Arbeiten bis 67? Das kommt für Jakob Hersche nicht in Frage. «Die Nachrichten aus Bern machen mich zornig.» Der 63-jährige Allrounder in einer Wellkartonschachtel-Fabrik arbeitet zwar «gern und mit vollem Engagement», doch für Bundesrat Pascal Couchepins Plan, das AHV-Rentenalter um zwei Jahre zu erhöhen, hat er kein Verständnis. Vorstellen könnte er sich allenfalls, teilzeitlich Lehrlinge auszubilden. «Erfahrungen weitergeben – das ist eine Stärke der Älteren.»

Nach dem Willen seines Arbeitgebers wäre er allerdings schon heute Frührentner. Exakt einen Monat vor seinem 63. Geburtstag teilte ihm der Personalchef mit, dass er «in anderthalb Monaten zu verschwinden habe». Hersche fiel ob der «brutalen Ankündigung» aus allen Wolken. Denn von der Frühpension könnte er nicht leben. Mit Hilfe des Beobachters und der Gewerkschaft Comedia setzte er sich zur Wehr. Nun muss wenigstens die Kündigungsfrist in seinem Arbeitsvertrag eingehalten werden: Im Herbst wird Hersche arbeitslos – seine Chancen, bis zur Pensionierung in anderthalb Jahren eine neue Stelle zu finden, sind gering.

Vorzeitig in den Ruhestand
Als Couchepin sein «Bundesratsreisli» auf die St. Petersinsel nutzte, um die Diskussion um das Rentenalter 67 zu lancieren, applaudierten die Arbeitgeber lautstark. In der eigenen Firma hingegen wollen viele Chefs immer weniger Ältere beschäftigen. Frühpensionierungen sind längst die Regel geworden. Bei der Grossbank UBS etwa gilt generell das Rentenalter 62. Und auch beim Staat werden viele Angestellte vorzeitig in den Ruhestand geschickt.

Verglichen mit den Kollegen in der EU sind die älteren Eidgenossen aber noch immer stark ins Arbeitsleben integriert: Arbeiteten 1999 in Deutschland noch knapp 40 Prozent der 55- bis 65-Jährigen, waren es in der Schweiz über 70 Prozent. Doch die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung zeigt einen «spektakulären Anstieg des vorzeitigen Ruhestands»: Zu Beginn der neunziger Jahre arbeiteten noch fast 80 Prozent bis zum ordentlichen Rentenalter.

«Fieberhafte Stellensuche»
In einer Zeit, in der Massenentlassungen Schlagzeilen machen, befremdet Couchepins Plan, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Es gibt Frühpensionierte, die Arbeit suchen, weil ihre Rente zu bescheiden ist. Aber wer will sie anstellen?

«Ich fühle mich fit und suche fieberhaft eine Stelle», sagt eine ehemalige Angestellte eines Grossbetriebs. Sie wurde auf Wunsch der Firma mit 60 Jahren pensioniert. Trotz hoher beruflicher Qualifikation hat sie bisher nur Absagen erhalten. «Die meisten Firmen sortieren die Bewerbungen von Frühpensionierten sofort aus.»

Dass Ältere heute auf dem Arbeitsmarkt wenig gefragt sind, bestreiten die Arbeitgeber nicht. In 20 Jahren sei die Lage aber völlig anders. «Wir dürfen darauf vertrauen, dass die Bevölkerungsentwicklung den älteren Mitarbeitern deutlich bessere Chancen gibt als heute», sagt Arbeitgeberdirektor Peter Hasler.

Bei der Einführung der AHV im Jahr 1948 standen einem Rentner rund neun Personen im erwerbsfähigen Alter gegenüber. 2001 waren es nur noch knapp vier Erwerbsfähige – und 2040 wird das Verhältnis 2,3 zu eins betragen. Bevölkerungsexperten sprechen von der «demografischen Falle»: Sinkende Geburten und steigende Lebenserwartung bewirken eine zunehmende Alterung der Gesellschaft.

