Hoffentlich funktionieren die Bremsen
Die Rhätische Bahn kämpft mit grossen Sicherheitsproblemen. Das zeigen interne Dokumente, die dem Beobachter vorliegen.
aktualisiert am 20. November 2012 - 14:49 Uhr
Der Himmel ist meist blau, die Viadukte sind kühn geschwungen, die Züge knallrot: Die Rhätische Bahn (RhB) hat keine Mühe, eindrückliche Bilder für ihre Werbebroschüren aufzutreiben. Ebenso eindrücklich sind ihre Zahlen: Rund zehn Millionen Passagiere transportiert sie jährlich auf ihrem Streckennetz von 384 Kilometern Länge, das gespickt ist mit 115 Tunnels und 592 Brücken.
Was die RhB aber lieber nicht an die grosse Glocke hängt: Sie hat ein Sicherheitsproblem. Denn seit sie 2010 begonnen hat, auf Weisung des Bundesamts für Verkehr ihre Züge mit leiseren Bremsen auszurüsten, steht es um die Bremsfähigkeit der Züge schlecht – vor allem im Winter und vor allem auf der Strecke von Chur nach Arosa und über den Bernina, die höchste Bahn-Alpentransversale, eine der steilsten Bahnstrecken ohne Zahnradbetrieb der Welt, mit einem Gefälle von zeitweise drastischen 70 Promille.
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt die Schilderung eines RhB-Lokführers, der ungenannt bleiben will: «Man fährt eine Strecke hinab, bedient die Bremse, spürt, dass sie am Anschlag ist – und trotzdem bremst der Zug nicht wie gewünscht.» Man werde zwar nicht schneller, könne den Zug jedoch nicht innerhalb eines tolerierbaren Bremswegs zum Stillstand bringen. «Das ist kein gutes Gefühl mehr.»
Das Zugpersonal der RhB gibt sich Medien gegenüber wortkarg; niemand will seinen Namen lesen in einem Artikel über die Bahn, die mit gut 1400 Angestellten zu den grössten Arbeitgebern im Kanton Graubünden gehört. Dem Beobachter liegen jedoch Dokumente vor, die zeigen, dass die Bremsen der knallroten Züge betriebsintern weit mehr Leute beschäftigen als bloss ein paar vereinzelte Lokführer. So erschien im April dieses Jahres im offiziellen Informationsorgan «Info Lokpersonal» ein Editorial, dem das Aufatmen über das Ende des Winters geradezu anzuhören ist: «Frühlingserwachen, [...]es wird spürbar wärmer. Mit den wärmer werdenden Temperaturen wird für den Lokführer, fachtechnisch betrachtet, aber auch die Zuverlässigkeit der Bremsen erhöht.» Was im Umkehrschluss nichts anderes heisst als: je kälter, desto unzuverlässiger die Bremsen. In derselben Ausgabe ist denn auch die Rede von «akuten Bremsproblemen im letzten Winter». Die «verantwortliche Abteilung Rollmaterial» habe daher angeordnet, «dass alle Komponenten unseres Bremssystems untersucht werden sollen».
Doch der vergangene Winter war nicht der erste, in dem die Rhätische Bahn mit unzuverlässigen Bremsen zu kämpfen hatte. Bereits in einem Protokoll des Geschäftsbereichs Produktion vom 19. Januar 2011 ist von einer Diskussion über «Massnahmen zur Verbesserung der Bremssituation auf der Arosabahn» die Rede. Es wurden «Bremsversuche bei sehr kalten Temperaturen und tiefen Geschwindigkeiten» beschlossen, da die Störungsursache nicht eindeutig sei. Im Februar 2011, so geht aus einem weiteren Protokoll hervor, liess die RhB in den Führerständen ein Formular auflegen, «auf dem die Lokführer die Möglichkeit haben, ihre Feststellungen in kurzen Worten zu schildern». Der Grund: Die Bahn wollte «speziell von den Frühzügen auf der Arosalinie gewisse Detailinformationen bezüglich der Bremswirkung, Bremsdaten, Motorenströme etc.» erheben. Testfahrten also – mit regulär verkehrenden Passagierzügen notabene.
