Der Mittelstand hat viele Gesichter
Die Familien der Mittelschicht: Sie sind nicht reich, sie sind nicht arm – doch das wärs dann mit den Gemeinsamkeiten. Zu Besuch auf sechs verschiedenen Familienplaneten.
Sechs Familien – sechs Lebenswelten:
Claudia Bühlmann, 38, und Boris Steiner, 39, mit den gemeinsamen Kindern Uma, 3, Lilo, 5, und Zora, 7
Er: Sozialpädagoge (80 Prozent).
Sie: Biobäuerin (40 Prozent).
Wo: in einer 3-Zimmer-Altbauwohnung in Wädenswil ZH
Grösster Luxus: «Nahrungsmittel: konsequent bio und saisonal.»
Von den Fenstern blättert die Farbe, an der Mauer bröckelt der Putz. Aber der Altbau birgt eine Kostbarkeit: geräumige Stadtwohnungen, die Familien bezahlbares Obdach bieten. Das wissen auch die Sozialbehörden in Wädenswil, die im ersten und zweiten Stock Familien einquartiert haben. Und im Parterre, da wohnen Boris Steiner und Claudia Bühlmann mit ihren Töchtern Uma, Lilo und Zora.
«Seit 35 Jahren wurde kein Franken mehr in dieses Haus gesteckt», sagt Boris Steiner. Man sieht es ihm an, nicht nur äusserlich. Doch Bühlmann-Steiners fühlen sich wohl hier. «Das Haus ist alt, aber es hat Charme.» Auch ihre grosse Dreizimmerwohnung. Und: «Sie ist supergünstig.» Zumindest für diese Lage: Coop, Bahnhof, Krippe, Schule – in Gehdistanz. «So sind wir nicht auf ein Auto angewiesen», meint Claudia Bühlmann. In den Gassen ums Haus und auf der kleinen Grünfläche nebenan sei zudem eine «echte Hinterhofkultur entstanden, vor allem für die Kinder».
Zusätzlich zur Wohnung hat die Familie im gleichen Haus ein Arbeitszimmer gemietet. Für die insgesamt 100 Quadratmeter Wohnfläche zahlen sie 1300 Franken Miete. Was sie an Wohnkosten sparen, macht sich auf dem Konto bemerkbar: «Wir haben es in den letzten Jahren immer geschafft, etwas auf die Seite zu legen.» Er arbeitet 80 Prozent als Sozialpädagoge, sie 40 Prozent als Biobäuerin auf dem Hof einer sozialen Einrichtung. Zusammen verdienen sie rund 7500 Franken pro Monat.
Die drei Töchter sind einmal pro Woche fremdbetreut. Für die subventionierten Plätze zahlen die Eltern monatlich rund 500, für die Krankenkasse dank Prämienverbilligung knapp 200 Franken. «Meine Frau findet jedes Jahr eine neue günstigste Kasse», schmunzelt Boris Steiner. Sie seien ohnehin Glückspilze, meint er: «Wir sind noch nie in einen Hammer gelaufen.»
Sie machen sich auch keine Sorgen, dass die alten Häuser bald abgerissen werden sollen. Sie ziehen ja bald weiter – ins Haus nebenan. Auch ein Altbau, «aber gepflegter und nicht ganz so heruntergekommen». Und: «Da wohnt mein Gotti drin», sagt Töchterchen Uma stolz – ein weiteres Plus, das kaum zu toppen ist…
Michael, 32, und Fabienne Fuchs, 29, mit den Kindern Elias, 3, und Emelie, 1
Er: Abteilungsleiter (100 Prozent).
Sie: Hausfrau.
Wo: in einer 4,5-Zimmer-Eigentumswohnung in Jonen AG
Grösster Luxus: «Dass wir uns immer wieder mal was Grösseres leisten können; Weiterbildungen, Neuanschaffungen, Ausflüge übers Wochenende und so. Und auch das Wissen, dass es uns sehr gut geht, ist ein Luxus. Dass wir keine Existenzängste haben.»
Spiegelblank glänzt der helle Natursteinboden. Fabienne Fuchs mag es offensichtlich ordentlich. Die Orchidee auf dem Sideboard, die Margeriten auf dem Cheminée, die DekoHerzen an der Wand; nichts steht irgendwie einfach irgendwo – selbst die Haare der Kinder Elias und Emelie sind hübsch frisiert. Ein Leben, so wohlgeordnet wie in einer Pralinenschachtel, aber nicht süss und dick aufgetragen, eher chic, fast ein wenig steril.
