Margrit Sommer* hat immer wieder den gleichen Traum: Sie und ihr Sohn Daniel* spazieren durchs Dorf. Nicht zusammen; die breite Hauptstrasse trennt sie. Sie blickt zu ihm hinüber. Sieht, wie die langen, schwarzen Haare beim Gehen auf dem Rücken tänzeln. So hat er als Teenager ausgesehen, denkt sie sich dann und schaut weg. Für einen langen Moment. Als sie wieder hinsieht, erschrickt sie – die lange Haarpracht ist weg, abgeschnitten. Ohne dass sie es mitbekommen hat.

Die 54-Jährige hat viel verpasst vom Leben ihres heute 32 Jahre alten Sohnes. Margrit Sommer war nicht dabei, als Daniel zum ersten Mal eine richtige Freundin hatte. Sie konnte nicht mit ihm mitfiebern, als er in einer Kampfsportart den Schweizer-Meister-Titel gewann. Sie hat nicht mitfeiern können, als er seine erste Stelle erhielt. Daniel Sommer hat vor über 14 Jahren den Kontakt abgebrochen. Ruhig, ohne Streit. Als hätte der 17-Jährige bei seinem Auszug von zu Hause wortlos die Tür für immer hinter sich zugezogen. So kommt es der Mutter heute vor.

«Am schlimmsten ist die Ungewissheit. Ich weiss bis heute nicht, was ich falsch gemacht habe», sagt die Frau mit den klaren Augen und den rötlichen Haaren. Sie sitzt auf der Terrasse ihres Hauses in der Region Thun. Zu viert sind sie vor fast 20 Jahren hier eingezogen. Damals hätte sie nie gedacht, dass sie einmal nur noch einen Sohn haben sollte. «Ich dachte immer, Daniel und ich hätten einen guten Draht zueinander», sagt Margrit Sommer. 

Wie viele Kinder in der Schweiz unvermittelt den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, ist nicht bekannt. Doch es gibt schweizweit sechs Selbsthilfegruppen zum Thema «verlassene Eltern». Einige führen sogar eine Warteliste – wie diejenige in Bern. Dort, im Bollwerk, treffen sich einmal im Monat bis zu 15 Mütter und Väter. Wie an diesem heissen Sommerabend. Ausserhalb der Gruppe reden die meisten der verlassenen Eltern kaum über ihren Schmerz. «Das ist ein grosses Tabuthema», erzählt eine Frau. Auch im grösseren Familien- und Freundeskreis. «Alle wissen, dass unsere Tochter nicht mehr mit uns redet, doch niemand sagt oder fragt etwas.»

Keine Dramen, keine offenen Konflikte

Die Geschichten der Berner Eltern unterscheiden sich, und doch haben sie eine Gemeinsamkeit: Ihr Familienleben war normal. Keine grossen Dramen, keine offenen Konflikte. Nichts, was die Funkstille erklären könnte. Deshalb sitzen sie jetzt im Raum des Selbsthilfezentrums zusammen. Mit hängenden Schultern. Zurückgelassen mit offenen Fragen und schlaflosen Nächten. Sie versuchen sich einen Reim darauf zu machen, weshalb ihre Kinder alle Brücken hinter sich abgebrochen haben. Heimlich Telefonnummern oder Wohnort geändert und Briefe ungeöffnet zurückgeschickt haben. Als seien ihnen die Eltern egal. «Ich frage mich oft, ob es den Kindern auch so schlecht geht wie uns», sagt ein Vater.

Gedankenverloren schaut Denise Liechti* auf ihre Füsse, auf die perfekt lackierten roten Nägel. Es ist die zweite Pause, die sie an jenem Nachmittag am Ufer des Zürichsees macht. In der sie plötzlich still sitzt, einige Male tief durchatmet, bevor sie weitererzählt. Die 43-Jährige erinnert sich gut an das letzte Telefonat mit ihrer Mutter. Den letzten Kontakt überhaupt. 

Wenn Eltern und Kinder keinen Kontakt mehr haben

«Am schlimmsten ist die Ungewissheit. Ich weiss bis heute nicht, was ich falsch gemacht habe.» – Margrit Sommer

Quelle: Joseph Khakshouri

Das war vor elf Jahren. Wochen zuvor hatte sie eine Therapie begonnen, weil sie in eine Depression gerutscht war. Sie suchte nach Antworten. Auch bei ihren Eltern, wie sie sagt: «Als Kind wurde ich nie ernst genommen. Ich wollte wissen, wieso.» Ein klärendes Gespräch hätte es werden sollen, doch es kam anders: Die Mutter sagte ihr, sie übertreibe, und wechselte das Thema. «Damit traf sie bei mir einen Nerv.»

