Houssam A.* will seinen vollen Namen nicht im Beobachter stehen haben. Aus Scham – seine Eltern in ihrem Dorf im Norden Algeriens wissen nicht, dass er seit Monaten im Gefängnis ist. Im Ausschaffungsgefängnis beim Flughafen Zürich. Sie würden ihm nie glauben, dass er nur wegen fehlender Papiere hier einsitzt. Dass er kein Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuchs begangen hat. Darum verschweigt er es ihnen lieber.

Er ist ein stolzer Mann. Kräftig, dunkler Rossschwanz, braune, hervortretende Augen. 32 Jahre alt, gelernter Sanitärmonteur. In Algerien reparierte er Klimaanlagen. «Die Schweiz ist ein Gefängnis», sagt er. Friedrich Dürrenmatts berühmte gleichlautende Metapher kennt er nicht.

«Ich will selber bestimmen, wann ich ausreise und wann nicht!»

Houssam A.*, abgewiesener Asylbewerber

Die Abteilung Ausschaffungshaft des Flughafengefängnisses ist die grösste der Schweiz. 83 Männer und neun Frauen sind derzeit dort inhaftiert, rund 1000 Menschen sind es jährlich. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt drei Wochen. Stacheldraht umzieht die grauen Gebäude, alle paar Minuten donnert ein Flugzeug vorbei. Die Lärm- und die Abgasemissionen sind hoch. Unweit des Gefängnisses liegen ein Schiessstand und eine Kläranlage. Vom nahen Flüsschen Glatt her stinkt es.

Seit vielen Jahren besucht Séverine Vitali Ausschaffungshäftlinge im Flughafengefängnis. Sie ist Vorstandsmitglied des Solidaritätsnetzes Zürich, das sich mit den Flüchtlingen in der Schweiz solidarisiert – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Dank Vitali kommen die Besuche des Beobachters bei Houssam A. zustande.

Die Treffen finden im sogenannten Anwaltszimmer des Ausschaffungsgefängnisses statt, einem kleinen, kargen Raum mit Holztisch und vier Stühlen. Die Wände sind bis zur Mitte rosa gestrichen, darüber weiss. Zwei Bilder mit jeweils vier schwarzen Hasenköpfen mit bunten Krawatten hängen dort. Einmal im Quer- und einmal im Hochformat.

Die Sicherheitsvorkehrungen sind ähnlich strikt wie am Flughafen. Jeder Besucher wird durchgescannt: Ausweis abgeben, Jacke und Tasche am Eingang deponieren, Handyverbot.

Die Tage in Haft sind eintönig, langweilig und laut – wegen des Fluglärms. Houssam A., ein gläubiger Muslim, steht um halb sechs auf und betet. Wenn man ihm Arbeit zuweist, geht er um 8.15 Uhr dorthin. Manchmal gibt es nichts zu tun, und so bleiben anderthalb bis drei Stunden Hofgang pro Tag. 

Am Mittwoch sind alle in ihren Zellen eingesperrt, ausser für den Spaziergang oder die Arbeit. Am Wochenende dürfen sie die Zelle für insgesamt neuneinhalb Stunden verlassen.

Die kantonalen Migrationsämter können Ausländer ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in Administrativhaft nehmen, wenn sie sich weigern, freiwillig auszureisen. Sie können also in Haft genommen werden, ohne je straffällig nach Strafgesetzbuch geworden zu sein. Das ist in den Bestimmungen über Zwangsmassnahmen im Ausländergesetz festgehalten. Damit Betroffene in Ausschaffungshaft kommen, muss ein Rücknahmeabkommen mit dem Heimatstaat vorliegen oder eine Registrierung in einem Schengen-Staat. Die Schweiz hat ein Rücknahmeabkommen mit Algerien, mit der Umsetzung hapert es aber wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft Algeriens.

«Die Ausländerpolitik wird stets restriktiver und unmenschlicher.»

Séverine Vitali, Solidaritätsnetz

Quelle: Martin Rütschi/Keystone

Houssam A. sitzt seit dem 31. Juli 2015 in Ausschaffungshaft, weil er mehrere Rückreisetermine nicht wahrgenommen hat und laut Migrationsamt «Untertauchgefahr» besteht. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit gut drei Jahren in der Schweiz, hätte also schon längst untertauchen können, wenn er gewollt hätte. Sein Ausschaffungsflug, so wird es ihm zu Beginn der Haft mitgeteilt, sei der 24. Oktober.

