Die Ausnahme
Mehr als die Hälfte der Studierenden sind Frauen, doch nur wenige schaffen es bis zur Professorin. Woran liegt das? Zwei Professorinnen erzählen über ihre Erfahrungen auf der Karriereleiter.
Veröffentlicht am 19. Juni 2020 - 15:38 Uhr
Schon mit 15 wusste sie, dass sie Professorin werden wollte. Dabei war nicht einmal klar, dass sie überhaupt ins Gymnasium durfte. Sie musste sich das erkämpfen, ihre Lehrer und eine Tante mussten die Eltern erst überzeugen. Das hat Elsbeth Stern geprägt: «Ich wusste mein Leben lang: Ich kann mich vor allem auf mich selber verlassen. Das war auch ein Vorteil. Ich habe nie erwartet, dass mich jemand unterstützt, und ich wusste immer: Ich muss gut sein, um etwas zu erreichen. Und ich muss für das kämpfen, was mir wichtig ist.»
Seit 2006 ist Stern ordentliche Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich und leitet das Institut für Verhaltenswissenschaften. Ihr Ziel hatte sie aber schon vorher erreicht. Mit der Habilitation über das mathematische Verständnis bei Kindern wurde sie 1994 Professorin für pädagogische Psychologie an der Uni Leipzig, mit 36. «Ich hatte Glück. Mit der deutschen Wiedervereinigung wurden im Osten neue Professuren geschaffen, sonst hätte ich es vielleicht nicht so früh geschafft.»
Als junge Forscherin habe sie geglaubt, allein Leistung entscheide über den Karriereerfolg. Heute sieht sie das anders: «Bei Stellenvergaben, insbesondere bei gut ausgestatteten Professuren, sind Frauen noch immer im Nachteil. Ihre Leistung wird oft kleingeredet. Auch vom Charakter her wird eine Frau schneller als ungeeignet abgetan. Wenn eine Frau wütend und laut wird, gilt sie als hysterisch und schwierig. Tut ein Mann dasselbe, ist er durchsetzungsstark und kompetent. Einer Frau wird nur selten zugestanden, dass sie wissenschaftlich exzellent und auch persönlich geeignet ist für eine Position als Professorin.» Stereotypen , die laut Stern nicht nur Männer, sondern auch Frauen teilen.
Schlechter qualifizierte Männer wurden ihr vorgezogen – diese Erfahrung machte sie wiederholt, als sie sich von Leipzig aus bewarb. Einmal habe sie als einzige Bewerberin eine Publikation in einem der angesehensten internationalen Fachmagazine vorweisen können. Bei der Absage teilte man ihr mit: In einem solchen Magazin müsse man mehrmals publiziert haben, um wirklich gut zu sein. Der Mann, der die Stelle bekam, hatte nicht eine einzige internationale Publikation vorzuweisen.
In der Schweiz sind Frauen auf allen Stufen der wissenschaftlichen Karriereleiter untervertreten. Das Land steht in vielem noch unterhalb des europäischen Durchschnitts, hat das Bundesamt für Statistik 2019 festgestellt.
Dabei waren schon vor vier Jahren 51 Prozent der Studierenden Frauen, beim Abschluss von Bachelor oder Master sind es sogar 54 Prozent.
Trotzdem fällt es Frauen schwer, Schlüsselfunktionen in der Forschung zu erreichen. Je höher man akademisch aufsteigt, desto niedriger ist der Frauenanteil . Bei den Professuren lag er vor zwei Jahren bei 23 Prozent; in Sozial-, Geisteswissenschaften und Tiermedizin etwas höher, in Medizin, technischen und Naturwissenschaften dagegen deutlich tiefer.
«Für junge Frauen kann es entmutigend sein, solche Zahlen zu sehen und zu hören, für Frauen sei es schwieriger, es ganz an die Spitze zu schaffen», sagt Anna Garry. Die Politikwissenschaftlerin kam vor neun Jahren an die ETH und half mit, das ETH Women Professors Forum auf die Beine zu stellen.
Vor kurzem hat sie ein Buch über den Werdegang von Professorinnen veröffentlicht. «Ich wollte zeigen, wie menschlich sie sind, wie sie schwierige Situationen meisterten und was für sie auf ihrem Weg wichtig war», sagt Garry.
Wie steinig der Weg zur Professur für eine Frau ist, habe sie bei ihren Interviews nicht sehr oft gehört. «Die meisten fokussierten darauf, wie sehr sie ihre Forschung lieben.» Nur ganz wenige hatten das feste Ziel vor Augen, Professorin zu werden. «Die meisten wollten einfach unbedingt Antworten auf ihre Forschungsfragen finden – und fanden dann einen Weg, den jeweils nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu machen.»
