Ans Gymi wollte ich schon immer», sagt Gazmend Dushica. Und auch Rajitha Manivannan wusste schon früh, dass sie gern studieren würde. Beide brachten überdurchschnittliche Intelligenz und hohe Leistungsbereitschaft mit. Trotzdem hiess es nach der Aufnahmeprüfung für die Mittelschule: «nicht bestanden».

Kinder aus fremdsprachigen Familien haben es in der Schweiz schwer, Zugang zu höherer Schulbildung zu erhalten. Nicht nur wegen der Sprache, sondern auch weil sie oft aus bescheidenen Verhältnissen stammen und die Eltern sie in schulischen Belangen kaum unterstützen können. An Zürcher Gymnasien beispielsweise sind nur knapp sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler Ausländer. Der Anteil von Jugendlichen aus dem Balkan und Osteuropa liegt im Promillebereich.

Dreimal häufiger in die Sonderschule

Der 18-jährige Gazmend Dushica ist heute eine dieser löblichen Ausnahmen. Er stammt aus dem Kosovo und besucht das Mathematisch-Naturwissenschaftliche Gymnasium Rämibühl in Zürich. Im zweiten Anlauf hat er die Gymiprüfung dann doch bestanden – dank spezifischer Unterstützung durch «Chagall» («Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn»). Das am Zürcher Privatgymnasium Unterstrass erarbeitete Projekt hilft motivierten und begabten Kindern von Migrantinnen und Migranten beim Weg an die Mittelschule. Die Selektion ist hart: Zum mehrtägigen Aufnahmeverfahren werden nur Sekschülerinnen und -schüler zugelassen, die vom Klassenlehrer empfohlen wurden. Zudem müssen beide Eltern fremdsprachig sein, und die Familie muss in bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben.

Die 17-jährige Rajitha erfüllte all diese Voraussetzungen. Ihre Eltern stammen aus Sri Lanka, Mutter und Vater sind einfache Angestellte. Obwohl sie ihren Töchtern bereits in der Primarschule nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen konnten, ist den Eltern die Ausbildung der Mädchen wichtig.

Eine aktuelle Nationalfonds-Studie zeigt, dass Rajithas Eltern damit keine Ausnahme sind: Während sich 69 Prozent der Schweizer Eltern wünschen, dass ihre Kinder die Matura machen, sind es bei den ausländischen 87 Prozent. Die Realität sieht aber meist anders aus: Migrantenkinder sind laut der Studie einem knapp dreimal grösseren Risiko ausgesetzt, in einer Sonderschule zu landen, keine Lehrstelle zu finden oder ohne Berufsbildung ins Arbeitsleben einzusteigen. Der Grund dafür ist nicht, dass sie schlechtere Leistungen erbringen oder von Lehrern diskriminiert würden. Es sind die Sprachprobleme und der tiefe sozioökonomische Status der Eltern, die die Kinder scheitern lassen.

Neu ist die Erkenntnis nicht, dass es an Schweizer Schulen mit der Chancengleichheit hapert. Jürg Schoch, Direktor des Gymnasiums Unterstrass und Entwickler von «Chagall», zerbrach sich darob schon vor Jahren den Kopf. «Früher waren es die Bauerntöchter aus dem Glarnerland, denen eine gymnasiale Ausbildung verwehrt blieb, heute sind es die Kinder von Migrantinnen und Migranten», sagt er. In langen Diskussionen mit Kollegen entstand die Idee, diesen Jugendlichen Unterstützung anzubieten. Schoch brachte das erste Konzept zu Papier. Seine Schülerinnen und Schüler hatten ihm kurz zuvor das Snowboardfahren beigebracht. Davon inspiriert, nannte er sein Projekt «One-eighty». So heisst ein Snowboardsprung, eine Drehung um 180 Grad.

Seither sind ein paar Jahre vergangen. Aus «One-eighty» wurde «Chagall», private Stiftungen ermöglichten dem Projekt eine vierjährige Pilotphase. Weitere Kantone zeigen laut Schoch Interesse an «Chagall», und die Bildungsdirektion Zürich hat vor kurzem zugesagt, die jährlichen Kosten von 100'000 Franken für weitere vier Jahre zu übernehmen. Man denke zudem darüber nach, «Chagall» auf andere Schulen auszuweiten, sagt Martin Wendelspiess, Chef des Volksschulamts Zürich.

Die Noten werden deutlich besser

Ein vergleichbares Projekt für Schweizer Kinder aus ärmlichen Verhältnissen ist vorerst nicht geplant. «Natürlich wäre das begrüssenswert», sagt Jürg Schoch. Man habe sich aber entschieden, die begrenzten Kräfte für jene einzusetzen, die am stärksten benachteiligt seien: eben Kinder, bei denen Migrationshintergrund und soziale Benachteiligung zusammenkommen.

