Anfang der achtziger Jahre, irgendwo in North Dakota. Ein Trucker donnert auf zwölf Achsen über den Highway. Neben der Sonnenblende rauscht das Funkgerät. Plötzlich ist eine bröcklige Stimme zu hören: «Hier 15WW36, bitte kommen, over.» Der Trucker greift nach dem Mikrofon und antwortet: «Here 5 Sandbagger 509, over?»

«15WW36» ist das Rufzeichen von Wolfgang Sidler. Der 17-Jährige sitzt auf der andern Seite des Atlantiks in Luzern am Funkgerät und staunt. US-Trucker mit ihren Chromstahlkolossen gabs damals nur im Fernsehen. Sie waren Ikonen der Freiheit. Dass Sidler auf einmal mit einem von ihnen sprechen konnte, über eine kleine Antenne direkt aus seinem Kinderzimmer heraus, das war überwältigend.

Und da war noch viel mehr. Sidler erreichte Funker in Irland, Schottland und Hongkong. Um sich besser mit ihnen unterhalten zu können, brachte er sich die ersten Brocken Englisch bei.

Selbst das Gegenstück des freiheitsliebenden US-Truckers, der Russe, war damals im Äther unterwegs, als «Woody Woodpecker» oder russischer Specht. Von 1976 bis 1986 betrieben die Sowjets nahe Tschernobyl eine riesige Radaranlage, ein Raketenfrühwarnsystem, das unaufhörlich Radiowellen um den halben Erdball schickte. Auf gewissen Frequenzbändern war das als stetes Klopfen zu hören, eben wie ein Specht.

Antenne, Marke Eigenbau

So brachte das Funkgerät lange nach Sendeschluss die grosse Weltpolitik in Wolfgangs Kinderzimmer. Sidler war angefixt. Bald baute er auf dem Dach eine acht Meter hohe Antenne. Das kümmerte damals niemanden, schliesslich standen fast auf jedem Haus ein paar Metallrechen, zwecks TV-Empfang.

Seit dem 3. Juni sind diese alten Fernsehantennen ohne jede Funktion. Nach dem Radio hat die Swisscom nun auch das Signal fürs terrestrisch verbreitete Fernsehen abgeschaltet. Aber so etwas wie Funkstille gibt es nicht – im Äther ist immer was los.

Elektromagnetische Wellen sind immer und überall. Ob sie uns Sonnenbrand bescheren, in Wassertropfen zu einem Regenbogen brechen, in der Mikrowelle unser Essen wärmen, als Röntgenstrahlen unsere Körper durchleuchten oder Nachrichten ans andere Ende der Welt transportieren, ist nur eine Frage von Frequenz und Wellenlänge.

Die riesige Antenne verrät ihn: Amateurfunker Wolfgang Sidler

Die riesige Antenne verrät ihn: Amateurfunker Wolfgang Sidler.

Quelle: Thomas Egli

Eigentlich war es eine höhere Macht, die Wolfgang Sidler zum Funker machte. Dass er mit seinem eher bescheidenen ersten Funkgerät so weit kam, lag an der damals starken Sonnenaktivität.

Radiowellen werden von der Ionosphäre reflektiert, einer Ansammlung von Elektronen und Ionen; ihre grösste Dichte hat sie in einer Höhe von rund 300 Kilometern. Je nach Sonnenaktivität, die alle elf Jahre zwischen einem Maximum und einem Minimum pendelt, sind diese Teilchen mehr oder weniger stark elektrisch geladen. Je stärker die Ladung, desto besser werden die Funkwellen zur Erdoberfläche zurückgeworfen. So können sie Orte erreichen, die weit hinter dem Horizont liegen.

Von Gewitter bis Elektrosmog: Es gibt viele Störquellen

Wolfgang Sidler lernte diese Zusammenhänge erst bei der Prüfung für die Amateurfunklizenz. Dabei kam ihm seine Lehre als Fernmeldetechniker zugute. Funken schneidet viele Wissensgebiete an, Physik, Astronomie, Elektronik, Mechanik, Antennengrundlagen, Informations- und Kommunikationstechnologie.

