«Eltern sollten ihre Kinder nicht mit steifen oder harten Gegenständen züchtigen», schreibt das US-amerikanische Paar Anne Marie und Gary Ezzo im christlichen Erziehungsratgeber «Kindererziehung nach Gottes Plan». Besser geeignet sei ein «leicht biegsamer Gegenstand» – der füge Schmerzen zu, «ohne dabei Knochen oder Muskeln zu schädigen». Gezüchtigt werden «nach Gottes Plan» Kinder ab einem Alter von 14 Monaten.

Wann der biegsame Gegenstand eingesetzt werden soll, zeigt ein Beispiel: Die zweijährige Ashley – Ezzos Enkeltochter – spielt mit einer Schwingtür. Obwohl ihr Vater sie ermahnt hatte, das nicht zu tun. «Ihre Rebellion war aktiv und direkt und verlangte eine Korrektur der Stufe drei.» Stufe drei bedeutet: Schmerz – «mit der Absicht, dem Kind zu helfen, Selbstbeherrschung über eine ganz bestimmte moralische Schwäche zu gewinnen».

Auch kein Schweinefleisch essen?

Überarbeitet und gedruckt hat diese Anleitung zur Züchtigung von Kindern die Gemeinde für Christus im bernischen Herbligen. «Kindererziehung nach Gottes Plan» ist auch Grundlage von Erziehungskursen, die von Schweizer Freikirchen angeboten werden. «In evangelikalen Kreisen sind Erziehungsratgeber verbreitet, die der sogenannten Züchtigungspädagogik zugerechnet werden müssen», sagt Regina Spiess von Infosekta. In mehrmonatiger Arbeit hat die Fachstelle 26 Erziehungsratgeber analysiert und auf ihre Vereinbarkeit mit modernen Erziehungskonzepten überprüft (siehe Hinweise am Ende des Artikels).

«Immer mehr evangelikale Eltern lehnen Gewalt gegen Kinder ab. Aber leider gibt es nach wie vor die anderen», sagt der Zürcher Religionswissenschaftler Georg Otto Schmid. Kürzlich war er vom Verband der Schweizer Freikirchen als Referent eingeladen, um zu vermitteln, wie die Freikirchen ihre Medienpräsenz verbessern könnten. Er riet, den alten Zopf mit der Züchtigung von Kindern endlich abzuschneiden – und erntete viel Beifall, aber auch Kopfschütteln. Für Schmid ist das Schlagen von Kindern biblisch nicht zu begründen. «Die meisten Aufforderungen dazu stehen im Alten Testament. Würden wir uns daran orientieren wollen, dürften wir auch kein Schweinefleisch essen und müssten den Sabbat einhalten.»

Mit den Rechten der Kinder unvereinbar

Bei der Fachstelle Infosekta gehen immer wieder Anfragen besorgter Angehöriger von Freikirchenmitgliedern ein. Eine Frau fragte beispielsweise, wie sie darauf reagieren solle, dass ein vierjähriges Mädchen in ihrer religiösen Verwandtschaft wegen kleinster Vergehen mit einem Ledergurt gezüchtigt werde. «Es gibt bei den Freikirchen eine grosse Vielfalt von Erziehungsansätzen. Solche, die zum Einsatz von Gewalt auffordern, und andere, die einen modernen, kooperativen Erziehungsstil verfolgen», sagt Spiess. Dazwischen gebe es jede Abstufung.

Kinder von Freikirchlern werden häufiger von Mutter und Vater gezüchtigt als jene von Katholiken, Protestanten oder Muslimen, zeigt eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2010. Bloss 27 Prozent der Mädchen und Jungen, die ihre evangelikalen Eltern als «sehr religiös» bezeichneten, gaben an, gewaltfrei erzogen worden zu sein.

In der Schweiz sorgte 2011 der biblisch orientierte Erziehungsratgeber «Eltern – Hirten der Herzen» für Aufsehen. Er bildet in der Schweiz die Grundlage von Erziehungskursen wie «Family Train». Der Autor Tedd Tripp erklärt, wie man ein achtmonatiges Baby davon abbringt, sich an einem Büchergestell hochzuziehen: Man schlägt es mit einem Stock. Selbstverständlich zieht man ihm vorher die Windeln aus. SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr, Präsidentin der Stiftung Kinderschutz Schweiz, reichte nach der Veröffentlichung dieser Zitate eine Interpellation ein und fragte den Bundesrat, ob dieses Buch mit der Uno-Kinderrechtskonvention vereinbar sei. Der Bundesrat antwortete: «Gewaltanwendungen gegen Kinder, insbesondere auch in Form körperlicher Züchtigung, sind weder mit der Bundesverfassung noch mit der Uno-Kinderrechtskonvention vereinbar.» Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA), in der neben Freikirchen auch konservative Mitglieder der Landeskirche organisiert sind, distanzierte sich von den im Buch angepriesenen Methoden.

