Auf einer Grillparty sollte man nicht erzählen, dass man bei der Kesb arbeitet. Sagt die Mitarbeiterin einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde im Kanton St. Gallen. «Dann ist der Abend gelaufen. Ich muss mich dann nur noch rechtfertigen.»

Sie kennt die Posts auf Facebook: «Kesb tötet!» – «Kesb = Angst und Terror!» – «Diese Typen gehören angeklagt!!!» – «Nach den Verdingkindern KEINE Kesb-Kinder!!» Gefolgt von den Namen und Privatadressen von Kesb-Mitarbeiterinnen. Und dann werden sie mit ihren Profilbildern an den digitalen Pranger gestellt.

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Die Kesb ist ein Reizthema. Seit dem 1. Januar 2013 kümmert sie sich um vernachlässigte Kinder und Senioren. Um Kinder, die geschlagen werden und mit blauen Flecken in die Schule gehen, um demente, pflegebedürftige Alte, die nicht mehr allein leben können. Früher entschied die Vormundschaftsbehörde jeder Gemeinde über solche Fälle: Laien. Heute sind die Fachleute der Kesb zuständig: Sozialarbeiter, Psychologen, Juristen.

Die Kesb kann machen, was sie will. Entweder greift sie zu wenig und zu spät ein oder zu früh und zu unverhältnismässig. Wie im «Fall Flaach». Am Neujahrstag 2015 erstickte eine Mutter ihre zwei Kinder, zwei und fünf Jahre alt, weil sie nicht wollte, dass die beiden zurück ins Heim müssen. Sie hatte gewollt, dass die Kinder bei den Grosseltern unterkommen, doch die Kesb Winterthur-Andelfingen hatte das abgelehnt, weil sie das Kindswohl gefährdet sah.

«Kinderblut» und «Stasi-Behörde»

«20 Minuten» titelte: «‹Das Blut der Kinder klebt an den Händen der Kesb›». Eine Woche danach lud die Zürcher SVP zur Pressekonferenz und fragte: «Wer stoppt die Stasi-Behörde?»

Das war der Fall, der für die Kritiker klar machte: Die Kesb versagt. Seither organisieren sie sich in Facebook-Gruppen, in losen Zusammenschlüssen, in Vereinen, in der Politik. Die Kesb-Kritiker – ein bunter Mix von Betroffenen, Helfern und Staatsverdrossenen – sind heute bestens untereinander vernetzt.

Jetzt mündet der Protest in Initiativen in Bundesbern und im Kanton Schwyz – angeführt von SVP-Nationalrat Pirmin Schwander. Sie wollen die Kesb zu Fall bringen und die Vormundschaftsbehörden wiederbeleben. Der Bundesrat hat bereits reagiert und einen Bericht veröffentlicht. Seine erste Bilanz: «Neues Recht, neue Behörden, neue Mitarbeiter, knappe Ressourcen und die Natur der zu entscheidenden Fälle» – man habe nicht erwarten können, «dass vom ersten Tag an alles perfekt ablaufen würde», heisst es im Bericht von Ende März.

«Die Kesb machen in einem schwierigen Umfeld eine sehr gute Arbeit», resümiert Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Interview mit dem Beobachter und stärkt den Mitarbeitern der 146 Kesb-Stellen den Rücken. Die Zahl der Schutzmassnahmen sei bei den Erwachsenen seit 2013 leicht gestiegen, bei den Kindern gesunken. Der Bundesrat räumt ein, dass die Kesb mancherorts das nähere Umfeld einer betreuten Person zu wenig miteinbeziehe. Das soll sich ändern.

Quelle: Markus Heinzer/Newspictures

«Unser Rechtsstaat ist aus den Fugen geraten. Die Fehler der Kesb haben sich vervielfacht.»

 

Pirmin Schwander, SVP-Nationalrat

SVP-Nationalrat Schwander sitzt auf einer Holzbank in der Eingangshalle des Bundeshauses und nippt an einem Pappbecher Kaffee. «Wir wollen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden nicht so, wie sie heute funktionieren», sagt er. Neben ihm liegt der Text zur eidgenössischen Volksinitiative gegen die Kesb. Der wird derzeit von der Bundeskanzlei geprüft, in den nächsten Wochen erwartet Schwander die Zustimmung. Dann kann die Unterschriftensammlung beginnen.

Schwanders Initiative will die Kesb zurückbinden. Auch er will die Familien stärker einbeziehen. Grosseltern, Geschwister und Kinder sollen ihre Angehörigen in Rechtsgeschäften vertreten dürfen – und zwar «uneingeschränkt».

