«Soll ich mein Schweigen brechen?»
Es gibt viele Gründe, warum Betroffene nicht über belastende Erfahrungen sprechen wollen. Psychologe Thomas Ihde zeigt auf, wie man die Unsicherheit durchbricht.
Veröffentlicht am 11. November 2021 - 14:53 Uhr
Frage einer Leserin: «Ich habe in meiner Kindheit sehr Schwieriges erlebt. Soll ich mit jemandem darüber sprechen?»
Besten Dank für Ihr Schreiben. Man merkt, dass es Ihnen viel Mut abverlangt hat und dass es Ihnen schwerfällt, auch nur anzudeuten, was in Ihrer Kindheit passiert ist. Dass es um Übergriffe geht, ist relativ klar. Und dass es Wunden hinterlassen hat, die nur oberflächlich abgeheilt sind, ebenso.
Leichter fällt es Ihnen, über das Schöne zu schreiben – Ihre Familiengründung, Ihren Beruf, die Vereinsaktivitäten, die Enkelkinder. Jetzt, wo es ruhiger geworden ist in Ihrem Leben und Sie als Witwe mehr Zeit allein verbringen, scheinen die Erinnerungen präsenter. Ab und zu überkommt es Sie einfach. Wie neulich, als Sie auf einer Parkbank am See sassen und eine Stunde lang still vor sich hin weinten.
Zigmal waren Sie schon kurz davor, jemandem zu erzählen, was damals passierte, doch jedes Mal verlässt Sie der Mut. Einerseits sind Sie diejenige, die gut ist im Zuhören und im Trostspenden. Anderseits fürchten Sie die Reaktion des Gegenübers. Selbst bei Ihrer besten Freundin haben Sie Angst, auf Ablehnung zu stossen. Und dann ist da noch eine andere Angst, die Angst, den Boden unter den Füssen zu verlieren.
Ich habe viele Menschen wie Sie begleitet. Menschen, die sehr Schwieriges erlebt haben und es über Jahrzehnte als Geheimnis mit sich getragen haben. Für die meisten war es ein mehrfaches Leiden. Das Erlebte war meist sehr schmerzhaft. Viele erzählen, dass bei den Übergriffen etwas tief in ihnen wie abgestorben sei und dass das Urvertrauen in die Welt und vor allem in sich selbst seither brüchig sei. Die Last des Geheimnis-Tragens wurde mit der Zeit immer grösser – häufig dann, wenn es ruhiger wurde im Leben. Gerade wenn man die Parkbank am See geniessen könnte. Das Geheimnis machte aber vor allem sehr einsam.
«Menschen, die beginnen, ihre schwierigen Erlebnisse zu erzählen, sind oft erstaunt, wie viele Menschen es gibt, die ebenfalls Schwieriges erlebt haben.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Die meisten waren überrascht, was passierte, als sie sich öffneten. Die Leute in ihrem Umfeld reagieren oft viel positiver als erwartet. Und wenn die Reaktion nicht so positiv ist, ist es meist Hilflosigkeit. Gerüttelt hat es bei den meisten. Teilweise sehr. Es ist, wie wenn man einen grossen Stein in den See wirft. Am Anfang sind die Ringelwellen hoch, dann wird es ruhiger. Verändert hat sich oft vor allem diese tiefe innere Einsamkeit .
Starten Sie einen Versuchsballon. Eine Frau in einer ähnlichen Situation machte es folgendermassen: Sie erzählte ihrer Freundin, dass sie mit einer alten Schulkollegin telefoniert habe, und diese habe ihr dann erzählt, was ihr in der Kindheit passiert sei. Diese Schulkollegin gab es nicht, die Frau erzählte eigentlich ihre eigene Geschichte. Das hatte zwei Vorteile. Sie konnte abschätzen, wie die Freundin reagiert. Die Freundin reagierte sehr unterstützend, machte den Vorschlag, dass sie doch gemeinsam Konfekt backen und der Schulkameradin schicken könnten, als moralische Unterstützung.
Der Haupteffekt war aber ein anderer. Es fiel der Frau leichter, die Sache mit etwas mehr Distanz zu erzählen – als wäre es nicht ihr passiert. Ein paar Tage später hat sie ihrer Freundin erzählt, was wirklich war. Die Freundin hatte volles Verständnis für die Art, wie sie das schwierige Thema angegangen war.
Ein tiefer Teil in Ihnen hat das Gefühl, dass Sie ganz allein seien mit Ihrer Geschichte. Menschen, die beginnen, ihre schwierigen Erlebnisse zu erzählen, sind oft erstaunt, wie viele Menschen es gibt, die ebenfalls Schwieriges erlebt haben – vielleicht in einem anderen Bereich, vielleicht mit einem anderen Thema. Und doch entsteht plötzlich Verbindung, wo vorher nur Einsamkeit war. Das ist Balsam für unsere Psyche.
Unterstützung darf sein. Die Aufgabe, die vor Ihnen steht, ist keine einfache. Ihre Angst, den Boden unter den Füssen zu verlieren, ist nicht aus der Luft gegriffen. Deshalb kann es sehr sinnvoll sein, das nicht allein anzugehen. Sie waren als Kind allein und ohne Unterstützung, jetzt darf es anders sein. Suchen Sie sich eine Psychotherapeutin . Sie ist geschult darin, mit Ihnen ein Sicherheitsnetz aufzubauen. In einer Physiotherapie trainiert man Muskeln, damit man weniger stürzt. In einer Psychotherapie, in der es um ein Trauma geht, ist es ähnlich, aber eben im emotionalen Bereich. Sie wird Sie behutsam erzählen lassen, aber eben auch darauf achten, dass Sie nicht den Boden unter den Füssen verlieren. Sie wird mit Ihnen immer wieder Übungen machen, die einem verdeutlichen, dass fester Boden unter den Füssen da ist. Auch wenn es schwierig ist und innerlich rüttelt.
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