Den kleinsten Staat der Welt erreicht man über einen steilen Weg. Sein Territorium umfasst: einen Garten, fünf Komposthaufen, ein Regierungs- und Verwaltungsgebäude mit integrierter Wohngemeinschaft, ein Atelierhaus. 300 Meter entfernt, quasi exterritorial in einer ehemaligen Färberei, liegt das kreative Epizentrum des Imperiums: ein Proberaum mit Regierungstisch, eine Werkstatt. Der kleinste Staat der Welt hat eine Verwaltung, die sich um Einkäufe, Essen und IV-Formulare kümmert. Und er hat eine – die – Regierung, die mal mit wildem Gesang, mal mit sanften Tönen regiert. Ein Volk hat der Staat nicht, geschweige denn ein Parlament. Oder besser: noch nicht. Aber davon später.

Ebnat-Kappel, Toggenburg. Die Geschäfte im Dorf haben Mittagspause. Gelegentlich fährt ein Auto vorbei. Es ist zwei Uhr nachmittags und Zeit für den täglichen Auftritt der höchsten Toggenburger: «Die Regierung», die normalste Band der Welt, schreitet zur Arbeit, genauer: in Richtung Proberaum. Erstes Traktandum: Üben für den Auftritt an einer Geburtstagsfeier am nächsten Tag. Die Vorgaben von Regierungschef Heinz Büchel: «Wir stehen also herum, trinken eins, erzählen ein paar wüste Witze, und dann fängt Franco an.»

Die Regierung ist komplett
Auftritt Franco Scagnet. Er streicht sich durch den langen Bart, wankt bedächtig zu seinem Vibrafon, schlägt zwei Töne an. Dann schaut er auf, in eine Ferne, die andere nie sehen werden. Tritt von einem Bein aufs andere, spielt einzelne Töne, lässt sie verhallen.

Hansi Dörig schlurft ans Schlagzeug, konzentriert, auf dem Kopf das gelbe Käppi mit eingenähten Spiegeln, das er immer zur Arbeit trägt. Hansi streicht mit den Drumsticks sanft über zwei Chromstahlschüsseln, nimmt Francos Töne auf, setzt zu einem Dialog an.

Begleitet vom leisen Klacken seiner Krücken kommt Massimo Schilling auf die Bühne, setzt sich auf seinen Schemel. Er richtet sein versteiftes Bein, greift zu seiner Gitarre, spielt ein paar einfache Akkorde. Sanft, als ob er das fragile Zusammenspiel nicht stören wollte.

Dann setzt das Akkordeon von Martin Baumer ein, bringt eine Spur Sehnsucht und Wehmut hinein.

Nur Piano und Bass sind noch nicht besetzt. Roli Altherr zögert, weiss nicht, wohin mit den Händen, ist unsicher. Schliesslich zieht ihn Heinz Büchel sanft auf die Bühne. Roli setzt sich ans Piano, Heinz greift zum Kontrabass. Die Regierung ist komplett und spielt. Verträumt, konzentriert, selbstverständlich.

«Ich war ein böser Mann»
Dabei ist es alles andere als selbstverständlich, dass die sechs Männer zusammen Musik machen. «Normal» im landläufigen Sinn ist nämlich von den Bandmitgliedern nur Heinz Büchel, Bandleader und Ersatzvater für die übrigen Regierenden. «Normalbehindert» sei er, sagt Heinz und will damit sagen: «Ich bin als ‹Normaler› etwa gleich behindert, wie die so genannten Behinderten normal sind.» Von beidem etwas, mit fliessenden Grenzen. Seine fünf «Jungs» jedenfalls, alle um die 40, sind alles andere als «normale» Behinderte.

«Ohne Heinz würde ich wohl in einer geschützten Werkstatt Schräubchen drehen», sagt Massimo. Eine leichte geistige Behinderung, eine Jugend in Heimen und ein körperliches Gebrechen – die Voraussetzungen für ein solches Schicksal waren gegeben. Stattdessen nennt sich Massimo heute selbstbewusst und -verständlich «Musiker». Drei CDs haben er und seine Regierungskollegen in den vergangenen Jahren aufgenommen, und sie haben an grossen Festivals gespielt. Jetzt sind sie für die nächste Prix-Courage-Verleihung des Beobachters gebucht. Sie geben Konzerte, spielen Theater, waren mit dem welschen Musiker Polar eine der Attraktionen der Expo.02. Patent Ochsner musizierte schon mit der Regierung, die Jazzpianistin Irène Schweizer, die Saxofonistin Co Streiff, der Blueser Max Lässer.