«König Pascal», der forsche Bundespräsident, stützt sich auf solche Prognosen, um der Republik eine harte Kur schmackhaft zu machen. Das geplante Rentenalter 66 ab dem Jahr 2015 und 67 ab 2025 würde die mittlere und junge Generation treffen: Männer, die heute unter 54-jährig sind, müssten ein Jahr länger arbeiten, unter 44-Jährige zwei Jahre länger. Besonders krass würde es die Frauen treffen: Beim Eintritt ins Erwerbsleben konnte eine 1960 geborene Frau mit dem AHV-Alter 62 rechnen, nun droht ihr ein fünf Jahre längeres Erwerbsleben. Zudem soll die AHV magerer ausfallen: Laufende Renten würden nicht mehr an die Lohnentwicklung angepasst.

Verlierer wären alle, die nicht durch gut gepolsterte Guthaben bei Pensionskassen abgesichert sind. Denn Frührenten werden im Schnitt nur zu acht Prozent von der AHV, aber zu über 60 Prozent von den Pensionskassen finanziert. Couchepin hat versprochen, dass Frührenten in anstrengenden Berufen sozial abgefedert werden sollen. Ähnliche Versprechen wurden bereits zu Beginn der 11. AHV-Revision gemacht – doch überleben werden sie die laufende Beratung im Parlament kaum.

Kürzungen der AHV-Leistungen stossen auf Empörung, wie Leserbriefe landauf, landab zeigen. Doch nur so liessen sich die ebenfalls unpopulären Erhöhungen der Mehrwertsteuer vermeiden, begründet Couchepin die Notwendigkeit der bitteren Medizin. Ohne Leistungsabbau müsse die Mehrwertsteuer bis 2025 um 3,8 Steuerprozente erhöht werden; mit Abbau würden 1,8 Mehrwertsteuerprozente genügen. Allerdings: Verglichen mit den in EU-Ländern üblichen Mehrwertsteuersätzen von rund 20 Prozent ist der heutige schweizerische Satz von 7,6 Prozent eher bescheiden.

Ausser Couchepins FDP steht keine der Bundesratsparteien hinter dem AHV-Alter 67. SP und Gewerkschaften blasen zum Kampf gegen den Sozialabbau und fordern zusätzliche Leistungen für untere Einkommen. «Die AHV ist die stabilste und sozialste Säule der Altersvorsorge – sie darf nicht geschwächt werden», argumentiert Colette Nova, Rentenspezialistin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund. «Couchepin geht von rabenschwarzen Annahmen aus.» Wenn sich die Wirtschaft wieder erhole, so Nova, seien die Finanzprobleme der AHV entschärft. Setze sich die Krise aber wider Erwarten fort, sei ein höheres Rentenalter erst recht problematisch. «Wächst die Wirtschaft nicht, gibt es auch keine Möglichkeit, die Leute bis zum Alter 67 weiterzubeschäftigen.»

Auch die bürgerlichen Parteien CVP und SVP lehnen das AHV-Alter 67 ab. Arbeitgeberdirektor Hasler zeigt sich davon wenig beeindruckt. «Warten Sie ab, bis der Wahlkampf vorbei ist», kommentiert er vielsagend. Die Volksabstimmung über ein höheres Rentenalter werde ohnehin erst in ein paar Jahren stattfinden. Es sei «Wahrsagerei», jetzt bereits eine Prognose über das Ergebnis eines Urnengangs zu wagen.

Couchepin hat die Debatte über das Rentenalter früh eröffnet und dafür gesorgt, dass ein Ideenwettbewerb über die Zukunft der AHV stattfindet: Ob Nationalbankgold für die AHV oder Rentenkürzungen für Kinderlose – die Bühne ist frei für mehr oder weniger konstruktive Vorschläge.

Gedanken zur Zukunft der AHV hat sich auch der 63-jährige Jakob Hersche gemacht, der bald entlassen wird: «Wenn alle Superreichen ihr Vermögen so korrekt versteuern würden wie die kleinen Leute, hätten wir keine Probleme mit den AHV-Finanzen.» Falls aber dereinst Arbeiten bis 67 der Normalfall sein sollte, «müsste die Arbeitswelt viel menschlicher sein. Die Manager müssten radikal umdenken.» Hersche bereut es heute, dass er früher als technischer Leiter einer Fabrik «auch einer der Antreiber der Produktion war».