Seine Geschichte klingt manchmal plausibel, manchmal nicht. Überprüfen lässt sie sich kaum. Klar ist, dass Houssam A. nach Schweizer Recht keinen Asylgrund hat. Er hat einfach einen Traum: Er will raus aus Algerien, die Welt sehen. Er will arbeiten und irgendwann erfolgreich wieder zurück nach Hause zu seiner Familie, zu seinen fünf Geschwistern und dem Vater, einem Schulleiter.

Er reist nach Europa und landet in Griechenland. Dort arbeitet er mehrere Monate schwarz auf einem Gemüsemarkt. Ähnlich in Italien. Man sagt ihm, in der Schweiz gebe es bessere Arbeit, er könne dort mehr verdienen. Houssam A. reist in den Norden.

Laut Séverine Vitali vom Solinetz ist seine Geschichte typisch. Viele Nordafrikaner kommen auf ähnliche Art in die Schweiz. Anerkannte Asylgründe haben sie meist nicht, sie sind illegal hier. Trotzdem müssen sie nach den humanitären Grundsätzen fair behandelt werden. Abgewiesene Asylbewerber und Sans-Papiers haben Anrecht auf Nothilfe – das heisst auf eine einfache Unterkunft, auf Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung. Letztes Jahr bezogen 9798 Personen Nothilfe, 1834 davon allein im Kanton Zürich. Die Kantone kostete das 2013 insgesamt 88 Millionen Franken.

Im Jahr 2014 verliessen 19'817 Personen mit negativem Asylbescheid die Schweiz. Bei wie vielen davon zuvor Ausschaffungshaft angeordnet worden war, sagt die Asylstatistik nicht. Betroffene können höchstens 18 Monate am Stück in einem der Ausschaffungsgefängnisse festgehalten  werden, dann muss man sie freilassen. Manche tauchen unter, manche verlassen umgehend die Schweiz, andere werden erneut aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt.

Laut dem Staatssekretariat für Migration fördert die Schweizer Rückkehrpolitik in erster Linie die selbständige Ausreise der Ausreisepflichtigen – leider seien aber nicht alle damit einverstanden. Wer illegal in der Schweiz ist, muss das Land verlassen. Wer sich wiederholt weigert, kann unter Anwendung von Zwangsmassnahmen rückgeführt werden.

Ein Katz-und-Maus-Spiel, kritisieren Gegner. «Dagegen setzen wir uns ein», sagt Konferenzdolmetscherin Vitali, die auch im Nationalrat übersetzt. Sie findet, die Schweizer Asylpolitik werde «immer unmenschlicher und restriktiver». Jemanden monatelang einzusperren, um die Rückschaffung zu bewerkstelligen, sei ein massiver Einschnitt in die persönliche Freiheit und aus menschenrechtlicher Sicht problematisch. «Die Verhältnismässigkeit der Ausschaffungshaft muss dringend hinterfragt werden», sagt Denise Graf, Asylrechtsexpertin bei Amnesty International Schweiz.

Zudem ist das System der Repression gegen Ausländer, die illegal im Land sind, für die Gesellschaft teuer. Das Ausschaffungsgefängnis am Flughafen kostet pro Jahr 6,8 Millionen Franken. Die reinen Betriebskosten belaufen sich auf 200 Franken pro Tag und Häftling. Die effektiven Kosten eines Gefängnistags sind nicht ausgewiesen. Es gibt zwei weitere reine Ausschaffungsgefängnisse in der Schweiz, das Bässlergut Basel und das Frambois in Genf. Zudem haben die meisten Regionalgefängnisse Plätze für die Ausschaffungshaft.

«So schlimm, wie hier mit sogenannte Illegalen umgegangen wird, ist es sonst nirgends.»

Houssam A.*, abgewiesener Asylbewerber

An der Grenze in Chiasso wird Houssam A. 2012 im Zug von Grenzpolizisten aufgegriffen. Sie nehmen seine Fingerabdrücke, und er landet im Asylprozess. Er sagt, er habe gar nie Asyl beantragen wollen, er habe nicht verstanden, was da gelaufen sei. Obwohl ein arabischer Dolmetscher dabei war? Wieso hat er sich denn nicht gewehrt? Wieso ging er nicht zurück nach Italien oder Algerien? Er gibt keine befriedigende Antwort. Es ist einfach so passiert, sagt er.

