Sie tun es in Mexiko, in Vanuatu, in Ungarn und in Kanada. In den Niederlanden, in Südafrika und auch in der Schweiz. In mehr als 40 Ländern ziehen Menschen Konzerne und Regierungen vor Gericht – wegen des Klimawandels. Mal geht es um zu hohe CO2-Emissionen und Schadenersatz, mal um Umsiedlungen, zu lasche Klimagesetze und Greenwashing. Immer häufiger auch um die Verletzung von Menschenrechten. 

Die Zahl der Klimaklagen ist regelrecht explodiert. Weltweit sind es mehr als 2000, ein Viertel davon wurde in den letzten drei Jahren eingereicht. 2023 könnte das entscheidende Jahr für Klima-Rechtsfälle werden. Denn in verschiedenen Ländern werden wegweisende Urteile erwartet. Sie könnten der Gamechanger für weitere Klagen weltweit sein. 

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Eine zentrale Rolle spielt dabei ein Schweizer Fall: die Klage der Klimaseniorinnen. Sie reichten sie 2016 gegen den Schweizer Staat ein. Er tue zu wenig, um sie gegen die Auswirkungen des Klimawandels zu schützen und die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Gerade ältere Frauen seien besonders stark betroffen und in ihren Grundrechten bedroht. Die Klägerinnen blitzten zwar 2020 vor Bundesgericht ab Klimaschutz Seniorinnen verlieren vor Gericht . Sie zogen den Fall aber weiter nach Strassburg, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). 

Dort wird der Schweizer Fall jetzt als erste einer ganzen Reihe von Klimaklagen verhandelt. Weil die Anhörung vom 29. März vor der Grossen Kammer stattfindet, bekommt der Fall viel Aufmerksamkeit. Es wird ein Leiturteil erwartet. Wenn die älteren Schweizer Frauen ihr Anliegen vor den Richterinnen und Richtern erläutern, schaut die ganze Welt aufmerksam zu. 

Auch Juristinnen blicken gespannt nach Strassburg, zum Beispiel Helen Keller, die bis vor drei Jahren selber als Richterin am EGMR amtete. Heute erforscht sie mit der Rechtswissenschaftlerin Corina Heri an der Uni Zürich, wie Gerichte bei Klimaklagen zu gerechten Urteilen finden.

Frau Keller, gehört die Klimakrise überhaupt in den Gerichtssaal?
Durchaus! Man muss den Menschen, die sich durch die Auswirkungen der Klimakatastrophe bedroht fühlen, zugestehen, dass sie den Rechtsweg beschreiten. Damit erinnern sie die Entscheidungstragenden daran, was deren Pflichten sind: die Menschenrechte zu garantieren und uns vor dem Klimawandel zu schützen. 

Aber ist das nicht Aufgabe der Politik? So wird das Gericht doch von Aktivisten missbraucht. 
Wenn Google beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) klagt, weil der Konzern von der EU-Kommission eine Milliardenbusse bekommen hat, sagt auch niemand: «Oh, das ist jetzt Missbrauch!» Im Gegenteil. Google schöpft seine Rechtsmittel aus, darauf hat die Firma Anspruch. Egal, um welches Anliegen es sich handelt: Man kann nicht von Missbrauch sprechen, nur weil jemand den Rechtsweg beschreitet.

Helen Keller

Helen Keller ist Professorin für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich und Richterin am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina. Von 2011 bis 2020 war sie Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Quelle: PD

Wären Sie gern als Richterin bei der Verhandlung der Klimaklagen dabei?
Nein, ich bin froh, dass ich diese Entscheidungen nicht treffen muss. 

Glauben Sie, diese Fälle machen den heutigen Richterinnen und Richtern Bauchweh?
Mir würden sie, denn es sind sehr komplexe und gleichzeitig entscheidende Fragen. Aber vielleicht ist es für diejenigen im Amt eine klare Sache. Ich glaube, dass ich momentan den leichteren Job habe, weil ich die Verfahren wissenschaftlich begleiten und Ideen liefern kann.

Helen Keller und Corina Heri fokussieren bei ihrer Forschung auf Fälle, bei denen es um Menschenrechte geht und Staaten verklagt wurden. Dazu sammeln sie in einer Datenbank laufend Klimaklagen aus aller Welt, analysieren Urteile und Argumente und zeigen mögliche Argumentationslinien für verschiedene neue Probleme auf. Das soll es den Gerichten erleichtern, zu Entscheiden zu kommen. 