Interesse und eine gewisse Hartnäckigkeit seien entscheidend. Und man dürfe sich bei Schwierigkeiten nicht gleich entmutigen lassen. Für viele sei wichtig, dass ihr Partner verstehe, wie wichtig die Arbeit für sie ist, und bei der Kinderbetreuung mit anpackt. Wichtig seien auch Mentoren, die Kontakte vermittelten und ermutigten.
«Man tut gern so, als sei wissenschaftliche Leistung ganz objektiv messbar.»
Elsbeth Stern, ETH-Professorin
«Mich haben eigentlich immer Männer gerettet, die kein persönliches Interesse daran hatten, einen anderen Mann durchzuboxen», sagt Elsbeth Stern. Es könne Frauen zugutekommen, wenn bei Berufungen die letzte Entscheidung beim Präsidenten einer Hochschule liege, wie etwa an der ETH. Als Person mit relativ objektivem Blick verfolge er keine persönlichen kollegialen Interessen, sondern entscheide anhand der Gesamtleistung einer Person.
«Man tut immer gern so, als sei wissenschaftliche Leistung eine ganz objektiv messbare Sache – wie bei einem Langstreckenläufer die Zeit. Aber das ist nicht so», sagt Stern. Bei der Besetzung einer Professur oder der Vergabe eines wichtigen Preises gehe es natürlich darum, wie viel und wo jemand publiziert habe, wie originell die Arbeiten sind, wie oft man zitiert werde. «Niemand kann in allem top sein. Ich habe immer wieder erlebt, dass jeweils das Kriterium am stärksten gewichtet wird, das für den Mann spricht, den man haben will, und bei dem die Frau schlechter abschneidet.»
Anders als Elsbeth Stern fühlten sich manche der jüngeren Befragten kaum benachteiligt. So etwa die Immunologin Salomé LeibundGut-Landmann. Sie ist seit 2017 Ausserordentliche Professorin an der Uni Zürich und Mitglied der dortigen Gleichstellungskommission.
Vor ihrem Biologiestudium an der ETH Zürich machte sie ein erstes Praktikum in einem Forschungslabor in den USA. Eine wichtige Erfahrung: «Ich habe bereits da gesehen, dass mir die Arbeit im Labor gefällt. Und ich hatte eine inspirierende Betreuerin, bei der ich dieses Feuer für die Forschung gespürt habe. Das hat mich dann auch durch die langen Jahre des Studiums getragen, wo die Praxis teilweise noch sehr weit weg war.»
LeibundGut-Landmann blieb der Forschung treu. «Nicht weil ich einen Titel anstrebte. Aber mich lockte die unendliche Freiheit, die man in der akademischen Forschung hat. Zu gestalten, den Fragen nachzugehen, die mich wirklich interessieren, das hat mich gereizt. Diese Begeisterung hat mich bis heute nicht losgelassen.»
«Man muss den Mut haben, an Türen zu klopfen, die nicht als solche erkennbar sind.»
Salomé LeibundGut-Landmann, Uni-Professorin
Schon ihre Mutter arbeitete in der medizinischen Forschung und zog vier Kinder gross. Darum habe sich für sie nie die Frage gestellt, ob sie sich zwischen Karriere und Familie entscheiden müsse. Es sei nicht immer einfach. Aber dank einem Partner, der zu gleichen Teilen mit anpacke, und einer Nanny, die quasi zur Familie gehöre, meisterten sie die Situation gut, sagt die zweifache Mutter. «Trotz der hohen Arbeitsbelastung, die sich nicht nur in Stunden messen lässt, lassen sich meine vielfältigen Aufgaben mit viel Flexibilität gestalten. Das ist ein enormes Privileg.»
Aber auch sie musste verzichten und einmal eine feste Professorenstelle ablehnen, weil sie mit der damaligen Familiensituation nicht vereinbar war. «Alle wichtigen Anstellungen, die ich hatte, waren nicht ausgeschrieben , sondern ergaben sich aus Gesprächen oder einer persönlichen Anfrage bei einem Forschungsinstitut.»
Wer seine Traumstelle finden wolle, dürfe nicht einfach warten, sagt LeibundGut-Landmann. «Man muss aktiv suchen, wo man hinpassen könnte. Und dann den Mut haben, an Türen zu klopfen, die zunächst nicht immer als solche erkennbar sind. Und die sich auch nicht in jedem Fall öffnen.»
- Buchtipp: Anna Garry: «Inspiring Conversations with Women Professors. The Many Routes to Career Success»; Verlag Elsevier, 2019, 190 Seiten, Fr. 72.90
Wir alle diskriminieren, ohne es zu wollen
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