Fabienne Fuchs ist gelernte Bäcker-Konditorin. In der Bäckerei steht sie seit der Geburt ihrer Kinder aber nur noch zwei- bis dreimal im Monat jeweils sonntags, aushilfsweise und hinter der Theke, daneben bringt sie bei Heimpräsentationen spezielle Reinigungssysteme an die Frau. Primär aber ist Fabienne Fuchs Mutter und Hausfrau. «Wir haben eine klassische Aufgabenteilung», sagt sie. Ihr Mann meint: «Es war immer mein Ziel, eine Familie allein ernähren zu können.»
Darauf hat Michael Fuchs hingearbeitet. Heute ist der Lebensmitteltechnologe mit einem Nachdiplom in Betriebswirtschaft in der Tasche 32 Jahre alt, in leitender Stellung bei einem der grössten Getränkehersteller der Schweiz, Chef von 37 Mitarbeitern, das steuerbare Einkommen beläuft sich auf rund 70'000 Franken – je nach Bonus. Daneben unterrichtet er samstags an einer Fachschule in Projektmanagement. Sie haben eine Viereinhalb-Zimmer-Eigentumswohnung, einen Sparfonds, Aktien und ein Vorsorgekonto, ein Geschäfts- und ein Familienauto. Und sie können sich «immer mal wieder ein paar Tage Urlaub oder sonst was Schönes gönnen». Heuer war die ganze Familie fünf Wochen in Neuseeland und Australien.
Michael Fuchs hat sein Ziel also erreicht. Seine Frau sagt: «Uns ist bewusst, dass es uns sehr gut geht. Und dass es nicht allen Familien möglich ist, dass ein Elternteil sich hauptsächlich um die Kinder kümmern kann.» Als müsste sie sich dafür rechtfertigen. Dabei zahlen die beiden auch einen Preis dafür: Zeit. Unter der Woche ist Michael Fuchs spätestens um 5.30 Uhr aus dem Haus und abends kaum vor 18 Uhr zurück. Samstags doziert er. Und sonntags arbeitet dann oft seine Frau in der Bäckerei.
«Würde mein Engagement auf Kosten der Kinder oder meiner Frau gehen, würde ich zurückstecken. Aber ich weiss, dass meine Frau zufrieden ist mit ihrer Rolle und dass die Kinder bei ihr in guten Händen sind», sagt er. Seine Frau nickt. Sie weiss aber auch: «Die Zeit, in der wir alle zusammen sind, ist knapp.» Doch sie und ihr Mann seien keine Ausgängertypen. Lieber gehen sie selten, dafür gezielt aus; mit der Familie in den Zoo oder zu zweit ins Theater. «Demnächst gehen wir ans mittelalterliche Dinnerspektakel im Schloss Hallwyl.»
Auf ihre Ziele angesprochen, meinen Fuchsens: «Ein Haus mit Garten, das wäre schön.» Doch noch können sie sich das nicht leisten, nicht in Jonen, das wegen seiner Nähe zu Zürich ein teures Pflaster geworden ist. Aber sie haben es auch nicht eilig. Denn: «Momentan sind wir so ziemlich wunschlos glücklich.»
Bernhard, 39, und Monika Stucki, 41, mit den Kindern Sandro, 12, Adriana, 9, und Fiona, 7
Er: Geschäftsführer (100 Prozent).
Sie: Buchhaltung (40 Prozent). Daneben Mutter und Hausfrau.
Wo: in einem 8-Zimmer-Eigenheim in Sumiswald BE
Grösster Luxus: «Die gesunden Kinder. Und dass wir stets unsere Rechnungen zahlen, uns daneben aber auch mal etwas gönnen können.»
Bernhard Stucki ist ein Arbeitstier, zum Füsse-Hochlegen bleibt wenig Zeit. Er sagt es so: «Manche Leute haben es mit Studieren gemacht. Ich mit Arbeiten.» «Gemacht» heisst in seinem Fall: den Sprung geschafft vom Bauernsohn vom Chuderhüsi im obersten Emmental zum selbständigen Unternehmer in Sumiswald. Elf Lastwagen und sieben Cars stehen im Familienbetrieb, einem Reise- und Transportunternehmen mit 30 Angestellten.