49 Jugendliche mit Wurzeln in 26 Ländern haben in den letzten vier Jahren «Chagall» durchlaufen. Zwei Drittel davon besuchen heute eine Mittelschule. Die Universität Zürich, die das Projekt wissenschaftlich begleitet hat, erteilt ihm gute Noten. Laut Studienleiter Urs Moser ist nicht nur die Erfolgsquote bei den Übertrittsprüfungen beachtlich, sondern auch die Tatsache, dass die Schulnoten der «Chagall»-Teilnehmenden in fast allen geförderten Bereichen deutlich anstiegen. Vor allem in den sprachlichen Fächern. Dort wiesen die Jugendlichen erwartungsgemäss die grössten Defizite auf.

«Heidi wird besser bewertet als Urtim»

Geschenkt bekamen die Jugendlichen ihren schulischen Aufstieg nicht: Während mehr als sechs Monaten verzichteten sie fast ganz auf Freizeit. Sie investierten jeden Mittwochnachmittag und die meisten freien Samstage, um ihr Deutsch zu verbessern und Lücken in anderen Fächern zu stopfen. Zwei bis drei Stunden pro Tag habe sie während dieser Zeit zusätzlich gelernt, sagt die 15-jährige Sekschülerin Mathurot Chaisena. Sie hat diesen Frühling die Aufnahmeprüfung für die Berufsmaturitätsschule geschafft.

Neben dem Stützunterricht in Deutsch, Französisch, Englisch und Mathematik vermittelt das «Chagall»-Team auch, wie man sich Stoff am effizientesten einprägt – und wie man Stress vermeidet. «Atemübungen und so», erinnert sich Rajitha. Am Anfang sei das etwas komisch gewesen, aber ihr hätten die Entspannungsübungen definitiv geholfen. Genau wie das Motivationstraining, das den Jugendlichen vor allem eins vermitteln soll: den Glauben daran, dass sie es schaffen können.

«Chagall»-Projektleiter Stefan Marcec sieht das Persönlichkeitstraining als wesentlichen Teil des Programms. Es liege ihm fern, dem Schweizer Schulsystem Fremdenfeindlichkeit unterstellen zu wollen, sagt der Deutsch- und Philosophielehrer. Aber es sei eine Tatsache, dass viele «Chagall»-Teilnehmende mit einem niedrigen Selbstwertgefühl ins Programm einstiegen. «Es ist bis heute so: Heidi aus St. Gallen wird besser bewertet als Urtim aus Pristina. Auch wenn beide die gleiche Leistung erbringen.» Traurig sei das, sagt Marcec. Denn Wertschätzung sei einer der entscheidenden Faktoren auf dem Weg zum schulischen Erfolg. «Um es im Leben zu etwas zu bringen, braucht es nur einen einzigen Menschen, der an einen glaubt», ist der gebürtige Slowene überzeugt. Gazmend, Rajitha und Mathurot haben durch «Chagall» gleich mehrere gefunden.

Rajitha Manivannan, 17, aus Sri Lanka

Quelle: Vera Hartmann

Als wir in der Sek eine Lehrstelle suchen sollten, ging es mir nicht so gut. Ich hatte keine Ahnung, was ich später mal machen wollte – und mein Traum von einem Studium rückte in weite Ferne. Als mich mein Lehrer für das «Chagall»-Programm empfahl, war ich sehr froh. Auch wenn es einem einiges abverlangt. Wir trafen uns anfangs jeden Mittwochnachmittag, später auch jeden Samstag, um gemeinsam zu lernen. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass es mir immer leichtgefallen ist, am Samstagmorgen aus dem Haus zu gehen, während die Familie sich ausruhte.

Mein Vater arbeitet als Chauffeur, meine Mutter als Hilfsköchin, und die ältere Schwester macht eine Ausbildung zur Lebensmitteltechnologin. Unsere Muttersprache ist Tamil. Obwohl uns die Eltern bei den Hausaufgaben nicht helfen können, unterstützen sie es sehr, dass wir eine gute Ausbildung machen. Dieses «Du bist ein Mädchen, du heiratest sowieso» gibt es bei uns nicht.

Bei «Chagall» traf ich auf Mädchen, die in einer ähnlichen Situation waren wie ich. Wir motivierten und halfen uns gegenseitig. Auch wenn es nicht immer einfach war. Die deutsche Grammatik ist sehr weit von der tamilischen entfernt. Im Tamil gibt es weder Artikel noch Fälle. Vielleicht gehört Deutsch deshalb bis heute nicht zu meinen Stärken.

