Die ewige Zweite
Der Bund will Bauern die Arbeit erleichtern, deren Land in viele kleine Parzellen unterteilt ist. Darunter leidet die Biodiversität. Doch das müsste nicht sein.
Veröffentlicht am 12. Mai 2022 - 14:58 Uhr
Ein Montagmorgen Ende März. Drei Männer treffen sich an der Ergolz in Rothenfluh BL. Bruno Erny, er leitet den Botanischen Garten in Basel und präsidiert den örtlichen Naturschutzverein, Christian Kröpfli vom kantonalen Amt für Landwirtschaft und der Landwirt Mathias Mumenthaler.
Erny, der Naturschützer, zeigt auf die Stelle, an der der Biber die Ergolz gestaut hat. Der Damm ist weggespült. Zurückgeblieben sind eine vom Stauwasser angenagte Uferböschung und ein angrenzendes feuchtes Stück Land. «Heuen kannst du dort nicht mehr», brummt Mumenthaler, der Landwirt. Kröpfli, der Kantonsbeamte, fragt sich dagegen, wie es wäre, wenn die Böschungen entlang des Ufers dem Kanton gehörten. Die Ergolz könnte sie nach Lust und Laune modellieren, solange sie die Wiesen dahinter in Ruhe liesse. «Es würde weniger stören.»
Ernys Augen leuchten. «Die Ergolz dürfte sich ihr altes Bett zurückholen.» Sie würde Seitenarme bilden, Sumpfkräuter, Grasfrösche und Eisvögel anlocken, Graureihern genügend Futter bieten. Sie wäre ein Eldorado der Artenvielfalt.
Das klingt wie ein Traum. Aber in Rothenfluh, einer Gemeinde mit rund 780 Einwohnern, läuft seit 2017 eine Melioration. Dabei geht es um Folgendes: Es gibt Gemeinden, die aus Sicht der Bauern der reinste Horror sind. Weil das Landwirtschaftsland im Lauf der Jahrhunderte aufgrund der Erbteilung arg zerstückelt wurde. Anstelle von wenigen grossen Parzellen besitzen die Bauern viele kleine, die auch noch über das ganze Gemeindegebiet verstreut liegen. Sie müssen also auf ihren Traktoren kreuz und quer durch die Gegend fahren, um ihr Land zu bewirtschaften. Das kostet Zeit, Sprit und Nerven.
«Von der Natur ist fast nichts mehr übrig geblieben.»
Bruno Erny, Naturschutzverein
Meliorationen sollen das ändern. Vereinfacht gesagt läuft das so ab: Die vielen winzigen Parzellen kommen in einen Topf und werden neu verteilt. Ein kleines Stück geht an die öffentliche Hand. Der grosse Rest an die Bauern. Und zwar so, dass jeder nun tatsächlich nur noch wenige grosse, zusammenhängende Parzellen besitzt. Das erleichtert ihnen die Arbeit schon mal sehr, was auch das Ziel von Meliorationen ist: die Landwirtschaft profitabler zu machen. Meistens werden für die Bauern gleich noch neue Strassen gebaut und Rohre in die Erde eingelassen, um feuchte Wiesen trockenzulegen.
Hunderte Gemeinden in der Schweiz wurden schon melioriert. Naturschützer Erny hoffte lange, dass Rothenfluh verschont bleibt. Zu abschreckend seien die Beispiele aus der Umgebung. «Von der Natur ist fast nichts mehr übrig geblieben.» Und bald werden auch in seiner Gemeinde die ersten Bagger auffahren. Erny schaut entschlossen, er hat sich vorgenommen, das Beste draus zu machen. In Rothenfluh könnte, auch dank ihm, die Natur ausnahmsweise einmal gestärkt aus einer Melioration hervorgehen.
In Rothenfluh, wo rund 1500 Parzellen mit einer Fläche von 550 Hektaren betroffen sind, kostet sie rund acht Millionen Franken. In manchen Gemeinden sind es bis zu 30 Millionen. Weil eine profitablere Landwirtschaft allen zugutekommt, werden auch alle zur Kasse gebeten. Bis zu 85 Prozent der Kosten stemmen die Steuerzahler.
Doch es gibt einen Haken. Wo melioriert wird, geht die Biodiversität verloren. Denn wo ein Mosaik aus vielen kleinen Parzellen zu einer einzigen grossen Fläche zusammengelegt wird, verschwinden Hecken und ungenutzte Grasstreifen. Auf neuen Strassen kommen die Bauern mit ihren Anhängern voller Dünger oder mit ihren Mähmaschinen gut durch. Wo entwässert wird, verschwinden Bäche und Feuchtgebiete. Und wenn die Biodiversität leidet, leidet irgendwann auch alles andere – zuallererst die Landwirtschaft.
Deshalb verpflichtete sich der Bundesrat 2010 in einer Uno-Konvention dazu, alle Subventionen abzuschaffen, die der Biodiversität schaden. Die Frist ist vor zwei Jahren abgelaufen, aber immer noch fliessen jährlich rund 15 Millionen Franken Bundesbeiträge in Meliorationen, hinzu kommen fast noch mal so hohe Kantonsbeiträge.
Eigentlich würde es reichen, die Direktzahlungen so zu verändern, dass sie der Biodiversität nichts mehr anhaben. Das Bundesamt für Landwirtschaft hat das versucht und ein Gesetz formuliert. Es schreibt vor, dass nur Meliorationen unterstützt werden, die auch die Naturvielfalt schützen und fördern. Zusätzlich hat das Amt den Naturschutz zu einem Hauptziel von Meliorationen erkoren. Wo also liegt das Problem?