Schwander führt seinen Kampf auf mehreren Ebenen: Die eidgenössische Initiative treibt er voran, in seinem Heimatkanton Schwyz ist er schon weiter. Dort wird am 21. Mai über die Kesb abgestimmt. Schwander ist im Kampfmodus.

Kesb Mitarbeiter
Quelle: Beobachter

Ein Abend Anfang Februar. Der Saal im Restaurant Distel in Rothenthurm ist voll, an der Decke hängen bunte Fasnachtsgirlanden. 150 Leute sind gekommen, das Schweizer Fernsehen dreht. Ein Vater spricht ins Mikrofon: «Die Kesb ist eine brutale, kriminelle Organisation. Viele sagen, die Kesb sei eine Mafia. Das stimmt nicht. Die Mafia hat Respekt vor der Familie. Die Kesb nicht.» Das Publikum klatscht.

Pirmin Schwander stützt sich auf das Rednerpult. Er redet sich in Rage: «Unser Rechtsstaat ist aus den Fugen geraten.» Es heisse immer, die Kesb habe Anfangsschwierigkeiten gehabt, heute funktioniere sie besser. Das, so Schwander, stimme nicht. «Im Gegenteil», poltert er, «die Fehler haben sich seither vervielfacht.» Seine Lösung: Laien «mit Menschenverstand statt akademischen Titeln» sollen in die Gremien der Kesb. Wieder klatschen die Zuhörer. Für sie ist Schwander die Galionsfigur im Kampf gegen die Kesb.

Die Kescha vermittelt

Die Anlaufstelle Kindes- und Erwachsenenschutz (Kescha) unterstützt Menschen schweizweit, die ein Problem mit einer Kesb-Massnahme, mit einem Beistand oder dem Gericht haben. Unabhängige Fachleute beraten dort Betroffene. Initiiert wurde die Anlaufstelle vom Zuger Unternehmer Guido Fluri. Er ist auch Urheber der Wiedergutmachungsinitiative für ehemalige Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Die Kescha wird getragen vom Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik (Integras), von der Stiftung Kinderschutz, der Kinderanwaltschaft, dem Verein Pflege- und Adoptivkinder Schweiz sowie der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes).

Weitere Infos: Kescha, Limmatstrasse 35, 8005 Zürich; Telefon 044 273 96 96; info@kescha.ch; www.kescha.ch

Die Liebe zur gewalttätigen Mutter

«Das Bild der Kesb, die unbescholtene Bürger drangsaliert, ist schlicht falsch», sagt Guido Marbet, Präsident der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz. «Viele haben wohl Angst, dass weltfremde Profis über ihre Lebenssituation entscheiden.»

Eine Kesb-Mitarbeiterin fragt ratlos: «Was soll ich denn machen, wenn das Kleinkind – grün und blau geschlagen – trotzdem auf den Schoss der Mutter krabbelt und sich an sie kuschelt?» Sie weiss, wie schwierig es ist, wenn sie in das Leben von Familien eingreift. Wenn sie das Kind von Vater und Mutter trennt – notfalls mit Polizeigewalt. Wenn die Nachbarn über die Eltern reden, weil das Polizeiauto vor dem Gartenzaun parkiert. Wenn das Kind auf der Strasse weint, sich mit Händen und Füssen dagegen wehrt, in das fremde Auto gesetzt zu werden. Wenn das Kind in ein Heim gebracht wird, um es vor den Schlägen der Eltern zu schützen.

In der Behördensprache heisst das «Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts», eine der drastischsten Massnahmen im Kindesschutz. Sie wird angeordnet, wenn man die Gefährdung des Kindswohls mit milderen Massnahmen nicht abwenden kann. So will es das Gesetz.

Eine Mitarbeiterin entscheidet darüber nicht allein. Sie hat zuvor wieder und wieder mit ihren Kollegen und der Leiterin ihrer Kesb-Stelle über den Fall gesprochen, es herrscht das Mehr-Augen-Prinzip. Und mehr Bürokratie. In einem fort diskutiert das Team: «Müssen wir eingreifen? Welche Massnahme ist richtig? Können die Grosseltern einspringen?»

Quelle: Markus Heinzer/Newspictures
«Politiker mit Profilierungsdrang»

Kesb-Mitarbeiter sind ans Amtsgeheimnis gebunden. Sie dürfen nicht öffentlich über ihre Arbeit sprechen – auch nicht, wenn alles korrekt läuft. Gegen Vorwürfe können sie sich daher kaum zur Wehr setzen. Das macht es den Kritikern so leicht. «Es steht nicht einmal ‹Aussage gegen Aussage›», sagt die Kesb-Mitarbeiterin. «Weil wir ja gar nichts sagen dürfen.» Die Kritiker bewirtschafteten das Feindbild Kesb systematisch, das mache ihre Arbeit manchmal zur Hölle.