Die Detailinformationen der Lokführer scheinen nicht weitergeholfen zu haben. Im Winter darauf jedenfalls stand es um die Bremsen nicht besser. Das «Info Lokpersonal» kündigt Ende 2011 nach dem Einbau neuer Bremsklötze an: «Um weitere Rückschlüsse auf die Wintertauglichkeit dieser Bremssohlen zu erhalten, werden ab ca. Woche 51 auf der Strecke Chur–Arosa Bremsversuche durchgeführt.» Gegen Ende des Winters 2012 stellte das «Info Lokpersonal» fest, dass die lärmsanierten Bahnwagen des Typs EW I und EW II «aufgrund der Störungsauffälligkeit besonders auffallen». Die Techniker der RhB hatten nun vor allem die Bremsventile im Visier. Als Sofortmassnahme liessen sie exponierte Bremsventile an den Wagen besser isolieren und beheizen – in der Hoffnung, die extreme Kälte im Gebirge könne ihnen so nichts mehr anhaben.
Vor den Schwierigkeiten mit den Bremsen sind auch die 15 «Allegra»-Triebzüge nicht ausgenommen. Die RhB nahm sie 2010 in Betrieb, lässt sie unter anderem zwischen Chur und Arosa und auf der Berninalinie verkehren und bezeichnet sie gerne als «Paradepferde der RhB». Doch die Paradepferde haben ein Problem: «Flugschnee lagert sich zwischen Klotz und Rad an und vermindert die pneumatische Bremswirkung stark», heisst es in einer Aktennotiz vom 12. Januar 2012. Lokführer werden daher angehalten, während der Fahrt die Bremsen stets leicht zu bedienen, damit die Bremsflächen sauber bleiben. Der Jahresbericht 2011 der Personalkommission Technik vermerkt kopfschüttelnd: «Die modernen Fahrzeuge reagieren immer sensibler auf die bei einer Gebirgsbahn unvermeidlichen Witterungseinflüsse…»
Trotz Unsicherheiten und zahlreichen Tests haben die Verantwortlichen der RhB die Züge fahren lassen, als sei alles ganz normal – wie eine Beobachter-Nachfrage ergibt, weiss nicht einmal das Bundesamt für Verkehr über die Bremsprobleme Bescheid*.
Aus Sicht der Rhätischen Bahn gibt es diese auch gar nicht. «Ein sicherer Betrieb war immer gewährleistet», sagt RhB-Sprecher Peider Härtli. Was aber auch er einräumen muss: 2010 waren «an bestimmten Tagen Wagen mit unbefriedigenden Bremsleistungen» auf der Strecke Chur–Arosa unterwegs. Die lärmarmen Bremssohlen, mit denen die Wagen ausgerüstet worden seien, seien zwar ausführlich getestet worden – doch die Verhältnisse in Arosa, wo die Strecke vom Bahnhof direkt in ein Gefälle übergeht, seien eben besonders. Zudem seien einzelne Bremskomponenten eingesetzt worden, die sich als «nicht genügend wintertauglich» erwiesen hätten. Aber: «Unmittelbar nach der Eingrenzung des Problems wurden die Bremssohlen wieder auf den alten Typ zurückgewechselt.» Diese seien dann auch im Winter 2011/2012 im Einsatz gewesen.
