Die letzte Ausfahrt für Autowracks
Rund 80'000 Schweizer Autos landen jedes Jahr im Schredder. Was passiert mit den ausgedienten Wagen in der Recyclinganlage?
Veröffentlicht am 31. Oktober 2011 - 08:26 Uhr
«Eine Reparatur lohnt sich da nicht mehr», sagt der Garagist und fährt die Hebebühne herunter. Linda Meili schaut ihren roten VW Golf traurig an. Immerhin 2300 Kilometer weit hat er sie gefahren, da stecken viele Erinnerungen drin. Dann kam dieser Unfall – ein leichter Frontschaden nur, den die Autoversicherung aber als Totalschaden taxierte. «Vielleicht entdecken Sie ja die Scheinwerfer oder die Stossstange in Ihrem nächsten Auto», versucht der Garagist die junge Frau zum Abschied zu trösten.
Gut möglich, dass sie den Teilen wieder begegnet. Denn die Zeiten, da ein Altauto als zusammengestampftes Blechpaket im Stahlofen eingeschmolzen wurde, sind vorbei. Viele Fahrzeugkomponenten sind heute wiederverwertbar – und werden in einem aufwendigen Recyclingprozess aufbereitet. Auch der Umwelt zuliebe.
Grob lässt sich dieses Verfahren in zwei Phasen einteilen: In einem ersten Schritt entfernen die Autoverwerter gut erhaltene Teile. Anschliessend werden in Schredderwerken ihre wertvollen Rohstoffe wie Stahl, Aluminium und Kupfer von nicht recycelbaren Stoffen getrennt, um so als Baustahl oder hochwertiger Qualitätsstahl wieder genutzt werden zu können. Aber wie wird aus Linda Meilis Golf ein Gebäude oder die Karosserie eines neuen Autos?
Rund 1500 Autos werden jährlich in der Autoverwertung Truninger AG in Sulz ZH, einem der rund 70 Autoverwerter in der Schweiz, ausgeschlachtet und die Ersatzteile an Garagen oder Privatpersonen weiterverkauft. «Unfallwagen wie der von Frau Meili sind für uns meistens wertvoller als Altautos, die ebenfalls zu uns gebracht werden – sie sind in der Regel jünger und ihre Teile besser verwertbar», erklärt Andreas Kaufmann, Geschäftsführer der Autoverwertung Truninger AG und Präsident der Vereinigung der Autosammelstellenhalter der Schweiz und des Fürstentums Liechtenstein.
In einem ersten Schritt bekommt jedes Auto eine Identitätsnummer verpasst: Fahrzeugtyp, Käufer und Verkäufer, Baujahr, Kilometerstand, Fahrgestellnummer – alles wird erfasst. Erst dann beginnt die eigentliche Arbeit der Autoverwerter. Motor, Getriebe, Scheibenwischermotoren: Welche Teile funktionieren noch? Und welche sind auf dem Markt wirklich gefragt?
Schritt für Schritt nimmt Karosseriespengler Roman Leonhard den roten Golf auseinander, schraubt die Heckleuchten ab, die Stossstange, die Heckklappe und die vier Türen. Auch der Motor wird geprüft. Anschliessend wiegt das Auto etwa 850 Kilo – vorher war es eine Tonne schwer. «Bei einem VW Golf können wir viel verkaufen. Die Marke ist beliebt», freut sich Andreas Kaufmann. Dabei ist die Autotypenvielfalt auf Schweizer Strassen gross, und genau das stellt die Teileverwerter vor eine schwierige Aufgabe: Jedes Teil muss technisch präzise bestimmt und etikettiert werden, denn Ersatzteil und neues Fahrzeug müssen hundertprozentig kompatibel sein.
Wer dann mit dem Autoverwerter die grosse Lagerhalle betritt, muss kein Hobbyschrauber sein, um beeindruckt zu staunen. In unendlich langen Regalböden reiht sich Autotür an Autotür, Stossstange an Stossstange. Rund 55'000 Ersatzteile, darunter 1899 Anlasser, 1100 Scheinwerfer, 1347 Getriebe und 1800 Motoren, warten hier auf ihren nächsten Einsatz. Wie lange die Ersatzteile hier im Lager bleiben, hängt von der aktuellen Marktlage sowie der Nachfrage ab.
