In Scuol sura, im oberen Dorfteil, nicht weit von den Bergbahnen, steht das Haus von Tagesmutter Christine Truog. Vom Balkon aus sieht man den Dreitausender Piz Lischana, daneben den etwas niedrigeren Piz Ajüz. Doch für diese Naturschönheiten hat die siebenjährige Lena keinen Blick. Sie fläzt sich lieber auf der grossen Schaumstoffwippe in Bananenform, während ihr jüngerer Bruder Niclas, 5, mit der gleichaltrigen Sina herumtollt. Leila, 3, rast auf dem Polizei-Bobbycar auf den kleinen Reto zu und streitet mit ihm um ein Bilderbuch. «Die beiden können nicht ohne einander, aber auch nicht miteinander», erklärt Tagesmutter Christine. Im grossen Wohnzimmer sieht es aus wie in einem Kinderparadies: Überall liegt Spielzeug verstreut, ein Puppenhaus steht an der Wand, und bequeme Möbel zum Faulenzen gibt es zuhauf. Ruhig ist es im Hause Truog selten.

Gut 2000 Einwohner hat Scuol, Hauptort des Unterengadins. Rund 6000 Menschen wohnen im Tal, das von Zernez bis Samnaun reicht; 60 Kilometer liegen zwischen den beiden Dörfern. Eine ländliche Region am Südostrand der Schweiz, an Österreich und Italien grenzend.

Die 40-jährige Christine Truog, Mutter von Sina, 5, und Reto, 20 Monate, betreut von Dienstag bis Donnerstag bis zu vier Kinder zusätzlich zu ihren eigenen. Bis zu zwölf Stunden am Tag, inklusive Mittagessen, Spielen, Trösten und was sonst noch alles zu einem Kinderalltag gehört. Dafür bekommt die gebürtige Baslerin einen Lohn von maximal 1100 Franken monatlich, je nach Anzahl Fixplätze. «Wegen des Geldes macht das niemand», sagt sie bestimmt. «Ich mache das aus Überzeugung, weil ich etwas bieten möchte für unsere Randregion.» Seit 15 Jahren lebt sie schon im Unterengadin, ist verheiratet mit einem Einheimischen.

Für Nachwuchs ist gesorgt
Der Verein Chüra d’uffants Engiadina Bassa - zu Deutsch Verein Kinderbetreuung Unterengadin - wurde 2001 gegründet. Grundidee war, eine praktische und einfache Form der familienexternen Kinderbetreuung anzubieten, als Ergänzung zu bestehenden innerfamiliären Lösungen. Im Unterengadin gibt es keine Kinderkrippen oder -horte, «die Entfernungen sind einfach zu gross», sagt Vereinspräsidentin Maja Bischoff. Zudem seien die Auflagen für die Gründung einer Krippe sehr hoch.

Dennoch wollte man sich nicht einfach beklagen und die Hände in den Schoss legen, sondern «selber etwas tun». So sei der Verein auf die Betreuungsform «Tagesmütter» gekommen. Bald reichte das Angebot nicht mehr aus, und die Idee einer Tagesmutter-Grossfamilie kam auf. Zuerst lief das Projekt drei Jahre in Ardez, einem Nachbardorf von Scuol, seit November 2006 amtet nun Christine Truog in Scuol als Grossfamilien-Mama. Mit Erfolg, wie Vereinspräsidentin Bischoff erklärt, bereits sei ein Baby angemeldet, das noch gar nicht geboren sei.

Die 48-jährige Maja Bischoff, Mutter von drei Teenagern, ist stolz auf ihren Verein und dessen Grossfamilien-Projekt. «Wir leisten hier Pionierarbeit. Die Betreuung der Kinder ausserhalb der Familie ist im Unterengadin noch unüblich, aber das Bedürfnis ist dennoch gross.»

So nutzen heute vor allem Unterländer und Ausländer das Angebot. «Bis die Einheimischen über ihren Schatten springen, wird es noch einige Jahre dauern», ist Tagesmutter Christine Truog überzeugt, «aber wer keine Grosseltern oder Tanten in der Nähe hat, ist froh, wenn er sein Kind mal abgeben kann.» Schliesslich würden auch bei ihnen in der Region immer öfter beide Eltern arbeiten.