Trotz meinem anfänglichen Handicap in Deutsch und Französisch bestand ich sowohl die Gymiprüfung als auch die Probezeit problemlos. Jetzt bin ich in der zweiten Klasse. «Chagall» sei Dank! Heute habe ich in Französisch sogar einen Notendurchschnitt von 5,5.

Ich glaube, weil ich so hart arbeiten musste, um die Gymiprüfung zu bestehen, habe ich eine andere Einstellung zum Leben als andere in meiner Klasse. Wenn mir etwas misslingt, resigniere ich nicht, sondern investiere doppelt so viel Energie. Ich bin wohl das, was man eine Kämpferin nennt.

Mathurot Chaisena, 15, aus Thailand

Quelle: Vera Hartmann

Als mich die Lehrerin fragte, ob ich ans Gymi wolle, war ich ziemlich überrascht. Ehrlich gesagt kannte ich mich im Schweizer Schulsystem gar nicht so gut aus. Ich ans Gymnasium? Ich bin als Fünfjährige mit den Eltern aus Thailand gekommen. Wir führen ein kleines Thairestaurant im Zürcher Kreis 4.

Ich war eine gute Schülerin, trotzdem musste ich im letzten Jahr viel aufholen. Meine Lehrerin gab uns Hausaufgaben, und jeden Mittwochnachmittag und Samstagmorgen fuhr ich zum «Chagall»-Training, wo es noch einmal Hausaufgaben gab. Meine Eltern unterstützten mich sehr, obwohl mir kaum mehr Zeit blieb, im Restaurant zu helfen.

Das Aufstehen am Samstagmorgen fiel mir nicht schwer. Ich bin nicht der Typ, der in den Ausgang geht. Wenn ich freie Zeit habe, spiele ich Klavier oder singe. Meist für mich allein.

Der Einsatz im «Chagall»-Programm hat sich definitiv gelohnt, auch wenn es für die Gymiprüfung nicht ganz gereicht hat. Ich werde im August eine kaufmännische Lehre beginnen und daneben die Berufsmaturitätsschule besuchen. Während der Probezeit wird mich das «Chagall»-Team weiter unterstützen. Was ich nach der Berufsmatura machen will, weiss ich noch nicht. Erst einmal freue ich mich auf die neue Herausforderung und meinen ersten Lehrlingslohn.

Gazmend Dushica, 18, aus dem Kosovo

Quelle: Vera Hartmann

In meiner Familie hat niemand eine Matura. Mein Vater ist Maurer, meine Mutter arbeitet als Raumpflegerin. Zu Hause sprechen wir albanisch. Deutsch habe ich vor allem draussen gelernt, beim Spielen. Ich war ein guter Schüler und fühlte mich von den Lehrern unterstützt. Dennoch war es schwierig für mich, in Deutsch gute Vornoten für die Gymiprüfung zu erreichen. Wenn ich bei den Hausaufgaben Hilfe brauchte, fragte ich meine älteren Geschwister.

Unsere Eltern haben immer sehr grossen Wert darauf gelegt, dass wir die Sprache lernen und uns gut integrieren, auch wenn sie selber nicht gut Deutsch sprechen. In der sechsten Klasse meldete ich mich auf eigene Faust zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium an. Ich bestand nur knapp nicht. Als mich mein Lehrer in der dritten Sek fragte, ob er mich zur Aufnahmeprüfung für das «Chagall»-Programm anmelden solle, war ich sofort begeistert. Wir mussten eine Reihe von Tests durchlaufen und einen Aufsatz schreiben. Der Titel war: «So sehe ich mich in 20 Jahren». Ich weiss noch genau, worüber ich geschrieben habe: über meinen Traum, Wirtschaft zu studieren und bei einer Bank Arbeit zu finden. Und meinen Wunsch, dass es meiner Familie gelingt, in der Schweiz erfolgreich zu sein und trotzdem ihre Traditionen zu bewahren. Mein Berufswunsch hängt sicher damit zusammen, dass ich meinen Eltern ein sorgloses Alter ermöglichen möchte.

Ohne das «Chagall»-Programm hätte ich die Gymiprüfung wohl nicht bestanden. Die Unterstützung in den sprachlichen Fächern war wichtig für mich.

Aber am meisten geholfen hat mir, dass die Trainer an mich glaubten. Sie haben mir immer vermittelt: Du kannst etwas, auch wenn du noch Fehler machst. Das hat mir enorm Aufschwung gegeben. Am Ende der dritten Sek hatte ich das beste Zeugnis des ganzen Jahrgangs.

Am Gymnasium hatte ich nie Schwierigkeiten. Vielleicht ganz am Anfang. Einige meiner neuen Klassenkameraden hatten Angst vor mir. Sie sagten mir später, sie hätten gedacht, ich sei «ein typischer Albaner». So ein Schlägertyp halt.