«Ein 24-Stunden-Job, 365 Tage im Jahr», sagt Bernhard Stucki. Als Chef müsse er stets erreichbar sein, denn: «Irgendwo ist immer ein Chauffeur unterwegs.» Oder er selbst sitzt hinter dem Steuer, fährt eine Reisegruppe übers Wochenende ans Meer und sitzt am Montag darauf schon wieder im Büro oder im Lastwagen. Zu seiner Arbeitszeit meint er trocken: «60 bis 70 Stunden werden es schon sein.» Seine Frau Monika sagt: «Ich wünschte mir schon ab und zu, er hätte mehr Zeit für die Familie.» Zum Beispiel wenn sie die Kinder mal wieder allein zu Bett bringt oder abends mit dem Ältesten noch Französisch büffelt.
Hinter jedem erfolgreichen Patron steht eine starke Frau, sagt man. Im Hause Stucki ist das so: «Das Geschäft würde nicht laufen, wenn mir meine Frau nicht den Rücken freihielte», betont Bernhard. Familie und Haushalt, das ist Monikas Job. Daneben arbeitet die 41-Jährige zwei Tage im Betrieb und erledigt die Buchhaltung. Auch die Kinder werden eingespannt. Sandro macht die Cars sauber und finanziert damit sein teures Eishockeyhobby mit. Adriana verköstigt die Reisegäste als Hostess und verdient sich so ihr Sackgeld. Die Jüngste, Fiona, hilft zu Hause. Und wenn die Mutter arbeitet, kümmert sich ein «Hüetimeitschi» um die beiden Jüngeren. 14 Jahre alt ist das Mädchen, geht mit den Stucki-Kindern in dieselbe Schule «und gehört wie ein bisschen zur Familie».
Trotz der spärlichen Freizeit will Monika Stucki nicht jammern. Zumal sie gewusst hat, worauf sie sich einlässt, als sie und ihr Mann vor zwei Jahren den Betrieb ihres Vaters übernahmen: «Ich habe schon als Kind miterlebt, was es bedeutet, ein solches Familienunternehmen zu führen.» Bereut haben sie den Schritt nie. «Man ist sein eigener Chef. Muss selber schauen, dass es genug ‹Büez› hat, und ist stolz, wenns läuft.» Einziger Nachteil: «Die hohe Präsenzzeit.»
Finanziell steht die Familie Stucki gut da. Auch weil ihr manchmal fast ein wenig die Zeit fehlt, um das verdiente Geld auszugeben. Zudem profitiert sie von Privilegien, die ihr ihre Selbständigkeit neben dem unternehmerischen Risiko auch bietet. Und fährt der Vater im Sommer mit Touristen in die Ferne, sitzt seine Familie oft mit an Bord: «So lassen sich Berufliches und Privates geschickt verknüpfen.»
Zusammengerechnet zahlen sich Stuckis rund 6000 Franken Lohn aus. Dafür leben sie in einem acht Zimmer grossen Eigenheim, das sie selber umgebaut haben und das sie monatlich knapp 1400 Franken kostet. Mit dem, was Ende Jahr übrig bleibt, werden die Schulden abgebaut; am Haus, vor allem aber am Betrieb. Das Transportgewerbe ist eine investitionsintensive Branche. Das neue Flaggschiff in der Garage etwa, ein Fünf-Sterne-Car, kostete um die 700'000 Franken. «Da muss der Karren laufen», meint Bernhard Stucki verschmitzt.
Thomas, 36, und Beatrice Hayoz, 31, mit den Kindern Ronja, 9, Tanja, 7, Niels, 6, und Monja, 4
Er: Polymechaniker.
Sie: Familienfrau und Tagesmutter.
Wo: in einem 8-Zimmer-Eigenheim in Siglistorf AG
Grösster Luxus: «In materieller Hinsicht das grosse Auto. Aber es ist ein Luxus, auf den wir hier auf dem Land angewiesen sind.»
