«Wir brauchen Zonen ohne Wettkampf»
Vom Beruf übers Aussehen bis zum Kindergeburtstag: Der ständige Kampf um sozialen Status schadet uns, sagt Psychiater Gregor Hasler.
Veröffentlicht am 6. Dezember 2018 - 19:20 Uhr,
aktualisiert am 6. Dezember 2018 - 15:08 Uhr
Beobachter: Sie haben sich als Stressforscher mit Resilienz befasst und wissen, worauf es dabei ankommt. Wie resilient sind Sie?
Gregor Hasler: Ich bin sicher nicht die resilienteste Person. Deshalb setze ich mich auch so intensiv mit dem Thema auseinander.
Forschung als Selbsttherapie?
Ja, sozusagen.
Sie haben also Situationen erlebt, mit denen Sie nicht gut umgehen konnten?
Ich habe schon schwerwiegende Sachen erlebt. In Brasilien wurde ich von einem englischen Touristen auf Kokain niedergeschlagen und wäre fast gestorben. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich überlebte nur, weil eine Gruppe Einheimischer mir half. Das zeigte mir, wie wichtig andere Menschen sind. Und wie schädlich es sein kann, wenn sich jeder nur auf sich konzentriert.
Es heisst doch, was einen nicht umbringt, mache einen stärker. Humbug?
Ja. Es ist eindeutig gesünder, wenn man nicht ständig schlimme Dinge erlebt.
«Wir haben mehr Freizeit denn je. Trotzdem leiden immer mehr Leute unter Stress.»
Gregor Hasler, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie
Offenbar steht es eher schlecht um die Resilienz. In Ihrem Buch schreiben Sie von einer «Resilienzkrise». Woran machen Sie das fest?
Der Stress nimmt ab. Wir haben heute mehr Freizeit denn je und bei der Arbeit weniger Zeitdruck. Zudem gibt es weniger soziale Diskriminierung. Trotzdem zeigen Befragungen, dass immer mehr Leute unter Stress und sozialer Diskriminierung leiden
.
Warum?
Wir haben ein Stresssystem und ein Belohnungssystem, die zwei sind Gegenspieler. Das Belohnungssystem ist stark mit Sinngebung verknüpft. Wir haben das bei Kriegsveteranen untersucht: Soldaten, die das Gefühl haben, sie kämpfen für die richtige Sache, sind sehr resilient. Solche, die den Krieg als sinnlos erleben, entwickeln hingegen viel eher psychische Krankheiten. Heute fehlen grosse Sinngeber wie etwa die Religion oder klare soziale Strukturen. Wir müssen uns den Lebenssinn selber erkämpfen.
Sie machen die moderne Gesellschaft mit ihrem Individualismus und ihrem Leistungsdenken verantwortlich für die Resilienzkrise. Zurück in die Höhle?
In der Steinzeit war nicht alles besser, aber es gab eindeutig weniger Ungleichheit. Die ist heute etwa in Bezug auf das Vermögen grösser denn je. Doch unser Gehirn ist nicht für diese Ungleichheit geschaffen, obwohl sie enorme Vorteile hat. Sie motiviert Menschen, sich hochzuarbeiten. Nicht gesund ist aber der ständige Kampf um sozialen Status, der sich durch sämtliche Lebensbereiche zieht, vom Berufsabschluss übers Aussehen bis hin zum Kindergeburtstag.
Eigentlich müsste das dazu führen, dass man lernt, mit Niederlagen umzugehen.
Grundsätzlich ja, aber wir übertreiben es. Wir sind dem Wettbewerb permanent ausgesetzt
. Deshalb empfehle ich jedem, in seinem Leben wettkampffreie Zonen einzubauen und sich für gewisse Bereiche einfach einzugestehen: Da muss ich nicht der Beste sein.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Einkommensunterschiede von einem Prozent zu einem Resilienzverlust im gleichen Umfang führen. Wie kommen Sie darauf?
Das sind Resultate aus der Glücksforschung
. Dort misst man positive Gefühle und sieht diesen klaren Zusammenhang. Resilienz wiederum gründet stark auf positiven Gefühlen, man kann das gleichsetzen.
Resilienz ist also käuflich?
Es geht um relative Unterschiede. Sie können reich sein, aber trotzdem unglücklich, weil Sie sich mit noch Reicheren vergleichen. Das Wichtigste für die Resilienz sind soziale Beziehungen, Einbindung in ein Netzwerk. Wenn Sie reich sind, ist das einfacher. Sie können Partys schmeissen oder einen Fussballclub sponsern. Das stärkt die Resilienz, weil man lokal verankert ist, Kontakt hat mit Leuten, die in der Nähe wohnen.
Studien zeigen, dass in Kantonen mit eher schwachen direktdemokratischen Rechten auch die Lebenszufriedenheit – und damit die Resilienz – eher schwach ist. Wie ist das zu erklären?
Im Grunde geht es da ebenfalls um die sozialen Beziehungen und das Gefühl, mitwirken zu können. Es gibt eine Tendenz, Verantwortung an Experten zu delegieren. Die lokalen Bindungen werden so entwertet. Ein Beispiel sind die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden: Früher mussten die Gemeindevertreter mit schwierigen Leuten umgehen, heute sind es Experten von ausserhalb.
Aber das ist ja in allen Kantonen so.
Schon, aber in der Innerschweiz und im Appenzell, wo die Resilienz am stärksten ist, ist die geografische Nähe grösser, der Beamte kommt vielleicht aus dem Nachbardorf. Genf ist zwar auch klein, wird aber sehr zentralistisch regiert.
Das sind sehr soziologische Argumente für einen Psychiater.
Mit Therapien, die sich nur auf die eigene Psyche beziehen, kommt man heute nicht mehr weiter. Einem Manager mit Burn-out kann ich nicht raten, auf die innere Stimme zu hören und regelmässig zu joggen
. Er tut das längst. Seine Probleme haben gesellschaftliche Ursachen. Das heisst aber nicht, dass man selber nichts ändern kann, gerade wenn es um die lokale Verwurzelung geht. Ich bin selber von den USA zurück in die Schweiz gezogen, weil ich die wichtigsten Menschen in der Nähe haben muss, um glücklich zu sein.
Was kann man tun, um Stress zu reduzieren und die Resilienz zu fördern?
Soziale Beziehungen sind zentral, aber es müssen die richtigen sein. Kontakte über soziale Medien
sind zwar inspirierend, können aber persönliche Beziehungen nicht ersetzen. Zudem sollte man so oft wie möglich den Flow anstreben. Sie kennen sicher das Gefühl, wenn man total in eine Tätigkeit versunken ist und die Aussenwelt gar nicht mehr wahrnimmt, wenn man völlig im Moment aufgeht. Das ist damit gemeint.
Infografik: Wer kann Krisen bewältigen?
zur Person
Wie ist es um ihre Resilienzfähigkeit bestellt? Machen Sie hier den Selbsttest.
- Teil 1: Ruedi Bühler (49): Er lebt weiter – trotz schlimmem Verlust
- Teil 2: Sarankan Mahendran (17): Er hat Ehrgeiz im Beruf – trotz schwierigem Start
- Teil 3: Dominique Gisin (33): Sie war immer wieder verletzt – und holte Gold
Diese Porträtserie ist im Rahmen der Beobachter-Titelgeschichte «Resilienz – was uns psychisch stark macht» erschienen.