Ein 15-Jähriger hat am Samstag, 2. März 2024, im Zürcher Kreis 2 einen 50-jährigen orthodoxen Juden mit einem Messer lebensgefährlich verletzt. Der Angriff hat wahrscheinlich einen antisemitischen Hintergrund. Darauf deutet ein von den Behörden als authentisch eingestuftes Video hin, in dem der Jugendliche als sein Ziel angibt, «möglichst viele Juden zu töten».

Der Fall hat schnell politische Dimensionen angenommen. Allen voran in der NZZ. Der Zürcher Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch (SP) – der sich seit Jahren für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts einsetzt – nutzt den Fall des Messerangriffs, um höhere Strafen zu fordern. Er warnt davor, dass die gesellschaftliche Akzeptanz schwinde, wenn die «Maximalstrafen nicht im Verhältnis zu schwerwiegenden Straftaten» stünden. Natürlich gehe es auch um «Symbolik» und darum, «eine Drohkulisse aufzubauen». 

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«Die Höhe der Strafandrohung hat überhaupt keinen Einfluss.»

Marianne Heer, Strafrechtsprofessorin

Solchen Argumenten widerspricht die Strafrechtsprofessorin und Massnahmenexpertin Marianne Heer entschieden. Die Kriminologie habe untersucht, ob hohe Strafen abschrecken. «Die Ergebnisse sind unzweideutig: Die Höhe der Strafandrohung hat überhaupt keinen Einfluss.» Straftäter machten sich vor der Tatbegehung keine Gedanken über die Strafhöhe. «Was sie vielmehr interessiert, ist die Frage: Komme ich damit durch oder nicht; heisst: Werde ich erwischt?» 

Die Politik – findet Heer – sollte sich besser auf ihr Kerngeschäft konzentrieren. Konkret: in Prävention investieren und darauf hinwirken, dass Radikalisierungen frühzeitig erkannt werden. Hätte man richtig hingeschaut, so hätte die Tat aus Sicht von Marianne Heer möglicherweise verhindert werden können. «Die Politik sollte dafür sorgen, dass die Schulen die Schüler besser informieren, aber auch beobachten. Und es der Justiz überlassen, diesen konkreten Einzelfall zu ahnden.»

Nach einem Jahr wieder in Freiheit? – «Nein»

Dass der 15-Jährige im Falle einer Verurteilung nach einem Jahr wieder auf freiem Fuss ist, wie das manche Medien kolportieren, schliesst Heer aus. Denn neben der Strafe werden oft Massnahmen angeordnet, die mehrere Jahre dauern. Vollzogen werden diese in einer forensischen Psychiatrieabteilung, wo intensiv an der Aufarbeitung der Tat gearbeitet wird. Ganz im Sinne des Jugendstrafrechtes, das auf die Erziehung und nicht auf Vergeltung ausgerichtet ist. «Und damit sind wir extrem erfolgreich, wie die tiefen Rückfallquoten zeigen.» Aus diesem Grund spricht sich Marianne Heer dezidiert gegen die Verwahrung von Jugendlichen aus, die sie für rechtswidrig hält. 

In der NZZ wurde auch gefordert, als Konsequenz der Messerattacke den 15-Jährigen auszubürgern. Und das von keinem Geringeren als dem Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr.

«Eine politische Überreaktion»

«Für mich ist diese Forderung ganz klar eine politische Überreaktion», sagt die ehemalige Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer. Laut Bundesamt für Migration ist es möglich, einem Doppelbürger das Bürgerrecht zu entziehen, wenn sein Verhalten dem Ansehen der Schweiz massiv schadet. «Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass ein solcher Antrag bei einem Jugendlichen rechtlich durchsetzbar wäre.»

Die Anwendung dieses Instruments sei nicht nur unverhältnismässig, sondern verstosse auch gegen die Uno-Kinderkonvention. «Wir haben es hier noch mit einem Kind zu tun, dessen Entwicklung der Persönlichkeit noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb können ihm Straftaten nicht in gleichem Mass angerechnet werden wie einer erwachsenen Person.»

«Es ist höchst problematisch, wenn sich Politiker und Psychiater so früh in die Arbeit der Justiz einmischen.»

Marianne Heer, ehemalige Luzerner Kantonsrichterin

Der forensische Psychiater Frank Urbaniok unterstützt die Idee, Personen das Bürgerrecht zu entziehen, die «schwerste Straftaten wie extremistisch motivierte Gewaltdelikte» begehen. «Wir senden ein klares Signal an Menschen, die sich hier einbürgern lassen möchten», lässt er sich von «20 Minuten» zitieren. «Ihr seid willkommen. Doch es gibt rote Linien. Wenn sie überschritten werden, ist das mit dem Bürgerrecht nicht mehr vereinbar.»  

Darüber kann Marianne Heer nur den Kopf schütteln. Sie staunt, wie dieser forensische Psychiater seine psychiatrische Autorität einsetzt, um sich immer wieder öffentlich in juristische Fragen einzumischen.  «Vor dem Gesetz sind alle gleich, steht in unserer Bundesverfassung. Eine Zweiklassenjustiz ist nicht zulässig, da gibt es keinen Platz für Diskussion.»

Heer weist darauf hin, dass das Motiv für den Messerangriff von den Untersuchungsbehörden noch gar nicht geklärt ist. «Es ist höchst problematisch, wenn sich Politiker und Psychiater zu so einem frühen Zeitpunkt in die Arbeit der Justiz einmischen und ohne Kenntnis der Akten Druck machen. Lasst die Justiz erst einmal ermitteln!»