Monja weiss, wie es funktioniert. Ein Knopfdruck, und aus dem Metallgestell surrt eine gelb-schwarze Schranke. «Das macht im Fall der Papi», stellt die Vierjährige klar. Noch steht Papis Schranke als Prototyp in einem Einfamilienhausquartier in Siglistorf AG. Doch bald soll das Fabrikat im grossen Stil Wohn- und Gewerbebauten sichern, als Variante zu den üblichen Pfosten und Ketten. «Eine Weltneuheit», erwähnt Thomas Hayoz lakonisch. Der Mann neigt nicht zum Überschwang – dabei wäre eine gewisse Dramatik durchaus angebracht: Vom Markterfolg der «Stopline» hängt ganz direkt ab, wie es seiner sechsköpfigen Familie künftig geht.
Hayoz nimmt die Dinge gern in die eigenen Hände. Schon 2001 macht er sich selbständig, baut einen Betrieb auf, der in Lohnfertigung mechanische Teile herstellt. Seine Frau Beatrice packt mit an, erledigt das Büro, oft am Wochenende. Daneben kümmert sie sich um die wachsende Kinderschar und trägt als Tagesmutter etwas zum Einkommen bei. «Eine Selbständigkeit ist ein Familienprojekt», so die 31-jährige gelernte Drogistin. «Das klappt nur, wenn alle mitziehen.» Es klappt ordentlich: Ende 2007 bleibt erstmals richtig Geld übrig. Als sich eine gute Gelegenheit ergibt, kaufen sie sich ein eigenes Haus mit acht Zimmern.
Dann kommt die Krise, die Aussichten verdüstern sich. Rechtzeitig lernt Thomas Hayoz den Tüftler kennen, der das vielversprechende System der Horizontalschranken erfunden hat – und fängt nochmals bei null an: Seit letztem Herbst baut der Polymechaniker in eigener Regie das neue Geschäftsfeld auf. Für ein Jahr stellt ihm der Erfinder dafür Kapital zur Verfügung. Damit deckt Hayoz sämtliche Kosten, auch jene, um die sich ein gewöhnlicher Angestellter nicht kümmern muss: von der Miete für die Werkstatt (2150 Franken pro Monat) bis zu den Beiträgen für Pensionskasse, AHV, Suva (2200 Franken). Was nicht obligatorisch ist, etwa die Krankentaggeldversicherung, erspart er sich: «Dafür reicht es nicht.»
Daneben das übliche Potpourri der Fixausgaben: Steuern, Krankenkasse, Versicherungen, Alltagskonsum. Die Wohnkosten schlagen monatlich mit 2600 Franken zu Buche. Den grossen VW zu kaufen war zu viel Geld aufs Mal, deshalb ist er nur geleast – und verschlingt pro Monat 1000 Franken an Raten. Auch wenn sonst einmal eine allzu üppige Rechnung kommt, setzt sich Beatrice Hayoz ans Telefon, um eine Ratenzahlung auszuhandeln: «Da habe ich keine falsche Scham.» Ein Leben am finanziellen Limit.
Keine Angst davor, dass etwas Unvorhergesehenes ein Loch ins sonst schon enge Budget reisst? «Daran denken wir nicht», sagt Thomas Hayoz, ganz der pragmatische Handwerker. Eine Art optimistischer Fatalismus. Aber nicht nur: «Wir haushalten erfinderisch», schmunzelt seine Frau. Das bedeutet: Einkaufen streng nach Postizettel, Kleider werden nachgetragen und mit anderen Familien ausgetauscht, und statt eines neuen Spielzeugs gibts Erlebnisse draussen in der Natur. Bei alldem werden die Kinder miteinbezogen: «Ihnen soll klarwerden, dass ein Kindercomputer nicht vom Himmel fällt.»
Das Rechnen und Budgetieren ist ein ständiges Thema. Manchmal geht das an die Nerven. Thomas Hayoz sagt, befragt nach seinem unerfüllten Traum: «Schön wäre, wenn Geld nicht mehr so wichtig wäre im Leben.»
Christine Loinger, 40, mit Lebenspartner Dominic Richard, 38, und Niklas, 5, und Benedikt, 1
Er: selbständiger Snowboardlehrer und Grafiker
Sie: Hausfrau und Pflegefachfrau; zusammen rund 100 Stellenprozent
Wo: zur Miete in einem Bauernhaus in Langwies GR
Grösster Luxus: «Dass wir nicht immer arbeiten müssen und uns immer Zeit nehmen können.»