Aber noch eine Aufgabe fällt den Autoverwertern zu: Die ausgedienten Fahrzeuge müssen «trockengelegt» werden, das bedeutet: Öle, Betriebsflüssigkeiten und Treibstoffe sowie Batterien, Reifen, Katalysatoren werden entnommen und entsorgt. Erst dann dürfen die ausgeschlachteten Karosserien zu einem der sieben Schredderwerke in der Schweiz abtransportiert werden.
Laut dem Bundesamt für Umwelt werden hierzulande jährlich rund 240'000 Autos abgemeldet. 2010 landeten davon etwa 80'000 im Schredder – zum Beispiel bei der Wiederkehr Recycling AG im aargauischen Waltenschwil.
Laut tönt dort das Malmen des grossen, dunkelgrünen Kastens über das Gelände. Direkt neben dem Schredder türmt sich ein imposanter Schrottberg aus ausrangierten Kühlschränken, Edelstahlregalen und ausgeschlachteten Autos auf. Immer wieder fährt der Bagger vor dem Riesen auf und ab. Sein langer Arm greift sich ein Wrack, schüttelt es, legt es wie ein zertretenes Spielzeugauto von der einen auf die andere Seite. Dann zieht sein Greifer den Tank aus dem Skelett. «Wir müssen zuerst prüfen, ob die Autos ordnungsgemäss trockengelegt wurden. Wenn nicht, droht im Schredder eine Explosion», erklärt Thomas Peterhans, Leiter der Abteilung Technik und Konstruktion bei der Wiederkehr Recycling AG.
Erst dann hebt ein zweiter Bagger den Schrott auf ein Förderband – etwa 50 bis 60 Tonnen pro Stunde. Das Schreddern ist so einfach wie effektiv: Im Inneren der Anlage zerschlägt eine 45 Tonnen schwere Walze die Schrottteile. Durch ihre Rotationsbewegung zerkleinert und schleudert sie die Stücke durch einen Rost. Sind die Teile zu gross, fallen sie wieder hinunter und werden erneut zerkleinert, bis sie durch den Rost passen und über ein Förderband abtransportiert werden: ein Gemisch aus Stahl, Aluminium, Messing, Kupfer, Gummi, Kunststoffen und Staub.
Bevor die Rohstoffe getrennt werden, entstaubt ein Luftstrom die Teile. Anschliessend ziehen sie auf einem Förderband an Magnetwalzen vorbei. So wird der magnetische Stahl vom Rest getrennt.
Bei der nächsten Station heisst die Methode «Schwimm-Sink-Verfahren». In einem Becken mit Flüssigkeit steigen die nichtrezyklierbaren Gummi- und Kunststoffstücke an die Oberfläche, während der Rest aufgrund seiner höheren Dichte sinkt. Auf dieselbe Weise kann dann, in einem zweiten Becken, das Aluminium «abgeschöpft» werden.
Jetzt sind Kupfer- und Messingstücke an der Reihe. Röntgenstrahlen sollen die Rohstoffe auf dem Förderband erkennen, und ein Prozessor errechnet, wo genau sie sich gerade befinden. Luftdüsen pusten sie dann mit grossem Druck an den entsprechenden Stellen in die richtigen Behälter. «Natürlich bleibt immer auch ein Rest des Gemischs übrig, der dann von Hand sortiert wird», sagt Thomas Peterhans.
Etwa 80 Prozent eines Autos können so rezykliert werden. Wie viel von jedem Rohstoff gewonnen wird, hängt zum Teil vom der Marke ab. «Ein Audi kann eine Aluminiumkarosserie haben. Da gewinnen wir zum Beispiel mehr Aluminium als bei einem VW Golf mit einer Stahlkarosserie», erklärt der Recycling-Experte.
Der Preis für eine Tonne Stahlschrott liegt momentan bei 330 Franken. Ein Grossteil der Stoffe wird über die Schiene transportiert. Fünf bis sechs Wagen rollen täglich in Waltenschwil vom Hof. Ihr Ziel sind zum Beispiel die Stahlwerke in Gerlafingen und Emmen. Dort wird der Stahl eingeschmolzen und weiterverwertet. So wie die Teile von Linda Meilis rotem Golf.