Emediana springt kreischend zur Seite. Neben ihr am Fels klebt ein Gecko, kaum erkennbar. Er ist so gut an die Umgebung angepasst, dass er darin verschwindet. Viele Einwohner Madagaskars glauben, dass die fast unsichtbaren Wesen Geister verstorbener Ahnen sind – und fürchten sie.

Doch schliesslich siegt die Neugier. «Weshalb ist sein Schwanz so platt?» – «Wie viele Arten gibt es davon?» – «Gibt es die nur hier in Masoala?» Geduldig beantwortet Nationalparkführer Pascal Elison Frage um Frage der Jugendlichen.

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Ihren wachsamen Augen entgeht nichts. Mit einer Leichtigkeit, die Europäer staunen lässt, entdecken sie winzigste Frösche, das kleinste Chamäleon der Welt – gerade mal zwei Zentimeter lang –, einen Blau-Seidenkuckuck, ein Tierchen mit gelben und schwarzen Stacheln namens Tenrek, wendige Krabben und blutrote Tausendfüssler.

Dann – unverhofft schnell – zeigt sich die Galionsfigur von Masoala: der Rote Vari. Diese Lemurenart gibt es nur hier, auf einer Halbinsel im Nordosten Madagaskars. Die Schülerinnen und Schüler sind zwar nur wenige Kilometer von der Parkgrenze aufgewachsen, doch die meisten haben noch nie eines dieser rotschwarzen Fellknäuel mit den leuchtend gelben Augen gesehen.

Tatsächlich waren die wenigsten von ihnen je im Nationalpark. Denn um dorthin zu kommen, muss man mehrere Tage durch den dichten Dschungel wandern oder zwei Stunden mit dem Boot der dunkelgrünen Hügellandschaft der Bucht von Antongil entlangfahren. In einer Region, wo das Benzin teuer und die Armut gross ist, ein unerschwinglicher Luxus.

Wie Lemuren die Ernte verbessern

Eine schwierige Ausgangslage, um der nächsten Generation zu erklären, warum es so wichtig ist, den Primärwald und seine Bewohner zu schützen. Schwierig, aber nicht unmöglich, sagt Miora Malalasoa. Zusammen mit ihrem Mann Johnnah Ranariniaina unterrichtet sie im «Open Classroom» in Maroansetra. Das Projekt wird vom Zoo Zürich finanziell unterstützt und von der US-Organisation Wildlife Conservation Society umgesetzt. «Nur wenn die Kinder die Zusammenhänge zwischen der Natur und ihrem Alltag kennen, können sie verstehen, weshalb der Schutz so ungemein wichtig ist», erklärt die Lehrerin. 

Die Lemuren zum Beispiel sind wichtig, weil sie Samenkörner im und um den Wald herum verteilen. «Weniger Wald bedeutet weniger Regen. Und schlechteren Schutz vor Zyklonen. Das führt zu kaputten Feldern und schlechten Ernten. Schlechtere Ernte heisst weniger Nahrung und weniger Einkommen für die Leute», erklärt Ranariniaina. Das wiederum öffnet Tür und Tor für illegalen Handel.

Madagaskar ist eine Arche für Tiere und Pflanzen. Zwei Prozent aller Arten weltweit leben auf der Insel südöstlich vom afrikanischen Kontinent. 90 Prozent davon gibt es nur da. Masoala ist die Krönung davon, gewissermassen die Arche in der Arche. Ein Prozent aller Tier- und Pflanzenarten, die es auf der Erde gibt, sind in diesem kleinen Stück Restwald anzutreffen. Noch.

Masoala

Emediana hat einen Tarnkünstler entdeckt: Riesen-Plattschwanzgeckos gibt es nur auf Madagaskar.

Quelle: Rijasolo
Illegale Geschäfte mit Tieren und Pflanzen

Rosenholz, ein Sammelbegriff für bedrohte Arten aus der Gruppe der Palisanderhölzer, ist bereits fast komplett aus Masoala verschwunden. Ebenholz dürfte bald dasselbe Schicksal ereilen. Meist werden daraus Bodenbeläge und Möbel hergestellt, kleine Schnitzereien oder Instrumente. 

Hinzu kommt der illegale Tierhandel. Vor allem das Pantherchamäleon, aber auch andere Reptilien und Amphibien werden im grossen Stil gejagt und nach Asien, Amerika oder Europa verkauft.