Erst im Jahr 2003 - zwei Jahre nach der Gründung des Vereins Chüra d’uffants - wurde im Kanton die Gesetzesvorlage zur familienexternen Kinderbetreuung angenommen. Seither unterstützte Graubünden das Projekt finanziell mit gut einem Franken pro Kind und Betreuungsstunde. «Das reicht natürlich bei weitem nicht», so Bischoff. Für 2007 sei die Finanzierung über Spenden sichergestellt, aber die finanzielle Belastung für den Verein sei weiterhin sehr hoch - obwohl der Vorstand ehrenamtlich arbeitet. «Dank dem Erfolg und der stetigen Überzeugungsarbeit in der Region sind wir politisch endlich ein Stückchen weitergekommen», erklärt Bischoff. So unterstützen Kanton und Gemeinden das Projekt nun etwas mehr: mit der Übernahme von je 15 Prozent der Kosten pro Kind.

Bischoffs Engagement nährt sich aus den Erfahrungen, die sie mit ihren eigenen drei Kindern gemacht hat: «Ich habe immer nebenbei gearbeitet und ganz verschiedene Formen der Kinderbetreuung ausprobiert.» Es sei ihr ein Anliegen, anderen Familien eine professionelle Kinderbetreuung anbieten zu können - gerade wegen und trotz der schwierigen Umstände in der Region. «Schliesslich tue ich das auch für meine Kinder beziehungsweise für meine künftigen Enkelkinder», sagt sie lachend. Am liebsten würde der Verein noch eine weitere Grossfamilie der besonderen Art gründen, die Nachfrage sei da: «Wir sind optimistisch.»

«Ui, was hast du dir da aufgehalst»
Die HSA Hochschule für Soziale Arbeit Luzern und ihr Rektor Walter Schmid unterstützen den Beobachter bei der Auswahl der auszuzeichnenden Projekte. «Das Projekt Grossfamilie Unterengadin lehnt sich zwar an bereits bestehende Angebote an, kann aber für sich in Anspruch nehmen, für die Region Unterengadin Modellcharakter zu haben.» Damit erfülle es nicht nur den Auftrag der Betreuung von Kindern, sondern trage auch zur Bewusstseinsbildung bezüglich der veränderten Anforderungen an Familien bei, so Vreny Schaller-Peter und Alex Willener von der HSA Luzern. Zwar gebe es das Modell Tagesfamilien seit längerer Zeit schon erfolgreich in der Schweiz, die Grossfamilie Unterengadin leiste aber Pionierarbeit und sei für die Randregion ein wichtiger Schritt bezüglich familienergänzender Kinderbetreuung. Und die Organisation sei von hoher Qualität.

Tagesmutter Christine Truog freuts: «Am Anfang habe ich schon gedacht: ‹Ui, was hast du dir da aufgehalst.› Aber jetzt sehe ich, wie viel es bringt, wie die Eltern zufrieden sind und dass auch meine eigenen Kinder von der Grossfamilie profitieren und sich sozialer verhalten.» Sagt es und greift beim erneuten Streit zwischen Leila und Reto beschwichtigend ein.

Kontakt
Verein Chüra d’uffants Engiadina Bassa
maja@bischoffpool.ch

soziallabel.gifAusgezeichnete Projekte: Zur Nachahmung empfohlen
Die Erhaltung tragfähiger sozialer Netze war dem Beobachter von jeher ein Anliegen. Dafür braucht es nicht nur starke staatliche Einrichtungen, sondern auch private Initiative und Kreativität, um Nischen zu füllen, die der institutionelle Sozialapparat nicht abdeckt. Solche Angebote werden in einer sechsteiligen Serie anlässlich des 80. Geburtstags des Beobachters vor-gestellt. Wir würdigen privat initiierte Sozialprojekte aus den Bereichen Familie, Arbeit, Pflege, Ausländerintegration, Jugend und Nachbarschaftshilfe - auch als Muster zur Nachahmung. Die mit einer Urkunde ausgezeichneten Projekte weisen ein eigenständiges Profil auf und ermöglichen nachhaltige Lösungen. Ein weiteres Kriterium ist Transparenz punkto Trägerschaft und Finanzierung. Als Fachjury wirkt die HSA Hochschule für Soziale Arbeit Luzern.

Quelle: Christine Bärlocher