«Viel Zeit zum Lesen habe ich hier im Spital gar nicht», sagt Kurt Bühler kokettierend und putzt die markante Brille – «mein Zugeständnis an den Zeitgeist». Auf der Bettdecke liegt sein «Landbote», den oberen Teil des Betts hat er aufgerichtet. Nur die Sonde am Arm, die den ehemaligen Zirkusartisten mit Flüssigkeit versorgt, erinnert daran, wo der 78-Jährige ist. Bühler kam als einer der ersten Patienten ins neue Zentrum für Palliative Care am Kantonsspital Winterthur.

Anfang Oktober, als die Schmerzen im Gesäss unerträglich wurden, liess er sich auf die Urologie einweisen. Nichts Neues für ihn. Spitäler und Ärzte hat er zeit seines Lebens gesehen: Eine erste Krebsdiagnose hatte er als Zwanzigjähriger erhalten. Anfang der neunziger Jahre wurden ihm nach einem Herzinfarkt acht Bypässe verpasst. Jetzt lautet die Diagnose: Nierenkrebs.

«Als ich hierher verlegt wurde, hat mich der Chefarzt gefragt, ob ich wisse, warum», erzählt Bühler. Über den Rest schweigt er sich aus: Weitere Eingriffe oder Therapien können seinen Zustand nicht mehr verbessern. Von Heilung oder Verzögerung des Krankheitsverlaufs ist keine Rede mehr. Was für ihn noch zählt, sind Wochen und Tage mit so wenig Schmerzen wie möglich. Eine letzte Zeit ohne Angst.

Betreuung mit vielen Facetten

Palliative Care trägt massgeblich dazu bei, diesen Wunsch zu erfüllen. Menschen mit unheilbaren oder chronischen Krankheiten erleben dank dieser Betreuungsform bis zum Tod möglichst viel Lebensqualität. Palliative Care steht für «lindernde Pflege», das trifft die Sache aber nicht ganz. Palliative Care ist eher eine Haltung, die viele Aspekte umfasst: kompetente medizinische Versorgung, aufmerksame und individuell ausgerichtete, vorausschauende Pflege. Je nach Fall umfasst sie auch psychische, soziale oder spirituelle Betreuung der Patienten und eine Begleitung der Angehörigen.

Kürzlich habe der Pfarrer ihn gefragt, ob er auf den Tod vorbereitet sei, erzählt Kurt Bühler. «Ja, das bin ich. Dem Tod habe ich schon mehrmals in meinem Leben in die Augen geschaut. Wir sind auf dieser Welt auf der Durchreise. Wir sind alle Fahrende.» Er schmunzelt. Seine blauen Augen sind hellwach. Blau ist auch das ganze Zimmer, in dem er untergebracht ist: Boden, Wände und Vorhänge. «Ganz toll» sei es hier, meint Bühler, der das Gebäude noch von früher kennt, als Seuchenhaus mit Terrassen für Tuberkulosekranke. Der Blick aus dem nüchternen Spitalzimmer fällt auf bunte Bäume. «Schön. Aber Bäume habe ich auch da, wo ich wohne», sagt Bühler wehmütig. Bald will er wieder heim, in die Nähe seines Campingwagens. Denn Weihnachten möchte er im Kreise seiner Familie feiern.

Für Christoph Seitler, den ärztlichen Leiter des neuen Zentrums, ist der Wunsch nicht abwegig. Im Gegenteil: «Wir sind kein Sterbehospiz, sondern eine rehabilitierende Palliativklinik. Auch Schwerstkranke und Sterbende sollen wieder nach Hause können, sobald sie dazu in der Lage sind und sofern ein tragendes Netzwerk steht.» In Winterthur hat sich vor drei Jahren ein Palliative-Care-Netzwerk zusammengeschlossen, dem Hausärzte und Spitex-Mitarbeitende angehören. Der Bedarf ist ausgewiesen: Untersuchungen zeigen, dass zwar vier von fünf Menschen in der Schweiz zu Hause sterben möchten, dieser Wunsch aber nur bei einem von fünf in Erfüllung geht.

Misere in der Versorgung

Zentren für Palliative Care, die stationäre und ambulante Angebote koordinieren, gibt es in mehreren Kantonen. Die umfassendsten Angebote bieten die Kantone St. Gallen, Waadt, Zürich und Tessin. Unter diesen führend ist die Waadt mit vier mobilen Teams für Erwachsene und einem, das auf Kinder spezialisiert ist. Auch Altersheime und Heime für geistig und körperlich Behinderte werden dort mit einbezogen. Ein kantonaler Beschluss ermöglichte bereits vor sieben Jahren das entsprechende Konzept.

Im Rest der Schweiz harzt es mit der Umsetzung. Man muss von einer eigentlichen Misere sprechen. Das bestehende Versorgungsnetz entspricht einem Bruchteil des eigentlichen Bedarfs. Laut internationalen Empfehlungen würde zum Beispiel allein der Kanton Baselland 80 bis 100 Betten benötigen – zur Verfügung stehen zehn. Dies erstaunt umso mehr, als man schon heute weiss, dass es in den kommenden Jahren immer mehr alte Menschen geben wird, die unheilbar oder chronisch krank sind. Gemäss Hochrechnungen werden bereits 2050 pro Jahr 50 Prozent mehr Menschen sterben als heute.

