«Das ist ein uuh huere Brocke!»
Mit rund 30 Arten machen Mäuse einen Drittel der einheimischen Säugetierarten aus. Jürg Paul Müller kennt sie alle – und macht sich für den neuen Atlas der Säugetiere auf Mäusefang.
aktualisiert am 28. August 2017 - 15:17 Uhr
«Wir haben Glück», sagt Jürg Paul Müller. Er war sich nicht sicher, ob er heute etwas fangen würde, denn dieses Jahr sind nur ganz wenige Mäuse in seine Fallen getappt. Doch bereits die erste der 40 Metallfallen, die der Zoologe am Vorabend hier am Rand von Chur nah am Ufer des Rheins platziert hat, ist geschlossen. Vorsichtig hebt er sie vom Boden hoch und geht dann weiter, um die nächste Falle zu kontrollieren. Knapp eine Stunde bleibt ihm, denn bis spätestens 9 Uhr will er alle gefangenen Mäuse gesichtet, bestimmt, gewogen und wieder in die Freiheit entlassen haben.
Die Faszination für Mäuse hat Müller vor fast 50 Jahren, zu Beginn seines Biologiestudiums, gepackt, als er mit Freunden in einer Alphütte übernachtete. Als eine Maus auftauchte und jemand fragte, was für eine das denn sei, wusste Müller keine Antwort und beschloss, die kleinen Tiere zu studieren. Er widmete ihnen sowohl seine Diplom- als auch seine Doktorarbeit, hielt über die Jahre immer wieder Mäuse in Gefangenschaft, um ihr Verhalten zu studieren.
Die Begeisterung hat Müller bis heute nicht losgelassen – auch deshalb, weil das, was wir unter dem Begriff «Mäuse» zusammenfassen, eine so vielfältige Tiergruppe ist, die mit rund 30 Arten einen Drittel aller einheimischen Säugetiere ausmacht. «Eine Spitzmaus ist mit einer Schneemaus etwa so eng verwandt wie ein Fuchs mit einer Kuh», sagt Müller.
Während Spitzmäuse, von denen in der Schweiz elf Arten nachgewiesen sind, zusammen mit den beiden Maulwurfarten zur Ordnung der Insektenfresser zählen, gehören die Schneemaus und sieben weitere Wühlmausarten, vier Arten Schlafmäuse und sechs Langschwanzmausarten zur Ordnung der Nagetiere. Müller ist einer der wenigen in der Schweiz, die sie alle kennen.
«Spitz und Wühlmaus sind so verwandt wie Fuchs und Kuh.»
Jürg Paul Müller, Zoologe
Die ersten 20 Fallen sind kontrolliert, bei 15 stand die Klappe offen – sie sind leer. Bei den 5 geschlossenen Fallen warten wir gespannt auf den Inhalt. «Manchmal sind auch Nacktschnecken drin», dämpft Müller die Erwartung.
Doch als er die Klappe öffnet und den Inhalt des Metallbehälters vorsichtig in einen durchsichtigen Plastiksack kippt, kommt mit Stroh und Essensresten auch eine graubraune Maus mit grossen Ohren, grossen Knopfaugen und einem langen Schwanz zum Vorschein. Wild springt sie hoch und wird erst ruhiger, als Müller einen mit Äther beträufelten Wattebausch hineingibt.
«Es ist der Effekt eines Besäufnisses, nicht mehr», sagt er und mustert die helle Unterseite der Maus, als diese sich auf die Hinterbeine stellt und die Nasenspitze nach oben reckt. Das durchgehende gelbliche Band, das sich über ihren Halsbereich zieht, verrät ihm, dass es sich um eine Gelbhalsmaus handelt. Sie gehört zu den Langschwanzmäusen und ist die häufigste Art in Schweizer Wäldern.
Müller wägt sie samt Sack, zieht sich dann einen Handschuh über, ergreift das noch immer flinke Tier am Nackenfell und mustert es nochmals. «Ein diesjähriges Weibchen», sagt er und setzt es auf den Waldboden – und husch, ist die graubraune Maus auch schon im Laub verschwunden. In die Tabelle auf seinem Clipboard notiert Müller «Gelbrandmaus, weiblich, 30 Gramm».
Die Maus, die er aus der zweiten Falle kippt, unterscheidet sich für ungeschulte Augen in nichts von Maus Nummer eins: grosse schwarze Kulleraugen, grosse Ohren, langer Schwanz, graubrauner Körper und heller Bauch. «Waldmaus», stellt Müller fest und erklärt, dass sie anstelle eines durchgehenden Bandes nur einen gelblichen Fleck am Hals aufweist. «Auch ein diesjähriges Weibchen», hält er fest, bevor er sie in die Freiheit entlässt.