Oft sind es nicht Auswärtige, die in den Wald eindringen und ihn plündern, sondern die Einheimischen selbst. Sie verdienen damit lächerlich wenig im Vergleich zum Gewinn der internationalen Händler. Doch in Madagaskar haben viele Menschen keine andere Wahl, wenn sie ihre Familien ernähren wollen. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei umgerechnet 30 Franken. «Manchmal zwingen einen die Umstände dazu, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun will», sagt Lehrer Ranariniaina. «Doch ich bin überzeugt, dass jeder Vater, der seinen Kindern Essen auftischt, das er mit schmutzigem Geld gekauft hat, eine Alternative wählen würde, wenn er eine hätte.»

Schutz für Regenwald und Korallenriffe

Der Masoala-Nationalpark auf der gleichnamigen Halbinsel im Nordosten Madagaskars wurde 1997 gegründet. Er 
umfasst 2100 Quadratkilometer Regenwald und drei Meeresreservate mit Korallenriffen. 

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Zum Beispiel der Fischer Patrick. Die Nachbarn hielten ihn für verrückt, als er vor zwei Jahren begann, Teiche zu bauen und Enten zu züchten. Die Bewohner des kleinen Dorfs am Ufer des Flusses Antainambalana bauen Reis an; das war schon immer so. Das Problem: Für die Reisplantagen werden jährlich etliche Hektaren Regenwald gerodet und abgebrannt, um neues Ernteland zu gewinnen. Dabei reicht der Ertrag kaum zum Leben aus. Für eine ausgewogene Ernährung werden zudem weiterhin Lemuren gejagt, denn sie sind eine wichtige Proteinquelle für die Anwohner.

«Es ist schwierig, den Leuten zu sagen, dass sie keine Lemuren jagen und die Wälder nicht abholzen sollen. Denn man weiss ja, dass sie praktisch keine Wahl haben», sagt Petra Lahann, Leiterin der Regionalstelle der Wildlife Conservation Society. Wenn man in dieser Region wirklich etwas verändern wolle, müsse man das Problem ganzheitlich angehen. Und das bedeutet in erster Linie, eine vernünftige Ernährungsgrundlage und alternative Einkommensquellen zu schaffen. Zum Beispiel, indem die Naturschützer Bauern wie Patrick helfen, Fischteiche und Entenzuchten aufzubauen.

Erfahren, dass Wissen reich macht

«Enten liefern Fleisch und Eier. Und mit ihren Exkrementen hat man Dünger, um Gemüse anzubauen, aber auch Fischfutter», erklärt Patrick den Studenten, die sich um seinen Fischteich versammelt haben. «Exkremente als Fischfutter?», fragt einer interessiert. «Ja, die Entenzucht hat mir geholfen, die Kosten für das Fischfutter massiv zu senken.» Ein überraschtes Raunen geht durch die Runde. «Ich mache das jetzt seit zwei Jahren, und ich verdiene genug damit, um meine Kinder auf eine Privatschule zu schicken», sagt Patrick. «Jetzt lachen die Nachbarn nicht mehr über mich.»

«Wegen solcher Erfahrungen ist Aufklärung so wertvoll», erklärt Lehrer Ranariniaina. Insbesondere in den ländlichen Gebieten lasse sich das Verhalten der Leute vor allem dann beeinflussen, wenn sie ein funktionierendes Vorbild sehen.

Doch Entwicklungshilfe hat nicht nur schöne Seiten mit glücklichen Bauern und wissensdurstigen Kindern. Mit der Gründung des Nationalparks und der massiven Verschärfung der Naturschutzgesetze im Land entstanden auch Probleme. Kritik gab es ebenfalls am Engagement des Zoos Zürich, der seit über 20 Jahren Projekte in Masoala finanziell unterstützt und mit der Eröffnung der Masoalahalle vor 15 Jahren eine zusätzliche Botschafterfunktion übernommen hat. 

Denn in Madagaskar regelt die Bevölkerung den Landbesitz seit Generationen nach traditionellem Recht – meist ohne staatliche Registrierung. Gerade in ländlichen Gebieten wie Masoala haben deshalb nur die wenigsten Bewohner rechtlich gültige Ansprüche auf ihr Land. Mit der Gründung des Nationalparks und seiner Einzonung hat man der lokalen Bevölkerung den Zutritt und die Nutzung verboten. Das wiederum hat zur Entrechtung der Bewohner geführt.