Das Fleisch und der Käse kommen vom Kurli, den Hirsch hat der Steff geschossen, geschlachtet hat ihn der Peter, das Gemüse wächst im Garten vor ihrem alten Walserhaus. Ein Leben wie im Bilderbuch – wie bei Schellenursli, ein paar Täler weiter und einige Jahre später. Doch mit dem Laptop, Wireless bis zum Mangoldbeet und zu den neusten Snowboards in der Scheune sind Christine Loinger und Dominic Richard bestens verankert im 21. Jahrhundert.
Früher wären die beiden glatt als Aussteiger durchgegangen. Heute sind sie Kleinunternehmer. Sie, die hin und wieder bei der lokalen Spitex aushilft, seit Niklas und Benedikt da sind, ist Vollzeitmutter. Er arbeitet im Winter als freier Snowboardlehrer oben in Arosa, im Sommer als freier Grafiker zu Hause.
Der 38-Jährige hat eine Aussteigerbiographie, wie sie im Buche steht: aufgewachsen in Kilchberg ZH, abgebrochenes Architekturstudium, dann Snowboardlehrer im Winter, den Rest des Jahres als Freerider unterwegs auf der Südhalbkugel. «Ohne Familie wäre ich nicht hierhergezogen. Ich hätte noch viele Ideen, wo ich snowboarden könnte», sagt er. «Aber Kinder reisen nicht gern, sie brauchen ein fixes Zuhause. Deshalb sind wir hier.» Urbane Bergler sind sie geworden, in sicherer Distanz zur Bergstadt Arosa, wo alle so chic sein wollen wie die unten in der Bahnhofstrasse.
Die Rollen sind klar verteilt: Er verdient, sie versorgt. «Meine Mutter war immer daheim. Das hatte ich gern. Das will ich auch meinen Kindern bieten», sagt sie. «Wir mussten uns nicht entscheiden, um irgendeinem Lebensbild zu entsprechen, sondern weil es gut für unsere Kinder ist und wir zwei das so wollen», sagt er. Die beiden gehören zur seltsamen Gattung Mensch, die das Natürlichste für sich wiederentdeckt hat: keinen grossen Unterschied zu machen zwischen Freizeit und Arbeit.
Arbeit ist im Fall von Dominic Richard vor allem das Snowboarden – «das Einzige, was ich wirklich kann». Das bringt ihn in Bedrängnis, wenn in der Hochsaison über Nacht Zauberschnee fällt. «Das ist mein Dilemma. Manchmal entscheide ich mich für Unterricht mit den Gästen, manchmal gehe ich allein.» So viel Freiheit müsse sein.
Werbung hat da nichts verloren, Kundenakquisition ist ihm ein Gräuel. Eine fast leere Homepage, wo in fünf Sätzen alles gesagt ist, genügt. «Auch wenn ich andersrum mehr verdienen könnte. Aber ich habe es lieber, wenn die Leute von sich aus zu mir kommen und etwas von mir wollen. Das ist eine gute Basis für eine Zusammenarbeit.»
Es ist dieser Luxus, sich nur auf das zu konzentrieren, was einem wichtig ist. Diese Ruhe, nichts und niemandem hinterherrennen zu müssen, und jene Freiheit, die man sich draussen auf der Wiese nimmt. Und es ist der alte VW-Bus, der immer abfahrbereit ist.
Marcel, 33, und Carla Graf, 33, mit Tochter Renée, 1; das zweite Kind kommt im Herbst
Er: Projektleiter bei Bern Tourismus (100 Prozent), daneben macht er den «Master in Marketing» in Luzern.
Sie: Gönnerservice beim Schweizerischen Roten Kreuz (40 Prozent).
Wo: in einer 3-Zimmer-Mietwohnung in der Stadt Bern
Grösster Luxus: «Das Leben als Familie mit gesunden Kindern – hier in der Stadt.»
