Es war die Art, wie er auf dem Sofa kniete, den Oberkörper kerzengerade. So gar nicht wie ein alter Mann. Es war die Musik, die er hörte. Die Kunst, die er mochte. Dieselbe wie sie. Das konnte kein Zufall sein. «Er wäre der Vater meiner Kinder gewesen», sagt Katharina Albertin, 40, und nippt am Wein. Wäre. Denn der Mann, der ihr vor drei Jahren so unerwartet das Herz stahl, hatte längst eigene Kinder. Und nicht nur das: Sie selbst hätte eins davon sein können. 23 Jahre stehen zwischen ihnen. 23 Jahre, in denen er eine Ehe geführt, eine Familie gegründet und eine Ehe beendet hatte. Jetzt sitzt Urs Jäggi neben ihr, schaut sie an und lächelt, während sie von ihren anfänglichen Zweifeln erzählt.

«Ich spürte genau, dass er der Richtige ist. Zugleich hatte ich Bammel», sagt die lebhafte Psychologin. Freundinnen hätten sie gewarnt: «Du verwechselst da etwas.» Und: «Du kannst es doch so gut mit Kindern, du solltest auch eigene haben.» Katharina Albertin wusste auch um die zeitlichen Grenzen dieser Liebe: «Mir war klar, er würde lange vor mir sterben, falls das Leben seinen natürlichen Lauf nähme. Das machte mir zu schaffen.»

Einmal, bevor sie ein Paar waren, sah sie ein Foto von ihm, mit seinen Freunden. Lauter alte Menschen, so kam es ihr vor. Später war sie von ihnen und ihrer freien, unkonventionellen Denk- und Lebensart fasziniert. «Die meisten Leute haben ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie ein über 60-Jähriger ist und wie sein Alltag aussieht. Ich hatte mir gar nicht erst auszumalen erlaubt, dass sie sich auf mich einlässt», gesteht Urs Jäggi. Der Verkaufsleiter einer Elektrotechnikfirma, der stets ruhig und zurückhaltend wirkt, unternahm nichts, überliess ihr die Entscheidung. Und am Ende geschah das Unvorstellbare doch, sie liess sich auf ihn ein. «Ich finde einfach nichts Altes an ihm. Er ist alterslos», sagt sie, froh, ein Wort dafür gefunden zu haben.

Höchstens drei Jahre Unterschied

Der Entscheid fiel ihr schwer, auch oder vor allem, weil ein so grosser Altersunterschied bei anderen in der Regel Erstaunen, oft auch Misstrauen oder gar Missbilligung hervorruft. Als normal gilt eine Altersdifferenz von ein paar Jahren, wobei in der Regel der Mann etwas älter ist. Das zeigt auch die Bevölkerungsstatistik: Bei den meisten Ehepaaren beträgt der Altersunterschied nicht mehr als drei Jahre, und das ist seit Jahrzehnten relativ konstant.

Eigentlich erstaunlich – denn nie galt die Wahl des Liebespartners als freiere Entscheidung denn heute. Dennoch folgt sie offenbar starren Mustern. «Die freie Partnerwahl ist ein Mythos. Auch ohne strenge Eltern und den Mahnfinger der Kirchen heiraten wir die Person, die sozial zu uns passt», erklärt die deutsche Soziologin Stephanie Bethmann, die eine Doktorarbeit zum Thema verfasst hat. Sie stellte darin eine Vielzahl von sozialen Regeln fest, nach denen Liebespartner bewusst und unbewusst ausgesucht werden. Nicht nur das Alter, sondern auch andere soziale Merkmale, etwa der Bildungsstand oder die familiäre Herkunft, sind ausschlaggebend. Wer sich nicht daran hält, aus dem Rahmen fällt, erregt negative Aufmerksamkeit.

Für Paare ist das eine Herausforderung: «Ohne Anerkennung aus dem sozialen Umfeld haben sie es extrem schwer, zusammenzubleiben oder sich überhaupt erst zu finden», sagt die Soziologin. Beim Altersunterschied verstösst besonders die Kombination «ältere Frau, jüngerer Mann» gegen die gängigen Vorstellungen.

Doch woher kommt diese Idee, dass nur sozial ähnliche Paare zusammenpassen? Zunächst ist die Wahrscheinlichkeit einfach grösser, im eigenen Umfeld auch auf jemanden zu treffen, der ähnliche Interessen hat und in einem ähnlichen Alter ist. Deshalb sind solche Paarungen häufiger und somit rein statistisch «normaler». Vor allem aber haben die meisten die verborgenen Regeln der Partnerwahl von klein auf verinnerlicht. «Es gibt unzählige kleine Weichenstellungen im Leben, die steuern, wo die Liebe hinfällt und wo sie liegen bleibt. Diese Regeln sind uns in Fleisch und Blut», sagt Soziologin Bethmann.

