Der Tee steht bereit. Rosmarie Naef wird ihn gebrauchen können. Sie setzt den Kopfhörer auf, denn in wenigen Minuten geht es los. Welche Geschichten die Juristin heute erzählt bekommt, weiss sie nicht. Sicher ist nur: Pünktlich um neun Uhr wird das Telefon zum ersten Mal klingeln, das ist jeden Tag so. Diesem Anruf werden viele weitere folgen, 20 vielleicht, allenfalls auch 30, und während vier Stunden wird sie die meiste Zeit ins Mikrophon sprechen, lauschen und nicken, nachhaken und nachfragen. Da kann einem der Mund schon mal austrocknen.

Rosmarie Naef ist eine von 15 Beraterinnen und Beratern, die an diesem Tag an der Beobachter-Hotline die Mitglieder in rechtlichen Fragen beraten. Ihre Fachgebiete sind «Staat», «Wohnen» und «Familie». Sie hilft den Anrufern zum Beispiel weiter, wenn sie nicht wissen, ob eine Mietzinserhöhung rechtens ist, oder wenn sie nicht verstehen, weshalb eine Gebühr fällig wird, wenn sie als eingesetzte Erben einen Nachlass ausschlagen.

«Mal sehen, was heute kommt», sagt Rosmarie Naef und rückt das Mikrophon zurecht. Ein kurzer Blick durchs Fenster in den grauen Morgen, dann zurück zum Computermonitor. Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht stehen aufgereiht, bereit zur Konsultation. Naef braucht sie selten.

Dann klingelt das Telefon. Es ist neun Uhr null null. Das stille Grossraumbüro verwandelt sich in einen Ort des dauernden Läutens, des permanenten Stimmengewirrs. Rund 240 telefonische Anfragen gehen Vormittag für Vormittag im Beratungszentrum des Beobachters ein. Ruhe kehrt erst wieder ein, wenn um ein Uhr nachmittags die Leitungen geschlossen werden.

«Die Einführung der telefonischen Beratung kam einer Revolution gleich.»: Toni Wirz, Leiter des Beratungszentrums

Quelle: Stefan Jäggi
Anfragen per Post – das waren noch Zeiten

Toni Wirz, Leiter des Beobachter-Beratungszentrums, erinnert sich an ruhigere Zeiten. «Bevor wir vor zehn Jahren die Telefon-Hotline eingerichtet haben, war das eine andere Welt hier», sagt er. Der Beobachter beriet zwar auch damals schon seine Mitglieder kostenlos in Rechtsfragen – aber auf dem Postweg. Der Pöstler brachte morgens haufenweise Briefe und Dossiers, die Berater vertieften sich darin. Sprachen dann ihre Antworten in ein Diktiergerät, liessen sie von Sachbearbeiterinnen abtippen und unterschrieben am Ende ihres Arbeitstags eine Mappe voller Antwortbriefe. «Die Einführung der telefonischen Beratung im März 2000 kam einer Revolution gleich», sagt Wirz.

Tatsächlich: Während die Ratsuchenden früher bis zu zwei Wochen auf eine Antwort warteten, erhalten sie nun innert Minuten die gewünschte Auskunft. Das wirkte sich auf die Zahl der Beratungen aus. 1999, im Jahr vor der Einführung der Hotline, bearbeitete das Team des Beratungszentrums rund 30'000 Anfragen. Im Jahr darauf schnellte die Zahl auf 50'000 hoch. Seither hält der Aufwärtstrend an. Das Team wurde vergrössert, und neue Angebote wurden ins Leben gerufen, etwa die Online-Beratungsplattform HelpOnline, die Beobachter-Mitgliedern gratis zur Verfügung steht. Im vergangenen Jahr behandelte das Beratungszentrum auf allen Kanälen gut 200'000 Anfragen – Tendenz weiter steigend.

«Wir fertigen hier niemanden im Schnellverfahren ab, bloss weil jemand in der Leitung wartet.»: Michael Krampf, Rechtsexperte

Quelle: Stefan Jäggi
«Manche Kunden sind sehr aufgewühlt»

Michael Krampf sitzt ganz hinten im Grossraumbüro, die Stirn unter dem Kopfhörer angestrengt gerunzelt. Die Frau am anderen Ende der Leitung klingt, als würde sie ihre Worte ablesen, doch das macht es nicht besser. Ihr Anliegen bleibt verworren. Krampf, früher als Richter und Anwalt tätig, tippt seine Notizen direkt in die Datenbank, in der jeder Anruf erfasst wird. «Und wer hat ihnen nun die Leitungen durch das Grundstück gezogen?», fragt er schliesslich geduldig. «Das Elektrizitätswerk und die Wasserversorgung», kommt es zurück. Tadelnd fügt die Frau an: «Das war gar nicht schön von denen.»