«Die Kesb sollte offensiver informieren. Teilweise versteckt sie sich hinter dem Amtsgeheimnis», sagt Christoph Häfeli. Der emeritierte Rechtsprofessor hat am neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht mitgearbeitet.

Zur Kritik an der Kesb meint er: «Es gibt traumatisierte Betroffene, die sich von der Kesb ungerecht behandelt fühlen und mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gehen. Und dann gibt es Politiker aus dem rechten Parteienspektrum, die sich mit ihrem Kreuzzug gegen die Kesb profilieren wollen.» Für die Ersteren habe er Verständnis, für die Letzteren nicht.

Quelle: Markus Heinzer/Newspictures
Was kostet die Kesb
Quelle: Beobachter

«Es steht nicht einmal Aussage gegen Aussage. Denn wir dürfen ja gar nichts sagen.»

 

Kesb-Mitarbeiterin

Kesb-Mitarbeiter erhalten Drohbriefe

Walter Grob ist Präsident der Kesb Linth – Hug nennt ihn einen «Schreibtischtäter». Grob ist machtlos. «Hug betreibt nicht Journalismus, sondern Stimmungsmache», sagt er. «Er manipuliert die Leute.» Durch die ständige Wiederholung angeblicher Missstände glaubten am Ende viele, da müsse doch was dran sein.

Zwei Jahre dauert der Streit zwischen der Kesb Linth und Hug schon. Die Kampagne der «Obersee Nachrichten» werde schon wieder abebben, hoffte Grob zu Beginn. Stattdessen erhalten er und seine Mitarbeiter Drohbriefe. Grob reicht es. Zusammen mit der Stadt Rapperswil-Jona klagt er nun gegen Hug, dessen Redaktor Mario Aldrovandi und die «Obersee Nachrichten». Es ist einiges zusammengekommen: In der Klageschrift werden auf 300 Seiten über 300 Persönlichkeitsverletzungen aufgelistet.

Grob sagt, «die selbsternannten Helfer» richteten nicht selten Schaden an und verschlimmerten die Situation der Betroffenen. Dies hätten Gutachter in einem kürzlich vor Gericht verhandelten Fall ausdrücklich festgehalten. «Einigen von ihnen geht es nur um Profit und Profilierung. Politiker gehen auf Stimmenfang. Bruno Hug steigert mit einseitigen und manipulierten Geschichten Auflage und Gewinn seines Gratisblatts.» Hug nennt das «anwaltschaftlichen Journalismus».

Mit der Klage fordern Grob und die Stadt die Herausgabe des Gewinns, den die «Obersee Nachrichten» dank ihrer aufbauschenden Berichterstattung über vermeintliche Kesb-Opfer erzielt haben. Die Online-Klickzahlen und damit die Werbeeinnahmen seien seit Beginn der Kampagne «massiv» gestiegen, nehmen die Kläger an. Sie sprechen von «deutlich über 100'000 Franken». Doch das Verfahren ist nur ein Nebenschauplatz.

So geht die Kesb vor

Ziel eines Kesb-Verfahrens ist immer, eine möglichst massgeschneiderte Lösung zu finden. In seltenen Fällen braucht es schnelles Handeln. Grundsätzlich versucht die Behörde aber stets, den Fall während der Abklärung zu lösen, ohne Massnahmen zu verfügen.

Infografik: Hilfe in 8 Schritten

Quelle: Markus Heinzer/Newspictures
Erst Schwyz, dann die Schweiz?

Sollte das Schwyzer Stimmvolk Schwanders Initiative Ende Mai annehmen, könnte das eine Signalwirkung für das ganze Land haben. Zwei SVP-Grossräte aus den Kantonen Aargau und Bern zeigen bereits Interesse. Pirmin Schwander selbst gibt sich zuversichtlich, dass er die erforderlichen 100'000 Unterschriften für die eidgenössische Volksinitiative zusammenbekommt.

Bundesrätin Sommaruga will die Debatte um die Kesb vorsorglich versachlichen: «Wir sollten aufgrund von Fakten über die Arbeit der Behörden diskutieren – und nicht aufgrund von Vorurteilen.»

Die Kesb-Mitarbeitenden würden es ihr danken. «Viele Angehörige und Betroffene kommen derart eingeschüchtert zum ersten Termin, dass wir uns das Vertrauen mühsam erarbeiten müssen», sagt eine von ihnen. Eine andere: «Ich möchte einfach meine Arbeit machen. Und das so gut wie möglich.»

Das Netzwerk gegen die Kesb
Quelle: Markus Heinzer/Newspictures