Aber einen guten Funker mache vor allem aus, dass er aus all dem Rauschen eine Stimme heraushören kann. Sidler lacht, doch natürlich ist etwas Wahres dran. Denn es gibt unendlich viele Störquellen. Nicht nur die Russen, auch weit entfernte Gewitter, Elektrosmog von Netzteilen, Plasmabildschirmen oder LED-Lampen in der näheren Umgebung der Antenne. Sidler zeigt auf einen der vielen Monitore, die zu seiner aktuellen Anlage gehören. Auf dem Schirm leuchtet ein Raster grüner Querlinien. «Das ist der Viehhüter von der Weide hinterm Haus.» Er schraubt an der Frequenz, und auf einmal ist der elektrische Puls des Stoppdrahts hörbar. Sidlers eigener kleiner Specht.
 

«In den achtziger Jahren mit einem Satelliten zu kommunizieren war unfassbar. So was machten sonst Ingenieure bei der Nasa.»

Wolfgang Sidler, Amateurfunker


Für fast 30 Jahre hatte Sidler das Funken beiseitegeschoben und den grössten Teil seiner Ausrüstung entsorgt. Vor drei Jahren ist er wieder eingestiegen, als Ausgleich zu seinem Job. Dabei hat er technisch aufgerüstet und «vielleicht etwas zu viel Zeit und zu viel Geld investiert». Oder wie es seine Partnerin ausdrückt: genug für ein paar schöne Ferienreisen.

Sidlers Spezialität ist Satellitenfunk. Schon in den achtziger Jahren funkte er einen Satelliten an und erreichte so 69 Länder. Auf seinem Commodore 64 hatte er ein Programm geschrieben, das seine Antenne stets nach der Umlaufbahn des Satelliten ausrichtete. «Damals mit einem Satelliten zu kommunizieren war unfassbar. So was machten sonst Ingenieure bei der Nasa», sagt der 56-jährige Spezialist für IT-Security.

Derzeit funkt Sidler über einen geostationären Satelliten, der die Erdoberfläche von Brasilien bis Thailand und von Island bis hinunter nach Südafrika abdeckt. Auf dem Balkon seines Hauses in der Nähe von Hünenberg ZG stehen zwei Parabolspiegel, die auf «Oscar-100» ausgerichtet sind. Bald will Sidler sich eine noch grössere Schüssel besorgen.

Wolfgang Sidler, Amateurfunker

«Ich habe vielleicht etwas zu viel Zeit und zu viel Geld in die Funkanlage investiert.» – Wolfgang Sidler, Amateurfunker.

Quelle: Thomas Egli
In die Vergangenheit gefunkt

Sidlers heutiges Rufzeichen ist «HB9RYZ» – oder nach Funkalphabet: «Hotel – Bravo –Nine – Romeo – Yankee – Zulu». Es kommt mit der Lizenz, und die meisten Funker behalten die Kennung ein Leben lang. Dank Verzeichnissen im Internet hat Sidler einzelne Funker wiedergefunden, mit denen er bereits in den Achtzigern Kontakt hatte, zum Beispiel einen in Hongkong. Gesehen haben sie sich noch nie. Andere von damals sind verstummt. «Vielleicht haben sie aufgehört – oder sie sind gestorben.»

Manchmal begegnen sich die internationalen Funker aber persönlich. Wenn Wolfgang Sidler im Ausland unterwegs ist, scannt er die Dächer stets nach Antennen. Wird er fündig, hält er an und klopft an die Tür.

Dank dem Funken habe man sofort eine gemeinsame Basis. Auch ein wenig dank der Funker-Etikette: Man redet nicht über Politik. Was über den Äther geht, kann ja jeder aufschnappen. Man weiss nie, wer mithört. An manchen Tagen hört Sidler die Taxifahrer in Moskau, die sich wieder nicht an die Frequenzvorgaben halten. Auch deshalb drehen sich die Unterhaltungen meistens ums verwendete Equipment und um die Signalstärke.

Schwächere haben Vorrang

Nach dem Gespräch gibt man die Frequenz schnell wieder frei für andere Funker, damit auch die mit den schwächsten Signalen durchkommen. Sie haben Vorrang. Es folgen mobile Stationen wie Schiffe oder Flugzeuge, weil die den Kontakt verlieren könnten.