Für den kommenden Winter bestätigt Härtli den Einbau neuer Bremsklötze, in denen die heiklen Teile der Bremsausrüstung beheizt würden. «Diesen Winter sind die Bremsprobleme gelöst», verspricht er. «Wir fahren mit den sicheren alten Bremssohlen, bis der Wechsel auf die ganz neuen Sohlen vollzogen ist.» Das Hin und Her mit den Bremsklötzen erklärt Peider Härtli mit den «geographischen und klimatischen Bedingungen». «Technische Lösungen, die bei anderen Bahnen Standard sind, können sich bei der RhB als nicht tauglich erweisen.» Die Behebung von Bremsproblemen werde in allen Abteilungen mit höchster Priorität verfolgt, notwendige Investitionen unbürokratisch bewilligt.
Die Bremsen sind jedoch nicht das einzige Sicherheitsproblem, auf das die RhB diesen Winter ein Auge haben wird. Ein anderes sind die Lawinenhänge: Im vergangenen Februar entgleiste auf der Albulastrecke zwischen Filisur und Samedan der erste Morgenzug, nachdem er auf einen Schneerutsch aufgefahren war. Der Unfall lief glimpflich ab, niemand wurde verletzt, nach einigen Stunden gab die Bahn die Strecke wieder frei. Während eines Monats ordnete die RhB «Fahrt auf Sicht» an – was bedeutet, dass die Lokführer nur so schnell fahren dürfen, dass sie im Fall eines Lawinenniedergangs sofort bremsen könnten; faktisch bedeutet das Schritttempo. Ein Lokführer berichtet von einem Schneerutsch, den er durch langwieriges Vorwärts- und Rückwärtsfahren von den Gleisen habe schieben müssen. Ein anderer sagt: «Was mich damals am meisten störte, war die Tatsache, dass ja mit Nassschneerutschen gerechnet wurde. Wer aber garantiert denn, dass so ein Rutsch vor oder hinter einem Zug niedergehen würde? Was, wenn ein Zug direkt getroffen würde?»
Die Fahrt durch Lawinenhänge sorgte gemäss einem Insider im vergangenen Winter für Unmut unter den Lokführern. Im Protokoll einer Sitzung des Lokpersonal-Ausschusses der Personalkommission heisst es: «Als Beispiel wird eine Strassensperrung bei Disentis über die Festtage erwähnt, während der bei der RhB im gleichen Lawineneinzugsgebiet die Strecke offen war. […] Weshalb kann die Bahn offen sein, wenn gleichenorts die Strasse gesperrt ist?» Laut Protokoll fiel die Rückmeldung der RhB lapidar aus: Sie wolle «die Zusammenarbeit mit dem Kanton» intensivieren. Nach einem durchdachten Lawinenkonzept klingt das nicht gerade.
RhB-Sprecher Peider Härtli widerspricht dieser Darstellung: «Wir sind in engem Kontakt mit dem Lawineninstitut in Davos, den kantonalen Stellen und den lokalen Forstämtern und lassen die Strecken regelmässig auf ihre Sicherheit überprüfen.» Die Bahnstrecke bei Disentis sei offen geblieben, weil sie im Gegensatz zur Strasse über ein Frühwarnsystem verfüge. «Eine drohende Lawine löst sofort ein Haltesignal in Haltedistanz zur kritischen Stelle aus, der Zug kann so nicht von einer Lawine erfasst werden», sagt er. Die Strecke sei sicher – und alle übrigen kritischen Stellen des RhB-Netzes seien durch Galerien, Tunnels sowie Lawinen- und Steinschlagvorrichtungen geschützt.
Doch es gibt noch weitere offene Sicherheitsfragen. Noch immer verkehren auf dem Netz Bahnwagen ohne automatisches Türschliesssystem. Der Lokführer kann die Türen nicht verriegeln – sie lassen sich auch während der Fahrt öffnen. Dass diese Wagen nur für begleitete Züge eingesetzt werden, nützt wenig; ein Zugbegleiter kann unmöglich alle Türen im Auge behalten. Laut Lokführern kommt es immer wieder zu Beinahe-Unfällen, weil Passagiere die Wagen in Bahnhöfen auf der falschen Seite verlassen und dabei auf ein befahrenes Nachbargleis geraten. RhB-Sprecher Härtli relativiert das Problem: Diese Wagen würden nur noch in «Ausnahmesituationen» eingesetzt, etwa zur Abdeckung an Spitzenverkehrstagen. Ihre Ausmusterung sei für die Jahre 2016 und 2017 geplant.