Frau Heri, immer mehr Klimaklagen beziehen sich auf Menschenrechte. Warum?
Der fortschreitende Klimawandel betrifft verschiedene Facetten des Menschenlebens und damit auch der Menschenrechte. Das wird immer deutlicher. Häufig geht es um die Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention: um das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Andere beklagen auch, dass sie keinen Zugang zu einem Gericht hatten, ihre Anliegen nicht geprüft wurden oder sie diskriminiert wurden. Manchmal geht es auch um das Recht auf Eigentum. 

Wieso sind Klimaklagen eine besondere Herausforderung für Gerichte?
Die Dossiers sind enorm umfangreich. Bei anderen Menschenrechtsfällen, etwa wenn jemand in einem überfüllten Gefängnis sitzt und wegen der unmenschlichen Bedingungen klagt, ist der Fall überschaubar. Bei Klimaklagen hingegen hat man Mammutprozesse. Einer der Fälle, die beim EGMR hängig sind, richtet sich gegen 33 Staaten. Es ist auch nicht immer klar, wer das Opfer ist, weil die Klimaerwärmung die ganze Gesellschaft tangiert. Viele Klägerinnen und Kläger argumentieren mit der stärkeren Betroffenheit einer bestimmten Gruppe, etwa älterer oder auch besonders junger Menschen. Um solche Argumentationen zu belegen, gibt es wissenschaftliche Berichte mit mehreren Hundert Seiten. Das ist eine ganz andere Dimension als bei jemandem, der im Gefängnis misshandelt wurde und ein Arztzeugnis mit Bildern von blauen Flecken oder Verbrennungsspuren vorlegt. 

Müsste man nicht kapitulieren und sagen: «So etwas kann ein Gericht gar nicht stemmen»?
Keller: Der Rechtsweg steht den Betroffenen offen. Das gehört zu unserem Rechtsstaat und zur institutionellen Absicherung der Menschenrechte in Europa. Das Gericht muss nehmen, was kommt, und beurteilen, ob es zuständig ist. Das ist bei Klimaklagen einer der Knackpunkte. 

Wieso?
Heri: Weil es ein weltweites Phänomen ist. Das CO2 hält sich nicht an Landesgrenzen. Wir haben das Problem, dass Staaten in Europa und Nordamerika über Jahrzehnte viel ausgestossen haben. Die existenziellen Folgen des Klimawandels finden aber auch an ganz anderen Orten der Welt statt. Wenn etwa eine bedrohte kleine Inselgruppe im Pazifik klagen will: Ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dann zuständig? Und wie geht man zum Beispiel mit der Regel um, dass zuerst die nationalen Instanzen durchschritten werden müssen, bevor man zum EGMR gelangen darf? Beim Fall der portugiesischen Jugendlichen, die gegen 33 Staaten klagen, muss der Gerichtshof die Frage beantworten, ob diese Regel im Zusammenhang mit dem Klima Sinn macht.

Corina Heri

Corina Heri ist Juristin und forscht an der Universität Zürich zu Klimaklagen. Sie leitet das Forschungsprojekt «Climate Rights and Remedies».

Quelle: PD

Wenn der EGMR bei diesen komplizierten Fragen von bisherigen Prinzipien abweicht, öffnet er dann nicht Tür und Tor für Klimaklagen aus der ganzen Welt?
Keller: Der Gerichtshof muss sich das gut überlegen und am Ende auch die Konsequenzen tragen. Man kann die Hürden für Klimaklagen nicht einfach erhöhen, nur weil mehr Menschen und Staaten involviert sind. Das liefe den Menschenrechten zuwider. Aber zugleich ist es wahnsinnig schwierig, herauszufinden, wo man anknüpft und wer genau für welche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden soll. Klimaklagen stellen unser Rechtssystem auf den Kopf. Für ein Gericht ist es nicht einfach, ein Urteil zu fällen, das im Einzelfall nur punktuelle Dinge klären kann, aber gleichzeitig im Hintergrund schwierige Gerechtigkeitsfragen aufwirft. 

2015 gewannen Umweltschützerinnen und Umweltschützer einen Prozess gegen die Niederlande (siehe «Wichtige Urteile»). Die Regierung habe zu wenig gegen den Klimawandel getan und damit ihre Fürsorgepflicht verletzt. Das Gericht ordnete eine Reduktion der Emissionen an und berief sich unter anderem auf die Europäische Menschenrechtskonvention.

