Kaum sind die Gäste ausser Sichtweite, springt Robin Nielsen auf. Er eilt leicht hinkend zum Tisch, stapelt das Geschirr aufeinander und trägt es in die Küche. Als er zurückkommt, sieht er mit enttäuschtem Blick: Eine Angestellte putzt den Tisch. «Das kann ich doch auch», gibt er zu verstehen und fährt mit der geballten Faust dreimal kurz durch die Luft – «zack, zack, zack» gehe das.

Eigentlich war Robins berufliche Zukunft besiegelt. Nächstes Jahr, mit 18, käme er in einer geschützten Werkstatt unter. Er ist seit Geburt geistig und körperlich leicht behindert und lebt in einer begleiteten Wohngruppe. Doch vielleicht kommt es nun doch anders. Robin hofft, dass er in einem «normalen» Restaurant in der Küche arbeiten darf. Der junge Mann ist überzeugt, dass er das packen würde. Denn während zweier Schnuppertage im «Storchen» in Luzern hat er gezeigt, dass er Gemüse für Suppen rüsten kann, Flaschen nachfüllen, Geschirr abräumen und putzen. Die Chefin des kleinen Altstadtlokals, die früher als Kindergärtnerin auch behinderte Kinder betreute, würde Robin sofort weiterempfehlen. Die eigene Küche sei für eine Festanstellung leider zu klein.

Viele wollen einen richtigen Job

«Robin ist kein Fall für eine geschützte Werkstatt», glauben auch fünf Studierende der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Luzern. Sie haben im Rahmen eines Projekts Schnuppertage für Menschen mit leichten Behinderungen organisiert. Robin sei zwar nicht überall einsetzbar, arbeite langsam und reagiere manchmal auch etwas ungehalten. «Aber wenn sich die Arbeiten wiederholen und ein Coach ihn und den Arbeitgeber unterstützt, dann klappt es», sagt Nadine Ghitti, die Sprecherin der Projektgruppe.

Die angehenden Sozialpädagogik-Fachleute arbeiten neben dem Studium in Heimen oder Sonderschulen und finden, dass Menschen mit Handicap am normalen Leben teilhaben sollten – auch arbeitstechnisch. Eine Sicht, die sich im Behindertenwesen immer mehr durchsetzt. «Viele wünschen sich einen Job ausserhalb der geschützten Werkstatt», glauben Ghitti und ihre Mitstudierenden. Bestätigt sehen sie sich durch das rege Interesse an ihrer Idee. Allein in der aargauischen Stiftung Schloss Biberstein, wo sie ihr Projekt vorstellten, bewarben sich zehn von fünfzig potentiellen Kandidaten. Für eine Handvoll Bewerber suchte die Gruppe Schnupperorte.

Die Zahl der geschützten Arbeitsplätze steigt in der Schweiz seit Jahren leicht. 2010 waren es in Behinderteninstitutionen rund 12'700. Diese brauche es, sind sich die fünf Studierenden einig. Gerade für schwer Behinderte böten sie sinnvolle Beschäftigungen. Aber: «Das Ziel der Integration in die freie Marktwirtschaft geht im Alltag der Werkstätten unter. Wir neigen dazu, unsere Klienten zu unterschätzen», stellen die Organisatoren der Schnuppertage durchaus selbstkritisch fest. Robin Nielsen führt ihnen das vor Augen, als er in der Restaurantküche Brot schneidet. «Das machen wir sonst in der Wohngruppe immer für ihn», sagt die Betreuerin, die ihn begleitet.

Einige der Schnuppernden arbeiten im Alltag im geschützten Rahmen der Stiftung Schloss Biberstein. Dort verfolgt man das Projekt mit Interesse, denn die Eingliederung in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt soll künftig vermehrt Thema werden (siehe nachfolgendes Interview). Mit ihren Plänen stiessen die angehenden Sozialpädagogen um Nadine Ghitti aber nicht überall auf offene Ohren: Sie würden unerfüllbare Hoffnungen schüren, hörten sie etwa aus den Werkstätten. Eine Gefahr, die auch Jürg Sigrist sieht. Er ist Geschäftsführer der Stiftung Profil, die für die Behindertenorganisation Pro Infirmis Handicapierte in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt. «Behinderte Menschen lassen sich schnell begeistern und neigen zu Selbstüberschätzung», sagt er. «Man muss sie auf Absagen und Enttäuschungen gut vorbereiten.»