Innerhalb der evangelikalen Gemeinden ist man in Erziehungsfragen gespalten. Das zeigt auch die im letzten Jahr von der SEA mitgetragene Veranstaltung «Forum Ehe + Familie 2012»: Referenten bezogen zwar Stellung gegen die körperliche Gewalt an Kindern, doch gleichzeitig stand mit Matthias Kuhn ein Experte auf dem Podium, der bis heute Kurse zur Erziehung im Sinne des Autorenpaars Ezzo anbietet. Und auch an der zur Tagung gehörenden Fachausstellung wurden einschlägige Erziehungsprogramme beworben (siehe nachfolgendes Interview).

Hungrige Babys schreien lassen?

Prügelpädagoge Gary Ezzo wendet sich auch an eine weltliche Leserschaft: mit dem Babypflegebuch «Schlaf gut, mein kleiner Schatz». Der religiöse Hintergrund der Autoren ist nicht erkennbar. Das Buch ist seit 1997 auf Deutsch erhältlich, bereits in der achten Auflage im Handel und taucht auch auf konfessionell neutralen Websites wie Swissmom.ch auf.

Das Buch empfiehlt die höchst umstrittene Methode des elterngelenkten Fütterns (EGF) – man soll Babys nicht nach Bedarf stillen und schlafen lassen, sondern in einem von den Eltern definierten Rhythmus: wecken, wenn das Baby den Rhythmus verschläft, und weinen lassen, wenn es sich zur Unzeit meldet. «Wenn Ihr Baby 15 bis 20 Minuten schreit, schadet ihm das weder körperlich noch seelisch», heisst es dazu. Dank EGF sollen Babys mit acht Wochen bis zu acht Stunden durchschlafen. Klappts nicht, bräuchten Babys «einen kleinen Schubs». Konkret: «Dazu gehört vielleicht auch ein wenig Schreien, das von fünf Minuten bis zu einer Stunde dauern kann.» Höchstens alle 15 Minuten soll man schnell nach dem Baby sehen.

Für Christa Müller-Aregger, Geschäftsführerin des Berufsverbands Schweizerischer Stillberaterinnen, sind solche Aussagen weder fachlich noch menschlich zu vertreten. Gerade in den ersten drei Monaten nach der Geburt sei es zentral, ein Baby dann zu stillen, wann immer es Hunger anzeige. «Nur so kann sich die mütterliche Milchproduktion ausreichend auf die Bedürfnisse des Babys einstellen, und nur so ist sichergestellt, dass das Baby optimal versorgt wird.» Wer ein Neugeborenes in ein Raster presse, nehme in Kauf, dass das Kind Hunger leide. Genauso wenig hält Müller-Aregger davon, Babys schreien zu lassen. «Ein Baby, das schreit, ist auf eine Reaktion seiner Bezugspersonen angewiesen. Kommt diese nicht, verliert es das Vertrauen in seine Umwelt und damit sein Selbstvertrauen.» Und: «Schreien ist für ein Baby ein enormer Kraftakt. Wenn man es eine Stunde lang schreien lässt, ist es der reine Überlebensdrang, der es verstummen lässt.»

Das Programm «Babywise», wie es im Original heisst, beschäftigte in den USA bereits die Kinderärztegesellschaft AAP. Kinderärzte beobachteten bei einigen Babys, die nach dieser Methode gefüttert wurden, Dehydration, Unterernährung und Entwicklungsrückstände. Vielleicht nicht zuletzt wegen der in den USA massiven Kritik – auch aus evangelikalen Kreisen – sucht das Autorenpaar Ezzo mit seiner Organisation Growing Families International laut seiner Website Verbreitung im deutschsprachigen Raum.

Bundesrat soll Evangelikale beobachten

In der Schweiz haben sie längst Fuss gefasst. So führt der Verein Childwise.ch aus Gattikon regelmässig Seminare in der ganzen Deutschschweiz durch. Und 2011 lud die Landeskirchliche Gemeinschaft Jahu in Biel zu «Babywise»- und «Childwise»-Kursen mit Anne Marie und Gary Ezzo ein.

«Schuld mahnt an die Sünde. Die Züchtigung ist der Preis, den es das Kind kostet, dass diese Schuld von ihm genommen und es von seiner Last befreit werden kann», heisst es bei den Ezzos. Jacqueline Fehr kann darob nur den Kopf schütteln. In der Sondersession im April wird die Präsidentin der Stiftung Kinderschutz erneut an den Bundesrat gelangen: «Es ist Zeit, dass der Bundesrat anfängt, die evangelikale Bewegung kritisch zu beobachten. Gerade zum Schutz der betroffenen Kinder.»

Hansjörg Forster: «Wir sind in jedem Fall dagegen»


Darf man Babys schlagen? Fragen an Hansjörg Forster von der Schweizerischen Evangelischen Allianz.