Der Entscheid ging um die Welt und löste viele weitere Klagen aus, in denen es ums Klima und um Menschenrechte geht. Man habe realisiert, dass diese Argumente vor Gericht erfolgreich sein können, sagt Corina Heri. Auch die Klage der Schweizer Klimaseniorinnen sei davon inspiriert worden. Die grosse Zahl von Klimaklagen zeige auch, wie unterschiedlich die Anliegen seien: Es gehe nicht mehr nur darum, dass Staaten ihre Emissionen nicht genug reduziert hätten, sondern zum Beispiel auch um Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel, etwa um Schutzwälle.

Kann sich der EGMR bei seinem Entscheid an anderen Gerichtsurteilen orientieren? 
Heri: Ja. Es gibt aus unserer Sicht Entscheide, die sehr gut begründet sind und als Vorbild dienen können. Zum Beispiel hat das deutsche Bundesverfassungsgericht 2021 die Regierung und das Parlament daran erinnert, dass es durchaus verbindliche Vorgaben im Völkerrecht gibt. Der Deutsche Bundestag hat nach dem Urteil innert weniger Wochen das Klimaschutzgesetz erheblich verschärft. Das ist ein Fall, der vermutlich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beeinflussen wird. 

Bei der Klage der Klimaseniorinnen argumentierte das Schweizer Bundesgericht, dass ihre Lage noch nicht schlimm genug sei und noch Zeit bleibe, um das Klima zu schützen. 
Keller: Rückblickend muss man sagen, dass es sich die Schweizer Behörden und Gerichte damit ein bisschen einfach gemacht haben. Es wurde auch argumentiert, dass mehr Klimaschutz in einer Demokratie nur über den Gesetzgebungsprozess zu erreichen ist. Das macht als Rechtfertigung keinen Sinn, wenn Grundrechte in Gefahr sind. Ich bin gespannt, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit diesem Argument umgeht.

Wie wird das Urteil in Strassburg ausfallen?
Keller: Ich würde sagen, die Chancen für die Klägerinnen sind sehr gut. Von den drei zurzeit verhandelten Klimaklagen sicher am besten. Abgeschmettert wird die Klage wohl kaum, denn sie erfüllt die verfahrenstechnischen Voraussetzungen weitgehend.

Hätte ein Erfolg der Klimaseniorinnen Folgen für die Schweiz?
Keller: Seit dem ersten Gerichtsentscheid hat die Schweiz das CO2-Gesetz an der Urne abgelehnt, jetzt stimmen wir bald über den Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative ab. Ob das Volk diesmal seine Meinung ändert, weiss ich nicht. Wenn aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt, dass die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht genügend wahrnimmt, wird das den Druck für einen griffigen Klimaschutz hierzulande sicher erhöhen. 

Wichtige Urteile, die Veränderungen bewirkten

  • Urgenda gegen die Niederlande
    Die Umweltschutzorganisation Urgenda gewann 2015 gegen den niederländischen Staat. Der Fall dient als Inspiration für viele ähnliche Klagen in aller Welt. Das höchste niederländische Gericht befand 2019 endgültig, dass die Klimapolitik gegen Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstösst, und ordnete eine Reduktion der Emissionen an. Die Regierung sei rechtlich verpflichtet, einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern.
  • Deutsches Bundesverfassungsgericht 
    Das höchste Gericht Deutschlands entschied 2021, dass das deutsche Klimaschutzgesetz nicht mit den Grundrechten vereinbar ist. Die bestehenden Massnahmen verschöben die nötigen Reduktionen der Emissionen in die Zukunft. Das ziehe Einschränkungen der Freiheit künftiger Generationen nach sich. Das sei nicht zulässig. Die Regierung musste ihre Klimapolitik drastisch verschärfen.
  • Daniel Billy und andere gegen Australien
    Indigene klagten in ihrem Namen und in dem ihrer Kinder vor dem Uno-Menschenrechtsausschuss gegen Australien. Die Regierung habe ihre Rechte als Bewohner niedrig gelegener Inseln verletzt, weil sie beim Klimawandel untätig blieb. Der Ausschuss befand 2022, dass Australien die Indigenen nicht genügend schütze und sie entschädigen müsse.