Lässt er sich von ihr ausnehmen?

Wer von den Regeln abweicht, bekommt das zu spüren. «Uns kam es anfangs vor, als würden uns auf der Strasse alle anstarren», erzählt Katharina Albertin. Die Fragen der anderen sprangen dem Liebespaar ins Gesicht: Was will die nur von dem, hat die einen Vaterkomplex? Ist der reich und lässt sich von ihr ausnehmen? Hat der ein Problem mit dem Älterwerden? Oder erträgt er keine Frau an seiner Seite, die gleich viel Lebenserfahrung hat? Dass es auch tatsächlich Liebe sein könnte, die ein derart ungleiches Paar zusammenbringt, erscheint vielen unmöglich. Die Vorbehalte gegenüber Paaren, die nicht der Norm entsprechen, sind bei jüngeren Menschen nicht selten grösser als bei älteren. «Unsere Befragung von Jugendlichen hat gezeigt, dass sie in ihrer Unsicherheit in Bezug auf die Geschlechterrollen besonders stark auf die Einhaltung dieser Normen pochen», erklärt Stephanie Bethmann.

Er 47, sie 26: Jasmin Baumann und Tobias Lorenz

Quelle: Stephan Rappo
«Ein hübsches, knackiges Ding»

Auch Jasmin Baumann und Tobias Lorenz machten die Erfahrung, dass der grosse Altersunterschied bei jüngeren Leuten auf mehr Skepsis stiess. Die beiden, sie 26, er 47, haben sich bei der Arbeit kennengelernt, und es hat sofort gefunkt. Trotzdem zögerte vor allem Jasmin Baumann wegen der grossen Altersdifferenz. «Ich habe mich dann zuerst meiner Schwester anvertraut. Ich dachte, als offener, junger Mensch hätte sie sicher Verständnis», erzählt sie. Doch statt sie wie erhofft zu ermutigen, stand die Schwester dem viel älteren Verehrer anfangs sehr kritisch gegenüber. «Sie machte sich Sorgen, ich würde ausgenutzt. Sie sagte, es sei doch klar, was der von mir wolle. Der wolle einfach ein hübsches, knackiges Ding an seiner Seite zum Angeben.» Auch manche ihrer Freundinnen fanden es seltsam, dass sie sich in einen so viel älteren Mann verliebte. Obwohl dadurch ihre eigene Unsicherheit wuchs, liess sie sich auf Tobias ein. Und staunte, als sie ihn nach ein paar Wochen der Grossmutter vorstellte. «Ich rechnete eigentlich mit einer negativen Reaktion wegen des Altersunterschieds. Doch in der Küche nahm sie mich zur Seite und flüsterte mir ins Ohr: ‹Das ist ein Guter, den kannst du behalten.›»

Vielleicht war es auch die allzu klischeehafte Kombination, die bei Schwester und Freundinnen das Misstrauen weckte: Tobias Lorenz ist Arzt, Jasmin Baumann Pflegefachfrau – der Klassiker schlechthin. Doch die Unsicherheit war keineswegs einseitig verteilt. «Ich hatte auch Angst, dass sie es vielleicht einfach nur mal ausprobieren wollte und ich ihr dann doch zu alt bin», sagt Tobias Lorenz. Letztlich sei der Altersunterschied aber gar kein Thema mehr gewesen: «In allen wesentlichen Dingen passt es bei uns so gut zusammen, dass das Alter einfach egal ist», sagt er.

Ein Satz, der aus dem Mund von Guy Bodenmann stammen könnte. Der Psychologieprofessor an der Uni Zürich erforscht seit Jahren Paarbeziehungen und ist Mitautor des Beobachter-Buchs «Was Paare stark macht». Das Alter ist gemäss Bodenmann einer von vielen Faktoren, die in einer Paarbeziehung gegeneinander aufgewogen werden. «Bei Liebespaaren herrscht ein stetes Geben und Nehmen.» Zwar suchten die meisten im Partner nach Ähnlichkeiten, ganz nach dem Motto «Gleich und gleich gesellt sich gern». «Wenn aber Unähnlichkeiten auftauchen, werden diese durch andere Ressourcen ausgeglichen.» Oder banal ausgedrückt: Der wesentlich ältere Partner gibt dem jüngeren irgendetwas, womit er diese Ungleichheit aufwiegen kann – und umgekehrt der jüngere dem älteren.

