«Schützen können Sie Ihre Nichten nicht»
Regelmässiger Kontakt, einzelne Einladungen zu Nachtessen, Tages- oder Wochenendreisen sowie ein offenes Ohr sind die wirksamsten Methoden wie man als Tante seine Nichten während der Pubertät unterstützen kann.
Veröffentlicht am 10. Februar 2023 - 18:52 Uhr
Frage einer Leserin: «Wie unterstütze ich meine Nichten während der Pubertät?»
Jugendliche und junge Erwachsene, gerade weibliche, sind immer stärker psychisch belastet. Psychiatrische Hospitalisationen junger Frauen haben um 20 Prozent zugenommen.
Die Medienberichte haben Sie alarmiert, sogar Ihren Schlaf beeinträchtigt, schreiben Sie. Sie haben drei Nichten zwischen 11 und 17 Jahren , zu denen Sie einen guten Kontakt haben. Sie haben ausführlich recherchiert, was Sie tun könnten, um die drei zu schützen. Dabei fanden Sie aber wenig handfeste Tipps.
Psychische Belastungen oder auch psychische Krankheiten gab es bei jungen Menschen schon immer besonders häufig. Die Zunahme zeichnete sich bereits in den letzten Jahrzehnten ab, aber in den vergangenen drei bis fünf Jahren hat sie sich stark beschleunigt.
«Hier wird es wie damals bei der Industrie Anpassungen brauchen – ein gesünderes Instagram oder Tiktok.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Präsident von Pro Mente Sana
In medizinischen Stationen im Spital liegt das Durchschnittsalter wohl weit über 70. Auf einer Psychiatrie-Station für Erwachsene sind die meisten zwischen 18 und 25. Psychische Belastungen oder Erkrankungen zeigen sich vor allem in Phasen von Lebensübergängen.
Zudem ist die späte Adoleszenz eine Hauptwachstumsphase für das Gehirn, und die psychische Entwicklung ist markant.
Frauen nehmen eher psychiatrische Dienste in Anspruch als Männer
Die Werte gleichen sich aber zunehmend an. Die Unterschiede sind vielleicht in den Hormonen respektive der unterschiedlichen Biologie mitgegründet, haben vielleicht auch mit Rollenerwartungen zu tun.
Sie sind aber anscheinend auch sehr in Scham und Stigma begründet, beides scheint bei Männern gut entwickelt zu sein. Junge Männer sind nicht gesünder, sie suchen sich einfach weniger Hilfe. Darum haben sie leider auch die höhere Suizidrate.
Der rasante Anstieg der letzten fünf Jahre zeigt sich fast weltweit. Er hat etwas mit Corona und den Corona-Einschränkungen zu tun, aber nicht nur. Die Raten haben ähnlich zugenommen in Ländern, die sehr weitreichende Massnahmen hatten, wie auch in Ländern fast ohne Einschränkungen.
Die hohe psychische Belastung ist eine Kehrseite der Entwicklung und des technologischen Fortschritts, ähnlich wie vor 140 Jahren die Einführung industrieller Produktionsmethoden zu Gelenk- und Rückenproblemen führte. Hier wird es wie damals bei der Industrie Anpassungen brauchen – ein gesünderes Instagram oder Tiktok .
Was kann ich Ihnen nun raten?
Schützen können Sie Ihre Nichten nicht – respektive so ein Schutz wäre nicht nachhaltig. Befähigung ist hier das Stichwort, und da haben Sie als Tante sehr wohl eine Rolle.
Eltern sind ja in dieser Lebensphase eher in einer schlechten Position, um noch viel an Lebenserfahrung, Werten und Tipps auf den Weg mitzugeben. Die Aufgabe dieser Lebensphase ist das Loslösen von den Eltern, den eigenen Lebensweg zu definieren.
Als Tante sind Sie besser positioniert. Halten Sie regelmässig Kontakt, laden Sie sie einzeln zum Nachtessen ein, machen Sie eine Tages- oder Wochenendreise, wo sich geschützte Zeit ergibt, um sich auszutauschen.
Sie haben eine wichtige Funktion als Sicherheitsnetz und als Tankstelle. Stellen Sie sicher, dass Ihre Nichten wissen, dass sie sich mit jedem noch so beschämenden Problem melden oder einfach auch mal ein Wochenende auf Besuch kommen können, wenn sie Abstand zu allem brauchen.
Jugendliche und junge Erwachsene sind mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die können sie manchmal unter Gleichaltrigen gar nicht so besprechen – auch hier spielt Scham mit.
Ich musste neulich einer Grossmutter erklären, was Ghosting ist. Der Freund ihrer Enkelin hatte diese nach vier Monaten Beziehung auf allen Kanälen blockiert – ohne irgendeine Erklärung.
Die Freundinnen der Enkelin fanden alle Ghosting zwar nicht gut, aber eben doch «modern», «es ist halt heute einfach so». Das half der jungen Frau aber nicht, mit der Hilflosigkeit, Verletzung und Wut umzugehen. Zudem wurde nicht darüber gesprochen, wie eine Beziehung auf bessere Art been-det werden könnte. Diese Diskussion konnte dann die Grossmutter ermöglichen.
Der Beobachter-Gesundheits-Newsletter. Wissen, was dem Körper guttut.
Lesenswerte Gesundheitsartikel mit einem wöchentlichen Fokusthema. Jeden Montag.