Martin macht ob all den Namen kein Aufhebens. «Ich nehme es, wie es kommt, nur so hat man ein schönes Leben.» Das war nicht immer so für Martin, den Akkordeonisten und Trompeter mit Down-Syndrom. Als ihn Heinz und Irene Büchel vor bald 25 Jahren aus einem Heim herausholten, war er aggressiv, voll gepumpt mit Psychopharmaka. «Ich war ein böser Mann», sagt Martin und lacht zufrieden. Bei Kämpfen auf dem Heuboden hat ihm Heinz Wutanfälle und Medikamente buchstäblich abgerungen.

Die einzigen Medikamente, die heute noch regelmässig ins Haus kommen, sind die Tabletten für Hansi und Roli, die beide Epileptiker sind. Hansi, der Schlagzeuger. Halbseitig zerebral gelähmt, begeisterter Jogger, Verwalter von Garten und Komposthaufen im Steinengässli 14, dem Regierungssitz. Es ist schwierig, Hansis Worte zu verstehen. Hansi kommuniziert anders: Er lacht. Viel, gern, herzlich und eigentlich fast immer.

Ein Ausserirdischer auf Erden
So wie Roli fast immer redet. Über Tanklöschfahrzeuge, Hubretter, Chemiewehr, Feuerwehruniformen. Oder über eine hübsche Lastwagenchauffeuse, die er auf der Strasse angesprochen hat. Oder über die Ferien auf Mallorca vor zehn Jahren und sein Elektropiano. «Roli, wenn du nicht behindert wärst, wärst du nicht auszuhalten», soll ihm einmal ein befreundeter Musiker gesagt haben, als er den Redeschwall nicht mehr aushielt.

Manchmal schweigt Roli aber auch oder fragt zwei Minuten vor seinem Einsatz verunsichert, was er denn eigentlich wie spielen soll. Und manchmal ist Roli frei, hebt ab: wenn er am Mikrofon steht und singt, «arabisch» oder «italienisch», was dann wirklich auch so klingt. Oder «englisch». Dann tönt Roli wie sein grosses Vorbild, wie Tom Waits. Mit ihm einmal zusammenzuspielen, das wäre ein Traum. «Irgendwann klappt das», sagt Roli.

Franco ist Rolis akustischer Antipode, taubstumm, Autist, «unser Ausserirdischer», sagt Heinz. Francos Kommunikation beschränkt sich auf wenige Gesten: ein Kreis in der Luft, ein Ausblasen sind die höfliche Anfrage, ob er rauchen dürfe. Dreimal am Tag beobachtet Franco mit dem Feldstecher Landschaft und Wetter. Und er fotografiert. Hunderte von Bildern mit immer wieder ähnlichen Sujets, dem Dorf, dem Haus, den Bäumen. Und mit Besuchern: Wer im Steinengässli zu Gast ist, muss mit Franco für ein Bild posieren.

«Der Heinz ist ein Supertyp»
Neben Francos Vibrafon steht auf der Bühne eine Art Kran. Auf ein Zeichen von Heinz hin zieht Franco die Kulisse eines Kasperlitheaters daran auf. Nun sind Martin und Roli an der Reihe. Ihr gesprochen-gesungener Dialog beginnt freundlich, man erzählt sich etwas in einer unverständlichen Sprache. Aus der netten Unterhaltung mit Musikbegleitung wird schliesslich ein handfester Streit, Kasperli und Bösewicht gleich, schreien sich die beiden an – und versöhnen sich wieder.

Die Szene ist zum Lachen komisch und soll es auch sein. Die Regierung lacht auch über sich selber. Wenn Franco auf dem Gang zur Bühne erst noch seine Hose hochziehen muss, dann grinsen die anderen und machen Sprüche. Wenn Roland am Ende eines Konzerts nicht aufhört, dem «tollen Publikum» für den «tollen Applaus» zu danken, immer weiterredet und die Zuhörerinnen und Zuhörer zum dritten Mal auffordert, die Band doch weiterzuempfehlen, dann lachen am Schluss alle.

