachsenenwelt zum Thema Frustrationstoleranz nicht nur positive Beispiele. Die Verspätung des Zuges, der lahme Autofahrer vor uns , die Niederlage des Fussballclubs und die Schlange am Schalter: Wir haben verlernt, geduldig zu sein und auszuhalten, dass Pannen passieren, Fehler gemacht werden und die Welt generell nicht auf uns gewartet hat.
«Kinder brauchen Vorbilder, um mit Frust umgehen zu lernen.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin
«Das darf doch wohl nicht wahr sein» ist eine häufige empörte Reaktion in unserem dichten, gehetzten Alltag. Durch Wohlstand und Technologien laufen wir Gefahr, alles für machbar zu halten und davon auszugehen, dass uns eine komfortable Welt zusteht.
Wenn uns nun die Kleinen im Auto über die rote Ampel fluchen hören oder über die Zumutung, dass es regnet, lernen sie: Wir haben ein Anrecht auf Wunscherfüllung. Um aber mit Frust umgehen zu lernen , brauchen sie Vorbilder, die zeigen, dass Schwieriges, Langweiliges und Anstrengendes zum Leben gehört und bewältigt werden kann.
Ein anderer wichtiger Teil elterlicher Führung ist es, den Kindern genügend eigenen, ungestörten Raum zur Verfügung zu stellen, um Fähigkeiten zu entwickeln und zu trainieren. Das braucht Zeit und Geduld, die oft fehlen.
Ein ungestörtes Kind kann sehr ausdauernd sein, wenn es wieder und wieder versucht, den Turm aus Bauklötzen zu bauen und die Schuhe zu schnüren. Es sind die Erwachsenen, die die Geduld verlieren und «zeigen, wies geht» – oder halt Klettverschluss-Schuhe kaufen. Und die Mühe haben, die heftigen Emotionen auszuhalten, die umstürzende Türme oder Knoten im Schnürsenkel auslösen.
Unsere Kinder sind darauf angewiesen, dass wir sie schützen vor «zu viel und zu schnell». Und dass wir geduldig warten, bis es ihnen gelingt, eine Aufgabe aus eigener Kraft zu bewältigen .
Die Pubertät ist nicht nur für Teenager, sondern auch für die Eltern eine Zeit der Umbruchphase. Beobachter-Mitglieder erfahren im Merkblatt «Freiraum und Grenzen in der Pubertät», wie sie als Eltern in Konfliktsituationen reagieren oder was sie tun können, damit Regeln besser eingehalten werden.