Wer im Obstberg wohnt, darf sich eigentlich nicht beklagen. Man sagt in Bern, hier lebten die «Mehrbesseren»: ruhig und doch zentral, tolle Aussicht auf Aare und Altstadt. «Bei gutem Wetter sehen wir vom Balkon bis in den Jura», sagt Marcel Graf, 33, Projektleiter. Und doch wollen er und seine Frau Carla lieber heute als morgen aus ihrer Wohnung. Nicht, weil sie nicht schön wäre. Im Gegenteil: hohe Räume, Parkett, drei Zimmer, 95 Quadratmeter. Und für 1900 Franken «sogar günstig», sagt Carla Graf – «verhältnismässig». Doch der «Block», wie sie das Mehrfamilienhaus nennt, biete kein Umfeld für ein Kind in Renées Alter. Knapp zwei Jahre alt ist das Mädchen. Ein zweites Kind ist unterwegs. Für sie gibt es keinen Garten, keinen Spielplatz. Renée allein nach draussen zu lassen ist nicht. Und wenn, dann fehlten ihr dort ohnehin die Spielkameraden. «Familienfreundliche Wohnungen kann man sich hier nicht leisten, deshalb hat es auch kaum andere Kinder.»
Seit einem Jahr suchen sie intensiv nach einer Alternative. Vergeblich. Wer in Bern eine schöne Wohnung hat, gibt sie nicht mehr aus der Hand. Und das wenige, was der Markt an geeignetem Wohnraum hergibt, ist kaum unter 3000 Franken pro Monat zu haben. «Das übersteigt unser Budget.» Dabei haben Grafs gute Jobs. Er arbeitet 100 Prozent bei Bern Tourismus, sie 40 Prozent als Fundraiserin beim Roten Kreuz. Gemeinsam kommen sie auf ein Nettoeinkommen von rund 8000 Franken. Das klingt nach viel. Auch Marcel Graf wundert sich manchmal, wohin das Geld fliesst. Tatsache ist: «Ende Monat ist selten was übrig.» Vielleicht könnten sie pro Jahr 3000 Franken auf die Seite legen, wenn sie auf die Kostenbremse treten würden, meint er: Doch damit würden sie weder reich, noch könnten sie sich in absehbarer Zeit ein Haus leisten. «Zudem sind es die kleinen Extras, die man sich gönnt, die das Leben lebenswert machen. Wenn du nur noch den Fixkosten hinterherhechelst, bist du gefangen.»
Miete, Krankenkasse, Steuern, Auto, Essen und Haushalt, zwei Tage Kinderkrippe für Renée, das sind die grossen Posten. «Mehr liegt eigentlich gar nicht drin», sagt Marcel Graf. In der Wohnung stehen weder teure Designermöbel, noch trägt man feine Tücher zur Schau. Und auch ihre Kleine geben sie nicht in die Krippe, um ihren Luxus zu finanzieren. «Das tun wir aus Überzeugung. Dort hat Renée gleichaltrige Kinder zum Spielen und eine professionelle Betreuung», sagt Marcel. Der Luxus, den sie sich leisten und auf den sie nicht verzichten wollen: mit den Kindern in der Stadt leben. «Doch langsam, aber sicher drängt man uns hier raus.»
Im Grunde wüssten Carla und Marcel: Auf dem Land könnten sie sich mit ihren Löhnen vermutlich ein tolles Leben leisten. Vielleicht reichte es sogar für ein kleines Häuschen mit Garten. Doch vor allem Marcel hängt am Stadtleben. Am «Groove» hier, wie er sagt: «Es ist die Angst des Städters, auf dem Land den Puls der Zeit zu verlieren» – und sein Netzwerk, vielleicht auch den Spass. Die meisten seiner Freunde sind noch Junggesellen. Er trifft sie bei YB-Spielen, spontan zu einem Bier in der Stadt oder beim Grillieren an der Aare: einfach aufs Velo und ab in die Stadt. «Freunde sind nicht einfach da, Freundschaften muss man pflegen», sagt Marcel. «Du gibst dir auch alle Mühe, am Ball zu bleiben», sagt seine Frau. Sie könnte sich ein Leben auf dem Land eher vorstellen. «Frauen ticken da anders», sagt sie. Zumal sie es ja sei, die ständig mit Renée unterwegs sei, um ihr auf öffentlichen Spielplätzen das Umfeld zu bieten, das ihr im Quartier verwehrt bleibe. Und so meint sie: «Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.» In einem sind sich Marcel und Carla einig: wenn aufs Land, dann richtig. «Lieber irgendwo am Waldrand als in einer Einfamilienhaussiedlung in der Agglo.»