Das versuchten die Luzerner Studierenden. «Uns war bewusst, dass wir von zwei kurzen Schnuppertagen keine Wunder erwarten dürfen und wir den Bewerbern die Situation realistisch darstellen mussten», sagt Nadine Ghitti. Die Schnuppertage seien nur ein allererster kleiner Schritt, aus dem nicht automatisch eine Anstellung resultieren würde. Wo möglich zogen die Projektverantwortlichen die Betreuungspersonen der Schnuppernden bei.

«Ich will nicht nur ein bisschen reinschauen, sondern richtig schaffen.» Marlene Kaspar, 41

Quelle: Anita Baumann
Sehnsucht nach dem Laden

Wie stark der Wunsch nach einer externen Anstellung ist, zeigt sich etwa bei Marlene Kaspar. Die kleine, resolute 41-Jährige ist seit ihren zwei Schnuppertagen im Volg in Rupperswil AG ganz aus dem Häuschen. Täglich fragt sie die Betreuer im Schloss Biberstein hoffnungsvoll, ob sie bald wieder in den Laden könne. Die geistig leicht behinderte Frau hatte sich gewünscht, in einem Lebensmittelgeschäft Regale aufzufüllen. Dies, «um mal rauszukommen» aus der Wäscherei, in der sie sonst arbeitet. Und sie wolle «nicht nur ein bisschen reinschauen, sondern richtig schaffen», so Kaspar. Die Filialleiterin und der Geschäftsführer des Volg Rupperswil sagten sofort zu – für sie war es selbstverständlich, dass auch behinderte Menschen die Möglichkeit zum Schnuppern erhalten sollten.

Also steht Marlene Kaspar um 7.30 Uhr in blauer Schürze vor dem Regal, blickt auf das Joghurt in ihrer Hand und ruft: «Achtzehnter Vierter.» Der nächste Becher: «Fünfzehnter Vierter.» Ihre tragende Stimme klingt durch das kleine Ladenlokal. Sie soll all jene Produkte mit einem Rabattkleber versehen, die kurz vor dem Ablaufdatum sind. Verunsichert sieht sie ihren Begleiter an: «Muss ich hier einen Kleber draufmachen?» Geschäftsführer Josef Bucher würde grundsätzlich jederzeit auch jemanden mit Behinderung einstellen, wie er sagt. Voraussetzung sei aber, «dass in dem Laden genügend personelle Kapazität für die Betreuung vorhanden ist und die grosse Stammkundschaft, die wir haben, die Situation auch akzeptiert». Das müsse man von Fall zu Fall klären.

Die Eingliederung von Behinderten in den ersten Arbeitsmarkt ist oft ein langwieriger Prozess – gerade bei Menschen, die lange im sicheren Rahmen eines geschützten Wohn- und Arbeitsplatzes waren. Stefan Ritler, Vizedirektor des Bundesamts für Sozialversicherungen und Leiter des Geschäftsfelds Invalidenversicherung, glaubt aber, dass es auch unter ihnen Kandidaten gibt, die «zumindest in einem Teilzeitpensum» einer Arbeit ausserhalb der geschützten Werkstätte nachgehen könnten.

«Das wird Auseinandersetzungen geben»

Im Rahmen der Sanierungsmassnahmen der IV sollen in den nächsten sechs Jahren 17'000 Rentenbezüger eingegliedert oder ihre Arbeitspensen erhöht werden. Die geschützten Werkstätten geraten durch die bereits seit einigen Jahren verstärkten Integrationsbemühungen zunehmend in einen Zielkonflikt. Sie wollen Aufträge erfüllen, die sie von extern erhalten, und sind dazu auf leistungsfähige Mitarbeiter angewiesen. Gerade diese aber haben am ehesten das Potential, im ungeschützten Rahmen zu arbeiten. «Das wird zu Auseinandersetzungen führen», ist Ritler überzeugt. Denn in der Wirtschaft werde es künftig mehr Behindertenstellen geben. Die 6. IV-Revision bietet entsprechende finanzielle Anreize, etwa in Form eines bis zu sechsmonatigen Arbeitsversuchs, während dessen die IV-Rente weiterläuft. So liessen sich Vorurteile und Ängste abbauen, ähnlich wie bei Pro jekten wie jenem der Luzerner Studierenden, so Ritler: «Hat jemand einen Fuss in einem Unternehmen drin, erhöhen sich die Chancen für eine Festanstellung.»