Dieses Lachen, das hat viel mit Heinz zu tun. «Der Heinz ist ein Supertyp», sagt Martin, was sofort Rolis Widerspruch provoziert: Ganz immer sei man schon nicht zufrieden mit ihm, will Roli richtig gestellt haben: «Es sind auch schon Sachen in die Hosen gegangen.» Als ob das Heinz Büchel anfechten würde. Der Mann strahlt eine heitere Gelassenheit aus. Auf älteren Fotos hingegen blickt Heinz ernsthaft in die Welt, das Kinn mit dem wilden Bart meist ein wenig vorgereckt: «Achtung, ich bin der Heinz», wolle das wohl heissen, hat einmal eine Journalistin geschrieben.

Egal, was der «Sozialkuchen» sagt
Als Irene und Heinz Büchel Anfang der achtziger Jahre gemeinsam mit einem anderen Ehepaar im Haus Chupferhammer in Lütisburg ihre Gemeinschaft ins Leben riefen, nach und nach die damals sechs Buben aus Heimen holten, um ihnen eine Heimat zu geben, da brauchte es ein solch vorgerecktes Kinn: Eine therapeutische Grossfamilie, fernab von geschützten Werkstätten oder psychiatrischen Institutionen, das war vielen suspekt.

Heute ist die Wohngemeinschaft Steinengässli, wie sie seit dem Umzug nach Ebnat-Kappel heisst, ein Begriff im Toggenburg, die Regierung geradezu berühmt. Man hat Auszeichnungen erhalten, den Heilpädagogenpreis etwa oder den Kulturpreis des Kantons St. Gallen.

Aus dem Verein Chupferhammer, der ursprünglich bloss die eine Wohngemeinschaft hätte tragen sollen, wurde über die Jahre eine Grossorganisation, die mehrere ähnliche Institutionen vereinigt. Eine zu grosse Organisation, für Querkopf Heinz Büchel jedenfalls. Im vergangenen Winter hat er das «Steinengässli» aus dem Verein Chupferhammer herausgelöst. Hat auf Subventionen und Altersvorsorge verzichtet, um die Grossfamilie wieder nach eigenen Vorstellungen führen zu können. «Da ist eine riesige Last von mir abgefallen», sagt er. Und was man im «Sozialkuchen» von diesem Schritt hält, das kümmert ihn sowieso nicht: «Für mich zählt nur, dass wir von Musikern für unsere Arbeit Anerkennung erhalten.»

Aber ganz reicht ihm diese Anerkennung dann doch nicht. Heinz Büchel hat Ausbauideen, plant Grossinvestitionen. Nichts weniger als ein «Rathaus» für Regierung und Freunde soll aus der ehemaligen Färberei werden. In der Werkstatt unterhalb des Proberaums nimmt demnächst das Projekt «Anständig-randständig» den Betrieb auf, eine Art unbezahltes Arbeitsprojekt für Menschen am Rand der Gesellschaft. Sie sollen mit der Regierung gemeinsam eine Werkstatt einrichten, in der kleinere Arbeiten erledigt werden können. «Ich will die Leute vom Fernseher wegholen», sagt Heinz.

Eine Küche soll im «Rathaus» Platz haben, ein grosser Veranstaltungsraum ebenso. Den braucht die Regierung für die jährliche Session ihres Parlaments. Zwei Kammern soll die «Volksvertretung» haben, wie in Bern: 200 natürliche und 36 juristische Personen werden gesucht. Für einmal ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, dass Parlamentarier die Regierung für ihre Mandate schmieren. Denn in der «Volksvertretung» sollen Freunde und Fans sitzen, die den «Fabrikbetrieb» künftig sponsern.

Die Wiederwahl ist gesichert

Die Regierung wird an der jährlichen Session für ihre Wiederwahl werben und sich bei ihren Parlamentariern bedanken, mit Musik statt Worten. Martin wird seine Handorgel umgeschnallt haben, Massimo seine geliebte Höfner-Gitarre auf den Knien. Hansi wird am Schlagzeug sitzen, Roli am Piano. Heinz wird das Ganze vom Bass aus dirigieren. Und Franco wird seinen Kran bedienen. Wird eine runde, bewegliche Platte an einem Haken aufziehen, sorgfältig Weingläser daraufstellen, nach und nach Wasser einschenken. Wird die vollen Gläser eins nach dem andern wieder von der schwankenden Platte nehmen und verteilen. Das Publikum wird staunen, den Atem anhalten und irgendwann lachen, herzlich lachen.