Jasmin Baumann bestätigt das: «Tobias ist es wichtig, gemeinsame Zeit zu verbringen. Er ist verlässlich und gibt mir Sicherheit – all das, was ich bei jüngeren Partnern vermisst habe. Zudem strahlt er durch seine Lebenserfahrung eine Ruhe und Gelassenheit aus, die ich unglaublich schätze.» Auch Katharina Albertin findet in ihrem 23 Jahre älteren Partner besondere Qualitäten: «Er hat einfach viel mehr Lebenserfahrung, das macht den Austausch für mich spannender.»

Vater- oder Mutterersatz?

In den Augen vieler Aussenstehender geht es in solchen Beziehungen einzig um «Geld und Prestige gegen Sexappeal und Jugendlichkeit». Das liegt daran, dass diese Ressourcen besonders sichtbar und daher naheliegend sind. Auch der häufige Verdacht, die sehr viel jüngere Frau suche im älteren Mann einen Vaterersatz – oder der junge Mann in der älteren Partnerin eine zweite Mutter –, hat mehr mit der Sichtbarkeit des Altersunterschieds zu tun als damit, was in der jeweiligen Beziehung tatsächlich zählt. Denn: «Eine Vaterfigur kann man auch in einem gleichaltrigen Partner finden», betont Psychologe Bodenmann.

Ungleichheiten können eine Beziehung belasten, aber sie können sie auch umso stärker machen. Wer sich allen Vorurteilen zum Trotz für einen wesentlich älteren oder jüngeren Partner entscheidet, hat bereits die eigene innere Hürde überwunden. Die Vorurteile der anderen freilich bleiben. «Meine Mutter hatte am Anfang ziemlich Mühe damit, dass ich mit einem so viel älteren Mann zusammen bin. Vor allem, da er auch noch einem alten Freund des Vaters ähnlich sieht», sagt Katharina Albertin. Es habe viel Überwindung gekostet, ihn ans erste Fest mit Familie und Freunden mitzubringen, offiziell als ihren Partner. «Ich habe lange gezögert, den Eltern davon zu erzählen, obwohl die Reaktion dann sehr positiv war», sagt auch Jasmin Baumann.

«Hie und da eine Spur Neid»

Anders erging es den Männern. Tobias Lorenz kann von keinen negativen Reaktionen in seinem Umfeld berichten. «Nur vielleicht hie und da eine Spur Neid.» Auch bei Urs Jäggi gab es keine Kritik, höchstens abwartende Skepsis. «Ich war zehn Jahre lang allein, eigentlich freuten sich alle, dass ich wieder jemanden habe», sagt er.

Der ältere Partner gilt offenbar als der Gewinner. Der jüngere, der sich freiwillig in die vermeintliche Verliererposition begibt, muss sich erklären. Jasmin Baumann wurde etwa offen gefragt, was sie an einem so viel älteren Mann fände. Tobias Lorenz ist das Umgekehrte nie passiert.

Probleme, die wegen des grossen Altersunterschieds entstehen, sind für die beiden Paare kaum ein Thema. «Klar, die Zeit wird kommen, da ich nicht mehr bei allem mithalten kann, was sie unternehmen möchte. Das wird eine Herausforderung, aber momentan beschäftigt uns das nicht», sagt Tobias Lorenz. Urs Jäggi und Katharina Albertin spüren bereits gewisse Einschränkungen. Obwohl sie gern Ski fahren, werden sie wohl nicht mehr gemeinsam die Pisten hinunterschwingen. Urs Jäggi hat sich vor Jahren eine Knieverletzung zugezogen, die nicht mehr richtig heilen wird. «Das stimmt mich schon traurig, dass uns das verwehrt bleibt. Und ich weiss, es werden immer mehr solche Dinge hinzukommen. Doch wir denken nicht ständig darüber nach», sagt er.

Dieser Selbstschutz ist für die Partnerschaft vermutlich auch besser. Denn welche Alternativen gäbe es? «Ich arbeite auf einer Krebsabteilung und sehe täglich, dass es auch junge Menschen treffen kann. Soll ich auf diese Liebe verzichten, nur weil wegen des Altersunterschieds irgendwann Probleme auf uns zukommen könnten?», fragt Jasmin Baumann rhetorisch.

Und so ist die Liebe zwischen Jung und Alt auch irgendwie ein Statement für das genussvolle Leben im Hier und Jetzt.