Immerhin ist der Missstand inzwischen erkannt. Bund und Kantone stellten diesen Herbst endlich eine nationale Strategie für Palliative Care für die Jahre 2010 bis 2012 vor. Was viele Medien als eine der letzten Initiativen von Gesundheitsminister Pascal Couchepin feierten, kommt aber lediglich einer Absichtserklärung gleich: Konkrete Massnahmen wurden keine bekanntgemacht. Die wichtige Frage der Finanzierung blieb offen: Wie viel soll durch die Grundversicherung der Krankenkassen bezahlt werden? Heute deckt sie rund 80 Prozent des Palliative-Care-Angebots. Längerfristig wird eine solche Finanzierung an Grenzen stossen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) prüft zwar derzeit Finanzierungsvorschläge von externen Experten, das Resultat ist aber noch offen. Wie auch immer: Ohne politische Entscheide kann das BAG seine Ziele nicht umsetzen und kein flächendeckendes Netz mit Palliative-Care-Angeboten schaffen.

Klar ist: Eine «Fallpauschale Palliative Care» kann es nicht geben. Dafür ist jeder Fall viel zu individuell. Deshalb wird auch das neue Fallpauschalensystem, mit dem Spitäler ab 2012 abrechnen müssen, Palliative Care nicht fördern. Fachleute befürchten sogar, dass die fundamentalen Tarifänderungen für schwerkranke und sterbende Patienten eine Verschlechterung der Versorgung zur Folge haben werden.

In der Pflege bedeutet Palliative Care stets mehr Aufwand. So auch bei Kurt Bühler: Als Artist, der sein Leben lang spät aufgestanden ist, wird er anders als in einem Spital nicht routinemässig geweckt. Der Tagesablauf wird so weit wie möglich seinem Rhythmus angepasst. In Pflegeheimen mit palliativem Ansatz geht man auch auf kulinarische Sonderwünsche ein. Sogar das Zimmer kann mit eigenen Möbeln und Bildern eingerichtet werden. Schwerstkranke, die nicht mehr gehen können, möchten oft ganz zum Schluss nochmals ins Freie, an den Fluss oder in den Garten. Solche Wünsche werden wenn immer möglich erfüllt.

«Das körperliche Wohlbefinden hängt auch wesentlich vom psychischen Zustand ab», sagt Christoph Seitler. Viele der zusätzlichen Leistungen sind aber in den Pflichtleistungen der Grundversicherung nicht enthalten. Die Heime sind also gezwungen, Sonderausgaben für die wenigen Palliativplätze aus der eigenen Tasche zu bezahlen.

Die Interessen von Spitälern und Pharma

Ist aber ein Ausbau der Pflege Todkranker angesichts des ständig steigenden Spardrucks im Gesundheitswesen überhaupt realistisch? «Palliative Care ist kein Luxus», sagt Heike Gudat, Präsidentin des Palliativnetzes Nordwestschweiz: «Es gibt sogar ein gewisses Sparpotential, weil teure, aber oft nicht sinnvolle Behandlungen wegfallen.» Ein Tag im Arlesheimer Hospiz im Park etwa, dessen medizinische Leitung Gudat innehat, kostet rund 1000 Franken und wird je zur Hälfte von den Krankenkassen und der Hospizstiftung übernommen – ein Tag Chemotherapie im Akutspital beläuft sich dagegen auf 1500 bis 2000 Franken.

Dass Palliative Care bisher so stiefmütterlich behandelt worden ist, hat auch mit den Verantwortlichen in den Spitälern zu tun, wo noch immer teure und für Patienten oft unangenehme Behandlungen der technologisierten Medizin durchgeführt werden. Manche Ärzte verharren zu oft in Aktionismus und verschweigen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind. Auch die Pharmaindustrie hat handfeste Interessen. So ist es verständlich, dass in der Schweiz nach wie vor keine Statistiken zur Vollkostenrechnung für die letzte Lebensphase vorliegen. «Wichtig wären nationale Richtlinien und kantonale Leistungsaufträge für Palliative Care», so Heike Gudat, «klare Strukturen und für Benutzer erkennbare Labels.» Denn unter dem Begriff Palliative Care tummelt sich vieles. Auch Institutionen, die den Behandlungsrichtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung nicht entsprechen. Oft fehlen spezialisierte Ärzte und Pflegende. Offizielle Kontrollstellen sind in weiter Ferne.

«Ich werde hier liebevoll betreut»

Doch das muss Kurt Bühler nicht scheren. Er ist an einem guten Ort gelandet. «Das Wichtigste ist: Ich habe keine Schmerzen. Und ich werde hier liebevoll und mit grosser Aufmerksamkeit betreut.» Auch traurige Stimmungen würden aufgefangen, «die Schwäche der Nerven», wie Kurt Bühler sein gelegentliches Weinen nennt.

Im Nebenzimmer liegt Katharina Roth (Name geändert). Gegenüber ihrem Bett hängt dieselbe Lithographie wie bei Kurt Bühler: grüne Äste und ein Stück hellblauer Himmel. Das Bild gefällt ihr. Nur das Blau, in dem auch ihr Zimmer gehalten ist, sei etwas kühl. Auch sie hat ein klares Ziel: nochmals nach Hause. Schon morgen. Trotz Magensonde. Spitex, mobile Palliative Care und Notruf machen den Wunsch der 76-Jährigen möglich. Ihrer Tochter, die sich wegen der ersten Nacht ängstigt, habe sie gesagt: «Man kann im Leben nicht alles absichern. Ich nehme jetzt einfach jeden Tag, wie er kommt.»