Michael Krampf braucht eine Weile, bis er das Problem der Frau erfasst: Nachdem neue Strom- und Wasserleitungen in der Nähe ihres Gartens verlegt worden waren, liess sie diese von einem selbsternannten Spezialisten abschirmen – aus Angst, sie trüge wegen Strahlenbelastung gesundheitliche Schäden davon. Nun will sie wissen, ob sie die Kosten dafür jemandem verrechnen kann. «Manche Kunden sind emotional sehr aufgewühlt, wenn sie anrufen», sagt Krampf, als er nach dem Gespräch den Kopfhörer beiseitelegt. «Sie haben ein genaues Bild ihrer Geschichte im Kopf und glauben, ich sähe dasselbe Bild vor mir. Dabei sehe ich als Aussenstehender erst einmal gar nichts.» Die Berater müssen in solchen Fällen mit gezielten Fragen das Problem eingrenzen, um zu entscheiden, ob und wie sie helfen können.

Das muss zügig geschehen: Auf ihren Bildschirmen sehen die Beraterinnen und Berater, wie lange der nächste Anrufer bereits seine Runden in der Warteschlaufe dreht. «Wir fertigen hier niemanden im Schnellverfahren ab, bloss weil jemand in der Leitung wartet», sagt Michael Krampf. «Aber wir dürfen die Anrufer eben auch nicht zu lange ausharren lassen.» Ein durchschnittliches Beratungsgespräch dauert etwas mehr als sieben Minuten. Den Beratern bleiben danach einige Sekunden, um ihre Notizen zu vervollständigen. Dann klingelt wieder das Telefon.

Wenn Anrufer beleidigend werden

Rosmarie Naef verabschiedet sich gerade von einem Mann, der im Frühling seine Wohnung verlieren wird. Er befürchtet, mit seinen mehr als 20 Verlustscheinen im Nacken keine neue Bleibe mehr zu finden. Als Nächstes begrüsst Naef eine Frau, die Rekurs gegen ein Bauvorhaben einreichen will, kurze Zeit später einen Mann, der wissen will, ob er für ein neues Ventil an einem Heizungsradiator in seiner Eigentumswohnung selber aufkommen muss.

Manche Anrufer melden sich scheu, als trauten sie sich kaum, eine Frage zu stellen, andere poltern in den Hörer, als wüssten sie die Antwort bereits. Wieder andere geben einen kaum verständlichen Redeschwall von sich. Die meisten scheinen sich jedoch gut auf das Gespräch vorbereitet zu haben; sie bleiben knapp, sachlich und unaufgeregt.

Rosmarie Naefs Stimme klingt freundlich, verständnisvoll, interessiert. «Ich bin der Profi, ich muss das Gespräch leiten und zu einem Ziel kommen, ganz egal, welche Voraussetzungen mein Gesprächspartner mitbringt», sagt sie. Das ist nicht immer einfach. Denn im Gegensatz zu einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht fehlen Naef viele nonverbale Informationen – sie sieht ihre Gesprächspartner zum Beispiel weder plötzlich das Gesicht verziehen noch verdutzt die Augenbrauen anheben. «Ich muss anhand der Stimmlage oder eines kurzen Zögerns die Stimmung des Anrufers einschätzen», sagt die Juristin.

Diese Kunst haben die Beraterinnen und Berater in Ausbildungsgängen und bei Tausenden von Telefongesprächen gelernt. Sie kommen mit den unterschiedlichsten Situationen gut zurecht – auch mit solchen der unerfreulichen Sorte. «Die meisten Kunden sind höflich und nett, doch es gibt vereinzelt Fälle, in denen uns Anrufer beschimpfen oder beleidigen», sagt Naef. «Da heisst es: das Gespräch ganz schnell wieder auf eine sachliche Ebene bringen.»

  • 240 Anrufe erreichen jeden Vormittag das Beratungszentrum.

  • Gut 7 Minuten dauert im Durchschnitt ein Beratungsgespräch.

  • 3 Möglichkeiten stehen offen, um Auskunft zu bekommen: Telefon, E-Mail, Online-Beratungsplattform.