«Mir gefällt die Arbeit hier besser als in der Holzwerkstatt.» Markus Haller, 38

Quelle: Anita Baumann
Begeisterung auf dem Bauernhof

Bei Markus Haller scheint sich diese Einschätzung zu bewahrheiten. Der 38-Jährige, der sonst in einer geschützten Holzwerkstatt arbeitet, schnupperte bei Hansjörg und Claudia Lüthi auf dem Bauernhof. Für das Ehepaar aus Holziken AG war es ein Experiment, den grossen Mann, der weder zählen noch lesen kann, bei sich arbeiten zu lassen. «Wir bilden Lehrlinge aus, aber mit behinderten Menschen hatten wir keine Erfahrung», sagt Bauer Lüthi. Dennoch habe er Markus eine Chance geben wollen. Und die hat dieser genutzt.

Er steht an zwei Tagen um sechs Uhr früh im Pferdestall. Dort führt er die Tiere erst raus, dann mistet er die Boxen. Danach hilft er, die Kühe ins Freie zu lassen, füttert das drei Tage alte Kälbchen mit temperierter Milch und wünscht den Pferden «en Guete». Er räumt die Scheune auf, rammt Zaunpflöcke in den Boden und krault den Berner Sennenhund Nero am Hals.

Abends geht es wieder zu den Pferden. Feierabend ist gewöhnlich nach 18 Uhr. «Kein Problem», sagt der stille Mann und strahlt. Er möge Tiere sehr, darum gefalle ihm die Arbeit auch besser als in der Holzwerkstatt. Er prüft nochmals genau, ob die Pferdeboxen auch richtig verschlossen sind, denn das hat Claudia Lüthi ihm zuvor eingebleut. «Mit etwas Übung weiss Markus, welches Pferd in welche Box gehört», ist die Bäuerin überzeugt. Ihr Mann hofft, dass er auch andere Arbeiten selbständig wird erledigen können, wenn er regelmässig auf dem Hof hilft: Markus Haller soll künftig einmal die Woche, wenn der Lehrling zur Schule muss, mit anpacken.

Das Schnupperprojekt weist den Weg: Künftig sollen mehr Menschen mit Behinderung ausserhalb der geschützten Werkstätten arbeiten, sagt der Leiter der Stiftung Schloss Biberstein. Das bedeute aber viel Aufwand.

Quelle: Anita Baumann
Eingliederung: «Wir dürfen uns keine Illusionen machen»

Beobachter: Zehn der sechzig Betreuten in Ihrer Wohn- und Arbeitsstätte wollten extern schnuppern. Mögen sie die Arbeit im geschützten Raum nicht?
Duso: Emanuel Duso: Das ist nicht so. Der Kontakt zur Aussenwelt ist bei unseren Bewohnerinnen und Bewohnern immer wieder Thema, und wir nehmen ihre Wünsche auch auf. Aber ein Schnupperprojekt dieser Art gab es bislang noch nie.

Emanuel Duso, Stiftungsleiter (Foto: Privat)

Quelle: Anita Baumann

Beobachter: Haben Sie die Integration in die Wirtschaft zu wenig gefördert?
Duso: Bis vor fünf Jahren trugen wir die offizielle Bezeichnung «Wohnheim mit Beschäftigung». Also: Die Bewohner arbeiteten in erster Linie, um beschäftigt zu sein. Seither hat sich gesellschaftlich viel getan. Der Fokus auf die Leistungsfähigkeit behinderter Menschen hat sich generell verstärkt. Jetzt, glauben wir, haben Eingliederungen in den Arbeitsmarkt Chancen. Das Thema beschäftigt uns auch in unserer Strategie für die nächsten drei Jahre.

Beobachter: Was ist denn die Strategie?
Duso: Wir dürfen uns keine Illusionen machen. Unsere Bewohner werden sich auch künftig nicht einfach auf ein Stelleninserat bewerben. Es braucht spezielle, nicht primär leistungsorientierte Arbeitsplätze und eine intensive Betreuung – der Arbeitswilligen wie auch der Arbeitgeber. Vielleicht werden wir neu die Funktion eines Coachs schaffen, der sich um die Integration jener kümmert, die das Potential dafür haben. Das aktuelle Schnupperprojekt hat uns gezeigt, dass eine solche Betreuung nötig ist. So können Enttäuschungen aufgefangen werden.

Beobachter: Skeptiker fürchten, dass diese Menschen in der Privatwirtschaft ausgenützt werden.
Duso: Das muss man im Auge behalten. Aber nichts kann ernsthaft dagegensprechen, Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ausserhalb der geschützten Werkstätten arbeiten zu lassen.

Beobachter: Damit würden Sie die besten Ihrer Beschäftigten verlieren.
Duso: Es wird nicht von einem Tag auf den anderen die Hälfte weg sein. Die frei werdenden Plätze könnten wir bei Bedarf vielleicht für austretende Sonderschüler bereitstellen, die eine Anlehre machen wollen.