Unterschiedlich gehandhabt wird bei der RhB offenbar auch die Erteilung der Abfahrerlaubnis für Züge, die einen Bahnhof verlassen. Das Bundesamt für Verkehr schreibt vor, dass die Zugbegleiter einen auf dem Perron angebrachten Abfertigungskasten bedienen müssen, wenn ihr Zug aus ihrer Sicht abfahrbereit ist. Die Abfahrerlaubnis an den Lokführer können sie so nur erteilen, wenn das Ausfahrsignal aus dem Bahnhof freigeschaltet ist. Häufig kommt es aber zu sogenannten Aussenabfertigungen – eigentlich nur in Ausnahmesituationen gestattet: Zugbegleiter erlauben die Weiterfahrt per Handzeichen. Das führte Anfang 2011 dazu, dass im Bahnhof von St. Moritz zwei Züge gleichzeitig losfuhren und ein Unfall nur verhindert werden konnte, weil einer der Lokführer merkte, dass er auf dasselbe Gleis zusteuerte wie der andere.
RhB-Sprecher Peider Härtli räumt ein, dass es zu Aussenabfertigungen kommt. Diese würden im Nachgang aber immer einzeln untersucht, und vor allem: «Sie sind äusserst selten.» Ein Protokoll des Geschäftsbereichs Produktion vom März 2012, das unsichere Handlungen wie Aussenabfertigungen thematisiert, hält zu diesen jedoch fest: «In Bezug auf Arbeitssicherheit und betriebliche Sicherheit sind wir sehr schlecht unterwegs.»
Die Angestellten der Rhätischen Bahn nehmen die Sicherheitsprobleme wahr und melden sie weiter – sie machen gleichzeitig aber auch die Faust im Sack. Betroffene reden von einer «Angstkultur», davon, dass es besser sei, bei der Chefetage möglichst nicht aufzufallen. Dabei hat die RhB eigentlich einen Wertekatalog aufgestellt. «Eine Kultur des Vertrauens und des ständigen Lernens ermöglicht uns, aus Fehlern zu lernen», heisst es darin, und: «Schwierige Situationen thematisieren wir offen, sprechen Konflikte an und entwickeln Lösungen.» Doch davon sei wenig zu spüren, sagt ein Lokführer. «Man spricht von Feedback, doch wer Feedback gibt und den Finger auf wunde Punkte hält, der handelt sich nur Ärger ein.» Ein grosser Teil des Personals habe daher resigniert.
Diese Resignation zeigt sich auch darin, dass nicht einmal die Personalkommission genau weiss, was die Angestellten umtreibt. «Wir wissen, dass es einige Brandherde gibt», schrieb sie Anfang Jahr in einem Aufruf unter dem Titel «Angstkultur?». Die Kommission bat die Belegschaft um Hinweise zum Arbeitsklima –mit beinahe flehenden Worten: «Es bringt weder dem Unternehmen noch Euch etwas, wenn Ihr die Faust im Sack macht und mit niemandem darüber redet!»
*Bundesamt weiss doch Bescheid
Die Verantwortlichen der RhB wiesen den Vorwurf zurück, sie hätten das Bundesamt für Verkehr (BAV) nicht informiert. Bei erneuter Nachfrage korrigierte das BAV tatsächlich seine erste Darstellung: Es wisse seit Frühling von den Bremsproblemen – die Antwort auf die Beobachter-Anfrage sei wegen «nicht optimaler interner Informationsflüsse» nicht vollständig gewesen. Markus Föhn
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