Kursräume und physisch anwesende Lehrpersonen waren gestern. Online-Weiterbildungen und virtuelle Vorlesungen sind die Zukunft und teils bereits Gegenwart, da sind sich viele Bildungsexperten weltweit einig. Einige sehen durch die neuen technischen Möglichkeiten die Hochschulen gleich ganz überflüssig werden – zumindest in physischer Form.

Im Weiterbildungsbereich ist die Zahl der Anbieter von Online-Kursen weltweit bereits explodiert. Die Plattformen heissen Lecturio, Skillfeed, Udemy oder Iversity. Sie alle setzen auf ein Geschäftsmodell, bei dem teure Raumkosten wegfallen, der Dozent nur einmal vor die Filmkamera stehen muss und der Kurs an x-beliebig viele Leute verkauft werden kann. Diese Entwicklung macht auch vor der Schweiz nicht halt.

Die Schweizer Hochschulen hingegen reagieren bisher eher zögerlich auf die Digitalisierung der Bildung. Die Powerpoint-Präsentation hat zwar längst die Wandtafel verdrängt, es gibt Quiz-Apps, mit denen Studierende ihr Wissen während Vorlesungen testen können, Skype und Online-Foren ersetzen Gruppentreffen, und auf Google Drive und Dropbox arbeiten die Studierenden an gemeinsamen Dokumenten. Aber noch immer ist Präsenzunterricht die tragende Säule der Bildung. Und aufgenommen wird nur, wer die Zulassungskriterien erfüllt. Doch der Elfenbeinturm wankt. Lernen und studieren wir künftig wirklich nur noch online?

Interview: Max Woodtli

Wir werden uns an eine neue Kultur des Lernens und Wissens gewöhnen müssen, sagt Experte Max Woodtli. Einige wichtige Dinge kann uns aber kein Onlinekurs vermitteln.

Beobachter: PCs gibt es seit Jahrzehnten, das Internet ebenso. Warum verändert sich das Bildungsangebot erst jetzt?
Max Woodtli: Das elektronische Lernen ist schon einige Jahrzehnte alt. Mit dem Computer begann die Digitalisierung von Dokumenten, was letztlich auch als eine Art E-Learning bezeichnet werden kann. Tatsächlich revolutionär sind heute aber der direkte Austausch und die Zusammenarbeit, die dank Internet auch über grosse Distanz möglich sind – Social Media und die vielen weiteren Kanäle und Plattformen, die das Lernen und die Interaktion unterstützen. Das alles ist erst seit einigen Jahren im Aufbau.

Beobachter: Was soll gut daran sein, wenn Dozierende und Studierende auf der ganzen Welt verteilt sind?
Woodtli: Gut daran ist, dass die Möglichkeiten exponentiell zunehmen. Unser klassisches Bildungssystem ist ein Produkt der Industrialisierung: Alle lernen zur gleichen Zeit denselben Inhalt. Das geht völlig gegen die Prinzipien der individualisierten Gesellschaft, in der wir heute leben.

Beobachter: Was ist denn zeitgemäss?
Woodtli: Studierende wollen selber bestimmen, was genau sie lernen und wer es ihnen beibringt. Früher hatten sie je nach Wohnort und finanziellen Ressourcen mehr oder weniger Möglichkeiten. Heute können sie dank digitalen Lernplattformen weltweit nach einem geeigneten Bildungsangebot suchen. Es gibt zudem sehr viele E-Learning-Angebote wie Coursera, Edx oder Khan Academy, auf denen man von Naturwissenschaften über Wirtschaftsfächer, Sprachen, Philosophie, Fotografieren, Kochen bis zum Flechten eines Fischgrätenzopfs alles lernen kann. Bei dieser Art der Weiterbildung steht nicht das Diplom im Vordergrund, sondern es sind das Interesse und die persönliche Entwicklung. Solche Angebote sind meistens relativ günstig oder sogar gratis und dadurch sehr vielen Leuten weltweit zugänglich.

Beobachter: Lernen passiert nicht mehr nur im direkten Kontakt mit einer Lehrperson. Raten Sie angehenden Lehrern, sich einen anderen Job zu suchen?
Woodtli: Im Gegenteil. Aber ich bereite sie darauf vor, dass sich ihre Rolle massgeblich verändern wird. Vielleicht werden sie künftig nur noch alle paar Jahre die Mathematikgrundlagen auf Video aufnehmen und sie dann online stellen. Doch es braucht sie weiterhin, um Studierende im Lernprozess zu begleiten und sie bei Problemen zu unterstützen. Sie müssen ihnen zudem noch viel stärker zeigen, wie sie sich im grenzenlosen Wissensangebot zurechtfinden und wie sie sich selber helfen können, indem sie sich etwa weitere Übungen holen. Ich sehe Lehrpersonen in Zukunft eher als Begleiter, die Hilfe zur Selbsthilfe bieten.

Beobachter: Aber die grösste Dienstleistung überhaupt besteht doch darin, dass Dozierende den Studierenden sagen, was sie wissen müssen – und ihnen seriöse Unterlagen zur Verfügung stellen?
Woodtli: Früher glaubte ich: Wenn ich mich durch ein Lehrmittel geackert habe, weiss ich, was es zu wissen gibt. Das ist jedoch veraltetes Denken. Sobald man in ein Thema eintaucht, öffnen sich 1000 Türchen zu anderen Bereichen. Das Internet ist ein Lehrbuch ohne Deckel. Das hat auch die Arbeitswelt verändert. Es genügt nicht, vor 20 Jahren mal etwas gelernt zu haben. Man muss sein Wissen à jour halten – und das kann sich mit dem riesigen E-Learning-Angebot im Internet enorm vereinfachen. Auch der Wissensbegriff wird sich durch diese Lernform stark verändern.

Beobachter: In welche Richtung?
Woodtli: Da sich die Welt heute so schnell verändert, ist es problematisch, etwas als gesetztes Wissen zu bezeichnen. Abgesehen von gesetztem Wissen – wie etwa, was passiert, wenn ich einen Ball fallen lasse – ist das meiste eine Frage der Perspektive. Wichtig wäre es daher, kritisch hinterfragen zu lernen, wie etwas zustande kommt, was wir Wissen nennen. Welche Faktoren und Personen dieses vermeintliche Wissen konstruieren. Besser ist, man hinterfragt, von wem die Studie stammt, wer sie finanziert hat und welche Interessen dahinterstehen. Diese Prozesse zu verstehen und hinterfragen zu lernen bringt viel mehr, als sich Dinge einzuprägen, die morgen oder spätestens in fünf Jahren veraltet sind.

Beobachter: Aber es gibt doch Grundwissen, das eine Gesellschaft jedem Kind auf den Weg geben will?
Woodtli: Natürlich. Lesen und Schreiben werden Kinder auch in Zukunft lernen müssen. Auch Fremdsprachen. Daneben glaube ich, dass Fächer wie Medienkompetenz, Konfliktmanagement oder auch Teamführung immer wichtiger werden. Diese Aufgaben wird uns kein Computer abnehmen und werden Onlinekurse nur bis zu einem gewissen Grad vermitteln können.

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