Der Anstoss zu einer Melioration kommt oft «von unten», von den Bauern, die genug haben von ihren zerstückelten, winzigen Parzellen. Wer nicht Grundeigentümer ist, darf bei Meliorationen aber nicht wirklich mitreden. Höchstens von den hintersten Bänken aus, bei Anhörungen und Bürgerforen.
Auch Landwirte, die Land besitzen und eigentlich ganz zufrieden mit ihrer Situation sind, haben einen schweren Stand. Mathias Mumenthaler, der Landwirt aus Rothenfluh, könnte ein Lied davon singen. Er war wie Bruno Erny zunächst gegen die Melioration. «Sie ergibt für mich keinen Sinn.» Weil schon sein Vater die Güter in Eigenregie durch Landtausch zu ein paar wenigen grossen Parzellen zusammenlegte.
Aber wenn die Mehrheit der Grundeigentümer für die Melioration stimmt, wie in Rothenfluh, dann ist sie beschlossene Sache. Die Landbesitzer bilden dann eine Genossenschaft und wählen aus ihren eigenen Reihen heraus eine Kommission. Die steuert das Projekt und passt auf, dass alles nach Plan läuft.
Meliorationen sind also von Beginn an fest in den Händen der Bauern. Die Aufsicht liegt bei den Landwirtschaftsämtern, den kantonalen und demjenigen des Bundes. Es ist wie ein exklusiver Club: nur für Mitglieder aus Landwirtschaftskreisen. Mumenthaler arrangierte sich irgendwann mit der Melioration, wurde gar Präsident der Kommission. «So kann ich wenigstens mitreden.»
Der Landwirt und seine beiden Begleiter haben das Ufer der Ergolz mittlerweile verlassen und stehen nun an einem Hang auf einem Mergelweg. Sie bücken sich zu einem dicht bewachsenen Graben, der den Weg säumt. Bei Regen sammelt sich hier das Wasser.
Naturschützer Erny erzählt, was sich in so einem offenen Weggraben alles tummelt: Amphibien, Mörtelbienen, Hermeline und so weiter. Mumenthaler, der Landwirt, und Kröpfli, der Kantonsbeamte, staunen. Solche Weggräben sind selten geworden, seit Wiesen, Weiden und Felder über unterirdische Rohre entwässert werden.
Erny möchte im Rahmen der Melioration weitere Gräben anlegen. Das könnte klappen. Denn Erny ist in der Welt der Meliorationen eine Ausnahme: ein Naturschützer, der in einer Kommission sitzt. In jener von Rothenfluh hat er den Posten des Aktuars inne. Er wolle der Natur eine Stimme geben, sagt er. Mumenthaler unterstützt ihn an den Kommissionssitzungen, wo er kann. Auch Kröpfli ist froh, dass sich Erny so ins Zeug legt. «Nur wenn sich die Naturschützer aus dem Ort selbst einbringen, lässt sich für die Biodiversität das Maximum rausholen.»
Erny kann sich nur deshalb in der Kommission einbringen, weil sein Verein in der Gemeinde Grund besitzt. Und weil der Kanton Basel-Landschaft die Bekenntnisse des Bundesamts für Landwirtschaft ernst nimmt. Zur Erinnerung: Es gibt da ein Gesetz, dass Meliorationen die Biodiversität fördern müssen, und ein Hauptziel namens Naturschutz.
Das Gesetz sei «relativ offen» formuliert, heisst es in Bern. Man könnte auch sagen: vage. Jeder Kanton kann etwas anderes hineinlesen. Wer will, versucht, das Maximum für die Biodiversität rauszuholen. Wer nicht will, hält sich an das Minimum, das nach unten hin nicht genau definiert ist. Das Bundesamt für Landwirtschaft kennt das Problem. Noch in diesem Jahr will es mit Hilfe einer Studie nach Lösungen suchen.
«Die Landwirtschaft soll Hauptprofiteurin der Massnahmen sein.»
Bundesamt für Landwirtschaft
Und was ist mit dem Naturschutz? Das Bundesamt holt allfällige Erwartungen schnell wieder runter auf den Boden der Realität. «Die Landwirtschaft soll Hauptprofiteurin der Massnahmen sein, denn es handelt sich bei den ausbezahlten Beträgen um landwirtschaftliche Gelder», stellt es fest.
Das ist das grundsätzliche Problem: Die Biodiversität ist die ewige Zweite, der Landwirtschaft nicht ebenbürtig. Vielleicht gar nicht so schwer, Meliorationen ökologischer zu gestalten. Man muss nur die Biodiversität genauso wichtig nehmen wie die Interessen der Bauern. Oder begreifen, dass der Erhalt der biologischen Vielfalt in höchstem Masse ein Interesse der Bauern ist.
Die heutige Praxis ist davon weit entfernt. Eines von vielen Beispielen: Disentis im Bündner Oberland soll für 30 Millionen Franken melioriert werden, davon fliessen über 24 Millionen in den Neu- oder Ausbau von Güterstrassen, insgesamt rund 38 Kilometer, und nicht einmal eine Million in sogenannte ökologische Massnahmen.
Bevor Erny seine kleine Tour durch Rothenfluh beendet und sich verabschiedet, schaut er noch mal runter zur Ergolz, die in der Sonne glitzert und vielleicht bald in ihr altes Bett zurückdarf. Ausnahmen bestätigen die Regel.