Nach anderthalb Jahren bekommt er den negativen Asylentscheid. Er hat eine Schweizerin aus Solothurn kennengelernt, die beiden wollen heiraten. Deshalb reist er nicht aus, lässt die Fristen verstreichen. Aus der Hochzeit wird nichts, die Behörden hätten sie verhindert, glaubt Houssam A. Trotzdem bleibt er. Warum? «Weil ich selber bestimmen will, wann ich ausreise und wann nicht», sagt er. Er ist ein stolzer Mann, der nichts verbrochen hat. So sieht er das.

Bevor er in Ausschaffungshaft kam, wohnte er in verschiedenen Heimen im Kanton Zürich, teils auch in unterirdischen. Mehr als ein Jahr lang musste er jede Woche seine Bleibe wechseln, die sogenannte Sieben-Tage-Regel, die willkürlich manche männlichen abgelehnten Asylsuchenden trifft. Jeden Montag musste er sich beim Migrationsamt melden, das ihn dann in eine der Notunterkünfte des Kantons einteilte. «Das ist sehr unangenehm, du weisst nie, wo du als Nächstes hinmusst.» Auch für die Sozialämter, die für die Nothilfe zuständig sind, ist das eine aufwendige Sache, deren Nutzen nicht erforscht ist. Es soll wohl einfach unbequem sein für die Betroffenen, sie sollen sich nirgends integrieren können. «Organisierte Hoffnungslosigkeit» nennt das Denise Graf von Amnesty.

Die Zeit besteht aus Warten in den langen Wochen vor Houssam A.s Flugtermin. «Elendes Warten» nennt er es. Er macht Liegestütze, redet mit anderen Insassen, schmiedet Pläne, wie es nach der Ausschaffung weitergehen soll. Er will das Flugzeug nicht besteigen, wird sich weigern. Wird dann wohl wieder zurück ins Gefängnis kommen. Das ist ihm lieber, als in Handschellen nach Algerien zurückzukehren. Er will selber bestimmen, wann er ausreist. Allerdings will er die Schweiz so schnell wie möglich verlassen: «So schlimm, wie hier mit sogenannten Illegalen umgegangen wird, ist es sonst nirgends», sagt er.

«Die Verhältnismässigkeit der Ausschaffungshaft muss man hinterfragen.»

Denise Graf, Amnesty International

Quelle: Martin Rütschi/Keystone

Acht Tage vor der geplanten Ausschaffung am 24. Oktober kommen zwei Mitarbeiter des Migrationsamts ins Gefängnis. Wegen eines Embargos der Swiss gegen Ausschaffungen nach Algerien könne sein Flug nicht stattfinden. Seine Haft wird um drei Monate verlängert. Neuer Flugtermin ist der 3. Dezember. Das Staatssekretariat für Migration bestätigt, dass die Swiss keine «rückzuführenden Personen mehr auf der Strecke Genf–Algier transportiert». Es müsse «eine alternative Flugbuchung vorgenommen» werden.

Neuer Besuch bei Houssam A. im November. Seine bisher stolze Haltung zerfliesst. Sein Händedruck ist schlaff. Er ist zermürbt. Zermürbt vom Eingesperrtsein, von der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Als Erstes würden einem im Gefängnis Schlaftabletten und Antidepressiva angeboten, sagt er. Damit man schlafen könne und nicht zu sehr ins Grübeln komme. Er hat den Medikamenten bisher widerstanden, «ich bin nicht krank». Heute wird er es sich vielleicht anders überlegen. Er ist kein stolzer Mann mehr, er ist ein gebrochener Mann.

Bei Redaktionsschluss ist er seit fast vier Monaten in Ausschaffungshaft; ob sein Flug am 3. Dezember stattfindet, ist noch nicht bekannt.

Die durchschnittliche Haftdauer betrage drei Wochen, sagt das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich. Houssam A.s Haftdauer liegt schon gut drei Monate über dem Schnitt.

* Name der Redaktion bekannt