Die Funkkontakte werden anschliessend in einem Logbuch festgehalten. Heute läuft das alles übers Internet.

Es gibt eine Liste mit weltweit 340 Zielorten, die viele Funker abarbeiten. Unter den begehrtesten – weil kaum je aktiven – sind Nordkorea und unbewohnte Inseln. Manchmal unternehmen ein paar Abenteurer Expeditionen zu solchen Orten und betreiben dort Tag und Nacht eine Station, so dass möglichst viele Funker weltweit diesen Ort abhaken können.

Letztes Jahr hat sich eine dieser Expeditionen nach Bouvet Island aufgemacht, einer winzigen Insel inmitten des südatlantischen Nichts, zwischen Kap Hoorn, Kap der Guten Hoffnung und der Antarktis. Als die Insel bereits in Sichtweite war, erlitt das Schiff einen Motorschaden. Die Funker mussten unverrichteter Dinge abziehen.

Wolfgang Sidler verbuchte in den letzten drei Jahren Kontakt zu 256 der 340 Stationen. Gerade erhielt er das offizielle Zertifikat, dass er 200 erreicht hat. Alle werden es vermutlich nicht. «Nordkorea war vor sechs, sieben Jahren zuletzt aktiv. Wer weiss, ob da je wieder einer eine Bewilligung erhält.»

Diese Standorte zu sammeln ist nur eine von vielen Spielarten des Amateurfunks. Manche erklimmen mit Funkgeräten möglichst viele Gipfel und Hügel oder haben sich aufs Morsen spezialisiert. Wieder andere reizt mehr das Basteln und Tüfteln, oder sie versuchen, mit wenig Leistung möglichst grosse Reichweite zu erreichen.

Amateurfunk ist aber nicht nur Selbstzweck. Funker sehen ihr Hobby auch als Dienst an Wissenschaft und Gesellschaft. Als vor wenigen Monaten eine chinesische Sonde auf der Rückseite des Mondes landete, halfen weltweit Amateurfunker mit, über einen Begleitsatelliten mit ihr zu kommunizieren.

Retter in der Not

Der gute alte Funk bringt aber noch mehr. Denn die moderne Fernmeldetechnik ist anfällig für Störungen. Erdbeben, Überschwemmungen, Lawinen Viel Neuschnee Ende März Wer haftet bei einem Lawinenniedergang? können Glasfaserkabel zerstören und Richtstrahlverbindungen kappen. Die Union Schweizerischer Kurzwellen-Amateure betreibt deshalb Notfunkgruppen, die bei Krisen den Behörden helfen könnten, die Kommunikation aufrechtzuerhalten.

Wie effektiv Funk in Notsituationen sein kann, zeigte sich beim verheerenden Erdbeben in Haiti 2010. Einem einheimischen Funker gelang es, über eine Relaisstation in der Schweiz mit der Aussenwelt in Kontakt zu treten und Informationen weiterzuleiten. Ionosphäre und Funkergemeinschaft sei Dank. Aktuell gibt es rund 4800 lizenzierte Funker in der Schweiz, weltweit rund drei Millionen.

Funken hat eine viel höhere Eintrittshürde als ein Hobby wie Fussball, doch die Zahlen in der Schweiz sind stabil. Trotzdem wirbt die Union Schweizerischer Kurzwellen-Amateure um die Jugend, ist an Messen präsent, organisiert Kurse und besucht Schulen. Mitte August feiert sie in Zug ihr 90-Jahr-Jubiläum, mit Vorträgen, einer Ausstellung und «wenn es klappt, sogar mit einer direkten Funkverbindung zur internationalen Raumstation ISS».

Der Moment für Nachwuchswerbung ist günstig. Nach ein paar mageren Jahren bewegt sich die Sonnenaktivität wieder Richtung Maximum. Bald herrschen beste Voraussetzungen, um amerikanische Trucker anzufunken.

Auch die Funkwellen, die nicht von der Ionosphäre reflektiert werden, sind nicht ganz verloren. Sie reisen in die Unendlichkeit des Alls hinaus. «Vielleicht hört uns ja irgendwann jemand da draussen», sagt Wolfgang Sidler. Er meint nicht die russischen Taxifahrer.

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