Beobachter: 2011 distanzierte sich die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) von der körperlichen Züchtigung von Kindern. Trotzdem führen Mitglieder weiterhin Kurse durch, die zur Gewalt an Kindern aufrufen.
Hansjörg Forster: Die SEA ist sich bewusst, dass es in diesem Bereich einen Klärungsbedarf gibt. Wir wissen, dass es auch bei uns nahestehenden Organisationen Erziehungskonzepte gibt, die gegen die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Pädagogik verstossen. Deshalb haben wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die dazu anregen soll, verschiedene Erziehungskonzepte auf ihre Anwendungsberechtigung zu prüfen.

Beobachter: Genau diese Arbeitsgruppe hat 2012 an ihrer Tagung «Wie erziehen wir ‹richtig›?» Matthias Kuhn als Podiumsteilnehmer eingeladen, der für die angesprochene Züchtigungspädagogik steht. Ist das kein Widerspruch?
Forster: Das Podium war bewusst kontradiktorisch ausgelegt. Am Schluss waren sich praktisch alle einig, dass in der Erziehung Gewalt in jeder Form abgelehnt werden muss. Im Forum Ehe + Familie, das erst vor eineinhalb Jahren gebildet worden ist, geht es in einer ersten Phase darum, die christlich motivierten Kräfte einzubinden und eine gemeinsame Basis zu finden. Hier wird aber eine klare und kritische Positionierung gegenüber fragwürdigen Konzepten nicht ausbleiben.

Beobachter: An der zur Tagung gehörenden Fachausstellung wurde für Kurse der amerikanischen Autoren Anne Marie und Gary Ezzo geworben. In ihrem Werk «Kindererziehung nach Gottes Plan» rufen sie dazu auf, bereits Kleinkinder systematisch zu misshandeln.
Forster: Es ist mir klar, dass mit «Childwise» und «Babywise» Exponenten mit umstrittenen Konzepten vertreten waren. Wir stehen nicht hinter solchen Konzepten. Diese Werbung deckte sich nicht mit dem Anliegen der Veranstalter.

Beobachter: Distanziert sich die Schweizerische Evangelische Allianz von Erziehungskursen wie «Childwise» und «Family Train»?
Forster: Ja, wir sind in jedem Fall gegen die körperliche Züchtigung von Kindern. In Konzepten wie «Childwise» und «Family Train» finden sich neben guten Aspekten eindeutig Punkte, die eine Mitgliedschaft im Forum Ehe + Familie ausschliessen.

Hansjörg Forster ist Leiter der Arbeitsgemeinschaft Forum Ehe + Familie der Schweizerischen Evangelischen Allianz, in der neben Freikirchen auch konservative Mitglieder der protestantischen Landeskirche organisiert sind.
Foto: Privat

Quelle: Thinkstock Kollektion

Hochproblematische Erziehungsratgeber

In diesen Ratgebern wird körperliche Gewalt als zentrales, unabdingbares Erziehungsinstrument verstanden. Hinzu kommen Elemente psychischer Gewalt: Das Kind wird missachtet, terrorisiert, zurückgewiesen, isoliert und mit widersprüchlichen Botschaften konfrontiert.

  • Anne Marie und Gary Ezzo: «Kindererziehung nach Gottes Plan»; Druckerei GfC, 2006
  • Michael und Debi Pearl: «Keine grössere Freude», Band 1; European Missionary Press, 2005
  • Michael und Debi Pearl: «Wie man einen Knaben gewöhnt»; European Missionary Press, 2008
  • Lou Priolo: «Kinderherzen lehren. Wie man die Bibel in der Erziehung anwendet»; Betanien-Verlag, 2009
  • Lou Priolo: «Rebellische Kinder. Was tun bei Herzen voller Zorn und Wut?»; Betanien-Verlag, 2010
  • Tedd Tripp: «Eltern – Hirten der Herzen. Biblisch orientierte Erziehung»; 3L-Verlag, 7. Auflage, 2009

Problematische Erziehungsratgeber

Diese Ratgeber zeigen hohes Risiko für körperliche, psychische, strukturelle Gewalt. Körperliche Gewalt wird befürwortet.

  • James Dobson: «Der grosse Familien- und Erziehungsratgeber»; Bd-Verlag, 2011
  • Gary Ezzo, Robert Bucknam: «Schlaf gut, mein kleiner Schatz»; Gerth Medien, 8. Auflage, 2011
  • Ian Seaders, Lukas Zaugg: «Kindererziehung kompakt»; Bd-Verlag, 2011
  • Paul Tripp: «Das (Alp)traum-Alter. Keine Angst vor Teenagern»; 3L-Verlag, 2005

Von Infosekta akzeptierte evangelikale Ratgeber

  • Joachim E. Lask: «PEP4Kids»; Brunnen, 2003
  • Wilfried Veeser: «PEP4Teens»; Brunnen, 2010

Quelle: «Erziehungsverständnisse in evangelikalen Erziehungsratgebern – eine Analyse» (Infosekta und Stiftung Kinderschutz Schweiz, 2013)