Mit der Schere auf Nachbars Hecke los?
Überhängende Äste, freche Wurzeln aus Nachbars Garten: Das sogenannte Kapprecht erlaubt, sie zu stutzen. Aber Achtung: nur unter gewissen Bedingungen!
aktualisiert am 2. April 2024 - 17:16 Uhr
Knospen treiben, Blüten brechen auf, Samen keimen – wer einen Garten besitzt, freut sich im Frühling besonders über das Erwachen der Natur. Doch meist reicht die Freude nur bis zum Gartenzaun, denn die Blütezeit bringt oft auch Nachbarschaftskonflikte rund um Pflanzen mit sich. Was tun, wenn die überhängenden Äste von Nachbars Staude die Aussicht versperren? Was, wenn fremde Bambuswurzeln ins Erdreich vordringen?
Das Gesetz sieht ein sogenanntes Kapprecht vor – das Recht eines Grundstückseigentümers, überragende Äste und eindringende Wurzeln selber und ohne Ermächtigung durch einen Richter bis zur Grundstücksgrenze abzuschneiden. Greifen Sie aber nicht vorschnell zur Gartenschere: Damit Sie sich auf das Kapprecht stützen können, müssen nämlich etliche Voraussetzungen erfüllt sein.
Reden Sie frühzeitig mit dem Nachbarn
Vorausgesetzt wird eine Grenzüberschreitung: Äste oder Wurzeln einer Pflanze, die vollständig auf einem Grundstück steht, dringen in das angrenzende ein. Zudem muss das Hinüberragen mehr als einfach stören: Es muss zu einer «erheblichen Schädigung» des Grundstücks führen. Dass zwingend ein finanzieller Schaden entsteht, ist hingegen nicht Voraussetzung. Die Schädigung kann auch darin bestehen, dass etwa ein grosser Baum übermässig Schatten wirft, an der Hausmauer des Nachbars Feuchtigkeit erzeugt oder ihn beim Pflügen hindert. Diese liegt zum Beispiel vor, wenn Wurzeln ins Nachbarsgrundstück dringen und dort Bodenplatten oder den Teerbelag einer Strasse anheben.
Schliesslich müssen Sie den Nachbarn erst über die Situation informieren und zum Ausdruck bringen, dass Sie diese nicht weiter dulden wollen. Im Hinblick auf ein gutnachbarschaftliches Verhältnis lohnt es sich, das Gespräch zu suchen, bevor sich zu viel Ärger angestaut hat. Vielleicht lässt sich der Konflikt schon auf diesem Weg aus der Welt schaffen.
Wenn nicht, können Sie sich schriftlich und eingeschrieben beim Nachbarn beschweren. So können Sie im Streitfall nachweisen, dass Sie nicht ohne Vorwarnung zur Schere gegriffen haben. Setzen Sie Ihrem Nachbarn gleichzeitig eine angemessene Frist, innert der er die Störung beheben soll. So kann er die Pflanze selber zurückschneiden, Äste zurückbinden oder die Pflanze versetzen. Oder er kann innert der Frist bestreiten, dass Sie von der Pflanze erheblich geschädigt werden.
Welche Frist angemessen ist, hängt von den konkreten Umständen ab. Bei kleineren Pflanzen oder wenigen Ästen werden einige Tage ausreichen. Bei grösseren Bäumen, die durch einen Gärtner zurückgestutzt werden müssen, sollte die Frist hingegen einige Wochen betragen.
Für fruchttragende Bäume – also Obst-, Nuss- und Edelkastanienbäume – können die Kantone abweichende Bestimmungen zum Kapprecht aufstellen. Sie können es ausschliessen (den Nachbarn verpflichten, den Überhang zu dulden) oder es an strengere Voraussetzungen knüpfen. Zudem können sie das Kapprecht befristen.
Wirft Nachbars Eiche einen langen Schatten auf Ihr Rosenbeet? Oder verstopfen Laub, Nadeln oder dürre Äste Ihre Dachrinne? Als Beobachter-Mitglied erhalten Sie Antworten auf Fragen zu Nachbars lästigen Pflanzen.
5 Fallbeispiele: Wo Sie das Kapprecht anwenden dürfen
1. Max Palmers Eiche streckt ihre Äste aus und lässt Blätter fallen, die auf Urs Tanners Grundstück landen. Tanner will das Laub nicht mehr selber wegräumen. Er beschwert sich bei Palmer schriftlich und eingeschrieben, setzt ihm eine grosszügig bemessene Frist und droht, die überhängenden Äste selber zu kappen. Als Palmer innerhalb der Frist nicht reagiert, greift Tanner zur Gartenschere und zwackt einige Zweige sorgfältig bis zur Grenze ab.