«Mäuse zeigen uns die ganze Breite der Biologie auf. Sie haben völlig verschiedene Lebensräume für sich erobert und ganz unterschiedliche Überlebensstrategien entwickelt», sagt Müller. So ist etwa die Wasserspitzmaus eine geschickte Schwimmerin, die am Grund von Bächen oder Teichen Jagd auf Kleinkrebse, Insektenlarven und Schnecken macht. Auch kleine Fische erbeutet die flinke Jägerin und tötet sie mit einem gezielten, giftigen Biss in die Kiemenregion.
Die Schneemaus lebt meist oberhalb der Baumgrenze und ist perfekt an das Leben in Felsspalten angepasst: Mit ihrem abgeflachten Schädel kann sie auch in schmale Zwischenräume kriechen, vergrösserte Schwielen an Händen und Füssen geben ihr gute Haftung beim Klettern. Und was man von Mäusen vielleicht nicht vermuten würde: Männchen und Weibchen pflegen oft über Monate einen freundschaftlichen Kontakt, bevor es zur Paarung kommt. Und sind die Jungtiere erst einmal da, hilft der Vater bei deren Pflege mit. Um den Winter zu überleben, füllt die Schneemaus ganze Vorratskammern mit getrockneten Gräsern und Kräutern.
Die Waldspitzmaus macht auch über den Winter Jagd auf Regenwürmer, Schnecken, Spinnen und Insekten. Jedoch schrumpfen ihre Organe im Winter, und auch ihre Knochen werden abgebaut. Erst im Frühling, wenn es wieder mehr Nahrung hat, wächst sie wieder.
«Wir wissen heute viel mehr über Mäuse als vor 50 Jahren. Aber es gibt noch immer viele Wissenslücken, was die genaue Verbreitung der Arten betrifft. In den hiesigen Höhenlagen zum Beispiel gibt es wohl viel mehr Mäuse, als wir heute kennen», sagt er.
Einige dieser Wissenslücken soll Müller schliessen für den neuen Atlas der Säugetiere, der auf Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für Wildtierbiologie SGW-SSBF bis 2020 erstellt wird. Er stellt an verschiedenen Stellen der Schweiz seine Fallen auf, um herauszufinden, welche Arten von Mäusen dort vorkommen.
Seine Funde teilt Müller dann dem Schweizerischen Zentrum für die Kartografie der Fauna (SZKF) in Neuenburg mit, auf dessen Daten auch der neue Atlas der Säugetiere aufbauen wird. Zudem klappert Müller alte Sammlungen der Naturhistorischen Museen ab und meldet die dort konservierten Tiere ebenfalls beim SZKF.
Kurz vor 9 Uhr leert Müller in Chur die letzte seiner 40 Fallen. Er hofft auf eine Waldspitzmaus oder eine Rötelmaus, denn alle elf Mäuse, die er bisher bestimmt hat, waren Wald- oder Gelbhalsmäuse. In den Plastiksack fällt erneut eine Gelbhalsmaus. Sie ist aber um einiges grösser als die Tiere, die er bisher bestimmt hat. Ein Männchen, die Waage zeigt 45 Gramm. «Das ist ein uuh huere Brocke! Der hat sicher den letzten Winter überstanden», sagt er und fährt schmunzelnd fort: «Solche Cheffen sind manchmal sehr neugierig und schauen mir dabei zu, wie ich meine Fallen kontrolliere. Vielleicht um zu sehen, was ich mit ihren Weibern mache.»
Aber der Mäuserich hat genug gesehen. Er verschwindet mit ein paar flinken Sprüngen zwischen den Bäumen.
Haben Sie auf Ihrer letzten Bergwanderung einen Steinbock gesichtet? Ist ein Igel oder ein Fuchs durch Ihren Garten spaziert?
Solche Beobachtungen sind sehr wertvoll für den neuen Atlas der Säugetiere, der auf Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für Wildtierbiologie SGW-SSBF bis ins Jahr 2020 erstellt wird.
1995 erschien der Atlas der Säugetiere der Schweiz erstmals. Nun wird das Werk, das einen Überblick über die heimischen Säugetiere und deren Verbreitung liefert, überarbeitet.
Melden Sie Beobachtungen mit Datum und Ort unter www.wildenachbarn.ch.
Bringt Ihre Katze eine Maus oder einen anderen Kleinsäuger nach Hause, den Sie nicht selber bestimmen können, helfen Ihnen die Experten eines der 14 am Projekt beteiligten Naturmuseen oder Tierpärke gerne weiter.
1 Kommentar
Danke für den Artikel, Mäuse haben mich schon immer interessiert. Was mir hier fehlt: Was ist der Stand ihrer Verbreitung, wie gefährdet sind die einzelnen Arten? Offenbar war ja die "Ernte" auch hier bei den Mäusen nicht so reichlich wie in anderen Jahren. Wär schön, eine fachkundige antwort zu bekommen, danke.