Interessant ist der Vorschlag der Denkfabrik Avenir Suisse, die freiwillige Teilzeitarbeit über das Rentenalter hinaus zu fördern. Dass Arbeiten im Alter Freude machen kann, lebt das Ehepaar Blanche und Kurt Nievergelt aus Zürich vor. Die 73-jährige Blanche bedient während vier Tagen in der Woche im Zürcher Restaurant Zum weissen Kreuz; ihr Mann Kurt, 68, ist selbstständiger Taxiunternehmer und kommt auf ein 80-Prozent-Pensum.

«Mehr Energie dank Arbeit»
Blanche und Kurt Nievergelt beziehen beide eine AHV-Rente, doch der Rückzug aufs Altenteil kam für sie nicht in Frage. «Ich gehe jeden Tag gern zur Arbeit. Ich brauche die Leute um mich herum», sagt Blanche Nievergelt. Sie wuchs mit ihren zwölf Geschwistern in Visp auf. In einfachen Verhältnissen lerne man anzupacken, sagt sie. «Wer arbeitet, hat mehr Energie.» Blanche Nievergelt tut dies erfolgreich: Kürzlich wurde sie in Zürich zur «Kellnerin des Jahres» gekürt. Ähnlich tönt es von Ehemann Kurt: «Soll ich etwa den ganzen Tag lang am Computer sitzen oder im Wald herumrennen? Ich will an der Front sein.»

Mehr als 60'000 Menschen pro Jahrgang arbeiten nach dem 65. Geburtstag weiter, meist Teilzeit. Doch die Zahl der «Langzeitarbeiter» nimmt markant ab: 1960 waren noch 59 Prozent der 65- bis 69-jährigen Männer erwerbstätig, 1999 waren es bloss noch 12 Prozent.

Sollen es künftig wieder mehr werden, müssten sich die Firmen um die Älteren bemühen. Das taten sie aber bislang kaum. Keine einzige von 15 Grossfirmen, die der «Tages-Anzeiger» kürzlich befragte, fördert die Arbeit über das AHV-Alter hinaus. «Der Handlungsbedarf ist gross. Denn eine durchdachte Personalpolitik für die über 50-Jährigen existiert in der Schweiz bis heute nur bruchstückhaft», sagt der Volkswirtschafter Armin Jans, Verfasser einer Studie zur betrieblichen Alterspolitik im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft. Abhilfe schaffen soll Arbeit nach Mass. Jans: «Die Arbeitsbedingungen müssen besser an die Bedürfnisse der Älteren angepasst werden.» Dies bedeute unter anderem altersspezifische Weiterbildung.

Nicht auf den Arbeitsmarkt verlassen mochte sich der Bauhandwerker Roman Tinner aus Diepoldsau. 37 Jahre lang arbeitete er in einem Familienbetrieb – bis vor zwei Jahren die Nachfrage massiv einbrach und er eine Änderungskündigung zu schlechteren Konditionen erhielt. Er entschloss sich mit 60 zum Neuanfang und machte sich selbstständig. Seine Kleinfirma ist trotz Konjunkturflaute gut gestartet. Die Couchepin-Pläne beurteilt der 62-Jährige differenziert: «Für körperlich anstrengende Berufe ist eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 wenig realistisch. Doch wer länger arbeiten will und kann, der soll das tun.»

Wenig Lust auf längeres Arbeiten haben ausgerechnet die Chefs. Gemäss Arbeitskräfteerhebung lassen sie sich zu über 40 Prozent frühpensionieren. Dagegen verabschieden sich bloss 23 Prozent der Arbeitnehmer ohne Vorgesetztenfunktion vorzeitig aus dem Erwerbsleben.

Auch der Chef der Chefs, Arbeitgeberdirektor Hasler, denkt an einen vorzeitigen Rücktritt. Selbstironisch antwortet er auf die Frage nach dem Zeitpunkt seiner Pensionierung: «Nach heutigem AHV-Recht 2011, nach dem ‹Vorschlag Hasler› 2012 – und in Wirklichkeit wohl stufenweise ab etwa 62.»