Tanner ist zwar bei der Beschwerde richtig vorgegangen. Doch er hätte sich nicht auf das Kapprecht stützen können, denn es gab keine erhebliche Schädigung seines Grundstücks. Laub-, Blüten- oder Nadelfall gelten grundsätzlich nicht als übermässig und stellen daher keine genügende Beeinträchtigung dar.
2. Ein dicker Ast von Fritz Holzers Fichte ragt über den Garagenplatz seines Nachbarn Franz Schneider. Er stösst Harz aus, das Schneiders Auto verklebt. Vor jeder Fahrt muss Schneider die klebrigen Tropfen von der Frontscheibe entfernen. Er beschwert sich bei Holzer, setzt ihm eine Frist und sägt den überragenden Ast nach Ablauf der Frist ab. Mit dem Ast will er ein Grillfeuer machen. Holzer ist erzürnt. Er findet: Wenn sein Nachbar schon seine Bäume beschneide, müsse er ihm wenigstens den Ast aushändigen.
Das Gesetz sieht etwas anderes vor: Wer in rechtmässiger Art und Weise von seinem Kapprecht Gebrauch gemacht und damit Mühe und Arbeit aufgewendet hat, darf das Abgeschnittene behalten. Dass man sich darum streitet, kommt aber selten vor: Im Normalfall sind abgeschnittene Äste oder Wurzeln nämlich eine Last, die entsorgt werden muss. Der Kappende kann deshalb auch darauf verzichten, den Überhang an sich zu nehmen.
3. Anna Rose ist aufgebracht: Paul Zeders Bambuspflanze schlägt auf ihrem Grund Wurzeln. Sprösslinge wuchern gar direkt in ihrem Blumenbeet. Als Zeder nach Gesprächen und schriftlichen Aufforderungen nicht reagiert, wird Rose tätig: Für das mühsame Ausreissen der kräftigen Sprossen beauftragt sie einen Gärtner. Die Rechnung leitet sie an Zeder weiter. Da die Wurzeln von seinem Bambus stammen, müsse er die Kosten für deren Entfernung tragen, findet sie.
Das Gesetz sieht keine Entschädigung für die Kosten der Kappung an sich vor. Hat der hartnäckige Bambus aber einen Schaden an Roses Eigentum verursacht, könnte sie dafür eventuell Schadenersatz fordern.
4. Die Äste von Tom Waldners uralter Trauerweide hängen über den Weg seiner Nachbarin Carla von der Heide. Sie muss sich auf dem Weg zum Briefkasten immer bücken. Zwanzig Jahre lang nahm sie das hin. Doch nun entbrennt ein baurechtlicher Konflikt zwischen den Nachbarn. Sie fordert Waldner auf, die störenden Äste abzuschneiden. Dieser sagt, der Baum stehe seit je in seinem Garten; sie habe sich bisher nicht daran gestört, könne das Kapprecht also nicht mehr einfordern.
Das trifft nicht zu: Auch ein langjähriger Verzicht führt in der Regel nicht zum Verlust des Kapprechts. Frau von der Heide kann sich auch noch nach zwanzig Jahren gegen die Äste zur Wehr setzen.
5. Auf Pia Ackerets Land steht ein Ahorn, dessen Krone teilweise über die Grenze wächst und Jan Felders bilderbuchhafte Aussicht auf den See verdeckt. Ackeret erlaubt Felder, die überragenden Äste bis zur Grundstücksgrenze zurückzuschneiden. Felder bricht die trockenen Äste mit kräftigen Fusstritten bis zum Stamm ab.
Pflanzen darf man nur so viel kappen, dass die Beeinträchtigung beseitigt wird. Das Zurückschneiden ist zudem allerhöchstens bis zur eigenen Grundstücksgrenze erlaubt. Gewaltsames Abbrechen ganzer Äste bis hin zum Stamm verstösst dagegen gegen diese Grundsätze.
Vorsicht ist nicht nur bei der Art und Weise des Abschneidens geboten, sondern auch beim Zeitpunkt. Man muss beim Kappen auf die natürliche Vegetationszeit der Pflanze Rücksicht nehmen. Nach Möglichkeit sollte man sie nicht stutzen, wenn sie «in vollem Saft» steht – bei Bäumen also nicht zwischen Anfang März und Ende Oktober.