  • 200'000 Anfragen wurden 2009 insgesamt behandelt. 1999 waren es noch 30'000 – allesamt per Post.

  • 29 Fachleute helfen Beobachter-Mitgliedern bei ihren rechtlichen Fragen.

  • 8 Fachgebiete werden von den Spezialisten des Beratungsteams betreut.

  • 0 Franken kostet die Rechtsauskunft für Beobachter-Mitglieder.

«Wir können die Gesetze nicht ändern»

Nach zehn Jahren hat sich die telefonische Rechtsberatung für Beobachter-Mitglieder längst etabliert. Skeptiker, die befürchteten, der Beratungsservice büsse an Qualität ein, wenn er nicht mehr auf dem Postweg angeboten werde, sind verstummt. «Es zeigte sich ziemlich schnell, dass die telefonischen Beratungen nicht oberflächlicher sind als die schriftlichen», sagt Toni Wirz. «Wir beobachteten einen anderen Effekt: Die Leute greifen eher zum Telefonhörer als zu Briefpapier. Dadurch kommen unsere Berater mit sehr viel mehr Fällen in Berührung und können ihren Erfahrungsschatz enorm vergrössern.»

Das Beratungszentrum beschäftigt heute insgesamt 29 Angestellte, alles ausgebildete Fachleute. Sie sind auf mindestens eines von acht Fachgebieten wie Konsum, Arbeit oder Sozialversicherungen spezialisiert. Sie teilen sich die Telefondienste auf, beantworten Anfragen, die per E-Mail eingehen. Sie vermitteln Anwälte oder andere Fachpersonen, sie halten die Online-Plattform HelpOnline à jour, verfassen Merkblätter und Musterbriefe. Und sie liefern den Journalistinnen und Journalisten des Beobachters Ideen für Artikel oder schreiben diese gleich selber – wer täglich dutzendfach in Kontakt mit den Lesern ist, weiss, wo die Leute der Schuh drückt.

Zuweilen jedoch wissen selbst die gewieftesten Berater nicht weiter. «Manche Anrufer erwarten zu viel von uns», so Toni Wirz. «Wir geben gern Auskünfte bei Geld-, Rechts- und Lebensproblemen des Alltags aber wir können weder Gesetze ändern noch das Recht umdrehen.» Wenn rechtliche Unterstützung nicht möglich ist, kann man an andere Institutionen verweisen. Und: «Wir arbeiten eng mit der Beobachter-Redaktion zusammen. Besonders krasse Einzelfälle können wir immer auch in einem Artikel thematisieren», sagt Wirz.

Vor dem Mittag klingeln die Telefone noch etwas häufiger als zuvor. Dann wirds für eine halbe Stunde stiller, kurz vor ein Uhr zieht es nochmals an. «Vielleicht wollen die einen vor dem Mittagessen unbedingt noch den Anruf erledigen», vermutet Michael Krampf zwischen zwei Gesprächen mit einer Köchin, deren Steamer den Geist aufgegeben hat, und einer passionierten Reiterin, deren Pferd auf einen Nagel getreten ist und die nun will, dass die Besitzer des Reitstalls die Tierarztkosten mitbezahlen. «Und die anderen besprechen sich wohl lieber noch am Mittagstisch, bevor sie sich dann bei uns melden.»

Quelle: Stefan Jäggi

Auf Draht für die Ratsuchenden: Carla Brunner und Marcel Weigele

Dramatische Geschichten und Bagatellen

Die Arbeit im Beratungszentrum ist anspruchsvoll: Nie weiss man, was für ein Mensch es ist, der gerade anruft, nie, welche Geschichte sich hinter dem nächsten Klingeln verbirgt. «Es gibt Anrufer mit dramatischen Geschichten über finanzielle Notlagen oder sexuellen Missbrauch – und unmittelbar darauf meldet sich jemand, weil irgendein Produkt mit dem falschen Preis angeschrieben war», steckt Michael Krampf das Spektrum ab.

Trotzdem: Der Job macht Spass. «Wer hier arbeitet, kann Menschen direkt helfen und hat jeden Tag ungefähr 30 Erfolgserlebnisse», sagt Krampf. Dann schellt wieder das Telefon. Es ist eine Minute vor eins, bald werden die Leitungen ausgeschaltet. Krampf nimmt den Anruf trotzdem noch entgegen – gut möglich, dass er heute in letzter Minute noch jemandem aus der Patsche helfen wird.