Wir haben Sie, liebe Leser, im vergangenen Herbst dazu aufgefordert, uns Erziehungsfragen zu schicken. Unter den zahlreichen Einsendungen haben wir eine Auswahl getroffen, die Gabriele Herfort aus dem Beratungszentrum des Beobachters beantwortet.

Mein Enkel ist 5 Jahre alt. Er ist sehr temperamentvoll bis hin zu jähzornig. Nun ist er im Kindergarten. Er benutzt oft wüste Schimpfwörter, beschimpft seine Mutter als Sau und verletzt andere Kinder absichtlich. Was kann ich tun, um die Situation zu ändern?

Antwort: Bei Kindern und Jugendlichen werden Schimpfwörter oft zum Ritual unter Gleichaltrigen. Ein Fluch ist immer noch besser, als die Fäuste gegen andere zu erheben. Gleichwohl müssen sich Eltern nicht alles anhören, sondern sollten Grenzen setzen. Sagen Sie deutlich, dass Sie solche Worte nicht hören wollen. Suchen Sie stattdessen gemeinsam nach Ausdrücken, die das Kind benutzen darf. Zum Beispiel: «Das ist so blöd!» statt «Das ist Scheisse!». Daneben ist es wichtig, dass Sie mit ihm die Bedeutung der Worte besprechen. Weiss er überhaupt, was er sagt und dass Worte und Schläge verletzen können?

Unternehmen Sie so oft Sie können etwas mit dem Jungen. Gehen Sie in die Natur – es tut ihm sicher gut zu rennen, auf Bäume zu klettern oder Ball zu spielen. Geben Sie ihm Aufgaben. Vielleicht kann er Ihnen bei Arbeiten in Haus und Garten helfen. Überlegen Sie, was der Junge gut kann und gern macht. Erledigt er eine Sache gut, gibt ihm das Selbstvertrauen und er hat es mit der Zeit nicht mehr nötig, mit Schimpfworten oder Schlägen auf sich aufmerksam zu machen. Können die Eltern schwer Grenzen und Regeln setzen oder sind sie mit der Situation überfordert, ist es sinnvoll, wenn sie eine Erziehungsberatungsstelle um Rat fragen.

 

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Was macht man mit Primarschülern, die ständig den Unterricht stören und nicht gehorchen? Darf man sie am Oberarm greifen und aus dem Klassenzimmer führen, damit sie sich zum Beispiel auf dem Pausenhof oder an einem Boxsack abregen?

Antwort: Wenn es mit den Eltern abgesprochen ist, dürfen Sie Kinder in bestimmten Situationen auf den Pausenhof oder zum Boxen schicken. Wichtig ist, sie zu beaufsichtigen. Dabei reicht es, dass die Lehrperson das Geschehen durchs Fenster beobachtet und bei Bedarf eingreifen kann. Einen Schüler am Oberarm zu greifen, kann heikel sein, da es zu Verletzungen führen kann. Eine Absprache mit den Eltern der «Störenfriede» ist sinnvoll. In den meisten kantonalen Schulgesetzen gibt es Regelungen unter dem Stichwort «Disziplinarmassnahmen». Diese zeigen auf, was Lehrpersonen bei Fehlverhalten der Schüler und Schülerinnen machen können.

 

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Unser Sohn (3 Jahre) ist eifersüchtig auf seine jüngere Schwester (11 Monate). Er schubst, schlägt und tritt sie immer wieder. Ich kann ihn keine Minute mit ihr alleine lassen. Jedes Mal tröste ich die Kleine, nehme unseren Sohn zur Seite, sage, dass ich das nicht möchte und er sich entschuldigen soll. Das scheint ihn nicht zu beeindrucken.

Antwort: Eifersucht auf ein Geschwisterkind ist eine normale Reaktion. Psychologen sprechen von dem Gefühl des «Entthront-Werdens», das ein Erstgeborenes erlebt, wenn ein neues Geschwisterchen geboren wird. Ihr Sohn fühlt sich unsicher und weiss nicht, wie er mit der neuen Situation umgehen soll. Plötzlich ist er sich der absoluten Liebe seiner Eltern nicht mehr sicher. Und nun will er sich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit mit allen Mitteln zurückerobern. Gut gemeinte Worte, wie «Wir haben dich genauso lieb wie deine Schwester» oder «Du bist unser Grosser und schon viel selbständiger» helfen nicht. Bestrafungen aber genauso wenig.

