Wer in Luzern Leistungen der IV beantragt, muss eventuell unter die Haube. Seit einigen Monaten setzen die Behörden auf eine neue Testmethode, bei der am Kopf angebrachte Elektroden die Hirnströme messen. Mit diesem Elektroenzephalogramm (EEG) wollen die Gutachter der Invalidenversicherung die Arbeitsfähigkeit der Gesuchsteller testen. Während die Testpersonen Aufgaben lösen, bildet das EEG die Hirnströme ab.

Die Methode ist umstritten und hat für Schlagzeilen gesorgt. Die meisten Experten in der Schweiz sind der Meinung, dass das Luzerner Verfahren wissenschaftlich auf wackligen Füssen steht. «Ein EEG ist nicht zur Diagnose von psychischen Störungen geeignet», sagt Thomas Müller, Chefarzt an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie Bern. Müller ist Experte für das Thema EEG und psychische Störungen und hat Tausende EEGs ausgewertet. Die Methode tauge im Einzelfall nichts, sie könne lediglich bei einer grossen Gruppe von Patienten gewisse statistische Veränderungen aufzeigen.

«Ein einheitliches Verfahren»

Die Zuständigen in Luzern wiederum halten wenig von der üblichen Methode der Psychiater, die von Symptomen auf Krankheitsbilder schliesst. «Wir wollen etwas Messbares», sagt Peter Balbi, leitender Arzt des Regionalen ärztlichen Dienstes der Zentralschweiz. «Wir wollen ein einheitliches Verfahren, um eine Diagnose zu stellen und vor allem um zu beurteilen, wie sich die psychische Störung auf die Gehirnfunktion auswirkt.» Im Test gehe es um die Event-Related Potentials (ERPs; ereigniskorrelierte Potenziale) und damit um die Frage, wie die Funktionsnetzwerke des Gehirns auf spezifische Reize reagieren. Zusammen mit der klinischen Begutachtung und mit neuropsychologischen Testverfahren wolle man so Angaben über das «kognitive Funktionsniveau» erhalten, also sehen, wie jemand Informationen aufnimmt und dann Entscheide trifft.

Konkret läuft das so ab: Die Probanden unter der Haube sehen am Computer eine Abfolge von Bildern und müssen beispielsweise immer klicken, wenn zwei Tierbilder hintereinander erscheinen. Die damit verbundene Reaktionsleistung lässt wie jede Gehirnaktivität schwache elektrische Ausschläge entstehen, die je nach Tätigkeit unterschiedlich intensiv sind. Diese Spannungsschwankungen misst das EEG-Verfahren auf der Kopfhaut.

Die IV Luzern arbeitet mit dem russischen Spezialisten Juri Kropotov zusammen und beruft sich auf das «Oxford Handbook of Event-Related Potential Components». Selbst dort heisst es aber in einem Aufsatz zu Depression: «Der Einsatz von ERPs scheitert, wenn es darum geht, die klinische und biologische Verschiedenartigkeit depressiver Störungen angemessen zu berücksichtigen.»

In 13 Fällen haben die Luzerner seit August 2013 mit Hilfe des EEGs Beschlüsse gefasst. Die Patienten litten mehrheitlich unter Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen. In acht dieser Fälle entschied man, die IV-Leistungen zu kürzen. «Es geht dabei um mehr Klarheit in komplexen Fällen», sagt IV-Arzt Balbi. «Und es zeigt sich, dass es Menschen gibt, die ihre Symptome stärker schildern, als sie sind. Aber auch solche, die ihre Symptome weniger stark zeigen, als es der Funktionseinschränkung entsprechen würde.»

«Patienten übertreiben dann, wenn sie lange die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Leiden nicht wahr- oder ernst genommen werden», sagt dagegen Thomas Ihde, Chefarzt der psychiatrischen Dienste der Spitäler fmi AG Berner Oberland und Stiftungsratspräsident der Pro Mente Sana. «Hingegen kommt es kaum vor, dass jemand psychische Leiden simuliert.» Im Gegenteil, weil psychische Störungen noch immer stark stigmatisiert seien, versuchten Betroffene, ihre Krankheit am Arbeitsplatz möglichst lange zu verheimlichen.

Von der Luzerner Methode hält Ihde nicht viel: «Es gibt keine klinischen Leitfäden, die den Einsatz solcher Technologien bei irgendeiner psychischen Störung zur Diagnostik empfehlen.»