Masoala-Trailer

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Madagaskar ist einer der artenreichsten Orte der Welt. Viele Arten sind aber vom Aussterben bedroht. Der Zoo Zürich versucht den Wald und dessen Bewohner zu schützen.
Quelle:  

Martin Bauert, leitender Kurator des Zoo Zürichs und Verantwortlicher für das Masoala-Projekt, sagt es so: «Was in Madagaskar passiert, ist ein klassisches Aufeinandertreffen zweier Kulturen: eines modernen Rechtsstaats und einer traditionellen Denkweise, in der die Verwertung des Waldes mit wichtigen Vertretern bilateral verhandelt wird.» Obwohl die Verfassung des modernen Rechtsstaats seit 1880 gilt, das generelle Rodungsverbot in Madagaskar also nicht mehr wirklich neu ist, sorge es immer noch für Konflikte. 

Die Kritik, dass die Verschärfung der Naturschutzgesetze vor allem aufgrund massiven Drucks westlicher Geldgeberländer und Naturschutzorganisationen erfolgt sei, relativiert Bauert aber. «Die madagassische Regierung hat damals in Erwägung gezogen, eine Holzschlaglizenz für die gesamte Halbinsel Masoala an eine malaysische Firma zu vergeben. In dieser Situation haben wir der Regierung aufzuzeigen versucht, dass es auch andere Lösungen gibt, die sie unter anderem mit der Unterstützung des Zürcher Zoos erreichen könnte.»

Maroantsetra

Die Hafenstadt Maroantsetra liegt in der Nähe des Nationalparks.

Quelle: Rijasolo
Langfristig gibt es keine Alternative

Wie an vielen Orten sei die Erhaltung eines Nationalparks nicht nur eine biologische oder zoologische Fragestellung, sondern vielmehr ein sozioökonomisches Problem, sagt Bauert. «In diesen natürlichen Ökosystemen gibt es zahlreiche Ressourcen, die schnell genutzt werden könnten. Holz, Fische, Tiere, die man jagen und als Fleisch verkaufen kann.» 

Doch wenn die Wälder abgeholzt und die Tiere verschwunden sind, sind diese Grundressourcen weg. «Ein Bürgermeister einer Region Madagaskars, in der der Wald schon längst abgeholzt wurde, sagte mir einmal: ‹Den Wert des Waldes versteht man erst, wenn er nicht mehr da ist.› Und das ist genau die Krux. Einen Weg zu finden, der für die Bevölkerung kurzfristig, aber auch langfristig vernünftig ist.»

An einer langfristigen Lösung sind aber nicht alle interessiert. Denn nicht nur internationale Schwarzhändler machen Profit mit der Abholzung. Auch lokale Leute sind in den Handel eingestiegen. Ein Anwohner erzählt von einem kürzlich eröffneten Touristenhotel an der Grenze zum Nationalpark, das primär den Zweck habe, das durch die Abholzung illegal verdiente Geld zu waschen. 

Offen sagen würde das niemand, zu gross ist die Angst vor Repressionen. Denn auch die Regierung mischt kräftig mit. Seit 2009 verkauft sie per Dekret das kostbare Rosen- und Ebenholz. Dank Ausnahmegenehmigungen können Händler alte Lagerbestände verkaufen. 40'000 US-Dollar Gebühren sackt der Staat pro Containerladung ein. Nach einigen Jahren ist klar geworden, dass mehr Holz verkauft wurde als je zuvor. Die Restbestände füllten sich wie von Zauberhand mit frisch geschlagenem Holz.

Miora  Malalasoa

«Nur wenn die Kinder die Zusammenhänge zwischen der Natur und ihrem Alltag kennen, können sie verstehen, weshalb der Schutz so ungemein wichtig ist.» - In Maroantsetra unterrichtet Miora Malalasoa im «Open Classroom».

Quelle: Rijasolo
Hoffen auf die nächste Generation

Die Entwaldung auf der Masoala-Halbinsel ist seit der Gründung des Nationalparks auf unter ein Prozent pro Jahr gefallen. Dennoch befürchten Einheimische das Schlimmste. Wenn sich nichts ändere, werden in einigen Jahren die letzten Wälder Madagaskars abgeholzt sein, sagt Lehrerin Miora Malalasoa. 

Sie ist sich bewusst, dass es sehr schwierig ist, etwas gegen die mächtigen Schwarzhändler auszurichten. «Doch wenn ich mir die Kinder anschaue, die ich hier unterrichte, habe ich die grösste Hoffnung, dass unsere Zukunft dank ihnen eine bessere sein wird. Und dass es noch nicht zu spät ist, das Ruder rumzureissen.»

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Raphael Brunner, Redaktor
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