Es ist wichtig zu erklären, dass Schläge der Schwester weh tun. Vielleicht hilft es, wenn Sie ihn miteinbeziehen – zum Beispiel beim Füttern oder Wickeln. Erklären Sie Ihrem Sohn, dass Babys sehr viel Pflege bedürfen, weil sie noch sehr klein sind, sich dieser Zustand aber ändern wird. Ihr Sohn braucht Sicherheiten. Rituale wie wöchentliche Aktivitäten nur für ihn oder täglich eine ausgedehnte Gutenachtgeschichte können helfen. Es geht darum, Ihren Sohn mit Taten spüren zu lassen, dass er genauso geliebt wird wie seine Schwester.

Gabriele Herfort

Quelle: Getty Images

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Mein Sohn ist beim Essen extrem heikel. Manchmal verweigert er alles und isst aus Trotz den ganzen Tag gar nichts.

Antwort: Sie können Ihren Sohn nicht zwingen, bestimmte Speisen zu essen. Auch Tricks und Überredungskünste gehören nicht an den Tisch – zumal solche Versuche meist ohnehin nicht von Erfolg gekrönt sind. Beruhigend ist, dass Ihr Sohn sicher essen wird, wenn er Hunger hat.

Auch wenn Kinder in der Trotzphase die Nerven ihrer Eltern strapazieren, tröstet es vielleicht, sich klar zu machen, dass Trotz Teil der kindlichen Entwicklung ist. Anders können sich Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit und Frustrationstoleranz kaum entwickeln. Der Begriff «Autonomiephase» ist denn auch zutreffender als Trotzphase. Er beschreibt genauer, womit sich Kinder und Eltern auseinandersetzen müssen. Gelassenheit und konsequente Strategie helfen, mit der Situation umzugehen. Beim Essen bestimmen Sie, was auf den Tisch kommt. Sie bestimmen, wann es etwas gibt. Die Kinder entscheiden dafür, was und wie viel sie essen.

Hilfreich ist es, eine vertraute Speise wie Nudeln oder Brot zum Essen zu reichen. Mag er etwa kein Gemüse, isst er zumindest davon. Wenn Sie unsicher sind, ob Ihr Sohn zu wenig isst, führen Sie doch ein Ernährungstagebuch. Es ist manchmal erstaunlich, was über einen Tag verteilt alles zusammenkommt.

 

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Meine Stieftochter (10 Jahre) terrorisiert mich. Sie wütet in meiner Wohnung, bedroht und verleumdet mich. Wieso akzeptiert sie mich nicht?

Antwort: Ihre Stieftochter betrachtet Sie wahrscheinlich als Eindringling. Insbesondere ältere Kinder tun sich mit der neuen Konstellation oftmals schwer und reagieren zurückhaltend, ablehnend oder eben aggressiv. Eine «neue» Patchworkfamilie hat sich erst nach ungefähr fünf Jahren etabliert. Erst einmal müssen Sie sich bewusst sein und akzeptieren, dass Sie eine «Fremde» sind. Eine Beziehung muss erst einmal aufgebaut werden. Zeit, Einfühlungsvermögen, Geduld und Gelassenheit der Erwachsenen sind jedoch ein Muss, damit sich die neue Familie finden kann.

Die eigene Rolle als Stiefmutter zu finden, ist zentral:

 

  • Sie sind kein leiblicher Elternteil. Pflegen Sie Freundschaft statt Elternschaft. Seien Sie ein guter Freund, der klar und konsequent seine Meinung vertritt, ohne die Vater- oder Mutterrolle in Anspruch nehmen zu wollen. Sie werden schneller als Bezugsperson akzeptiert und die geltenden Regeln werden besser eingehalten.
  • Einigen Sie sich mit Ihrem neuen Partner auf einen Erziehungsstil und sprechen Sie die Richtlinien mit der ehemaligen Partnerin ab.
  • Respektieren Sie die leiblichen Eltern und sprechen Sie im Beisein der Stieftochter nicht abwertend über sie. Wird der abwesende Elternteil zum Thema, sollten sich die neuen Partner raushalten. Sie müssen niemandem etwas beweisen und sich auch nicht als Rivalen sehen.

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