Liechti wuchs behütet im Zürcher Oberland auf. Der Vater verdiente genug, um die Familie allein zu versorgen. Die Mutter konzentrierte sich ganz auf das Kind. Ausflüge auf den Spielplatz und gemeinsames Basteln oder Backen gehörten zum Alltag. Genauso Umarmungen. An Liebe und Aufmerksamkeit fehlte es nicht. Dafür an Nachgiebigkeit. Die Eltern waren streng. Vieles, was die Tochter gut fand, verboten sie. Architekturstudium: «Da verdienst du fast nichts.» Der neue Freund: «Du kannst etwas Besseres haben.» Ferien in Barcelona: «Zu gefährlich!» 

Der Kontaktabbruch nach jenem letzten Gespräch war für Liechti ein Befreiungsschlag, wie sie sagt. «Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich mit meinen Eltern auf Augenhöhe.»

Eine Tochter erklärt ihren Entscheid

Ganz anders war es bei Paula Deme. Sie hat seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu den Eltern. «Ich wollte nicht mehr der Blitzableiter in der Familie sein», sagt sie. Der Vater, schwer alkoholkrank, kümmerte sich nicht um die Kinder. Ab und zu schlug er zu. Die Mutter arbeitete sich krumm. Abends gab es oft Streit. Meist wegen des betrunkenen Vaters, oft wegen Paula. Fast immer grundlos. Wenn die Mutter versehentlich eine Tasse fallen liess, gab sie der Tochter die Schuld. 

«Für mich war meine Mutter eine Art Monster, dessen Stimmungsschwankungen so unberechenbar waren wie das Wetter im April», schreibt sie in ihrem Blog «Wasmansonichtsagendarf». Vor zwei Jahren traute sich die Kleinkindererzieherin erstmals, über den Kontaktabbruch zu schreiben. In einem Park in Zürich – weit weg von Deutschland, wo sie aufgewachsen ist – sagt sie: «Ich will den Leuten da draussen zeigen, dass man nicht aus einer Laune heraus den Kontakt abbricht.»

Wenn Eltern und Kinder keinen Kontakt mehr haben

«Für mich war meine Mutter eine Art Monster, dessen Stimmungsschwankungen so unberechenbar waren wie das Wetter im April.» – Paula Deme

Quelle: Joseph Khakshouri

Dafür wird die 33-Jährige mit den blauen Augen und den rostroten Haaren kritisiert. Manche finden es erbarmungslos, den Kontakt zur eigenen Mutter abzubrechen. Paula Deme sieht das anders: «Manchmal gehts nicht anders, auch zum Schutz des Kindes.» Ihr Entscheid sei der Schlussstrich unter eine schwierige Beziehung. 

Immer wieder hat sie es mit der Mutter versucht. Ist an deren Geburtstagen zu ihr gefahren, hat mit ihr Kuchen gebacken. So auch an jenem letzten Treffen, als die Mutter sie einmal mehr mit einer Schimpftirade überzog. Wegen Eiern, die Paula angeblich falsch dem Teig beigefügt hatte. «Heute weiss ich, dass ich emotional nur durch einen kompletten Kontaktabbruch zur Ruhe kommen kann», sagt sie.

Die Angst, ihn ganz zu verlieren

Bei der Familie von Margrit Sommer gab es zu Hause keine psychische und physische Gewalt, wohl aber einen Bruch. Von einem Tag auf den anderen war ihr Exmann ausgezogen. Kurze Zeit später packte Sohn Daniel seine Sachen. Aus heiterem Himmel, mit 17 Jahren. Er sagte der Mutter, sie habe nun alles für ihn getan, jetzt müsse er selbst schauen. So erinnert sich Sommer. Immer wieder versuchte sie in der darauffolgenden Zeit, mit Daniel zu reden. Rief an, schrieb SMS und stand auch einmal vor seiner Wohnungstür, um ihm seine Lieblingssalami zu bringen. Anfangs reagierte er kaum, später gar nicht mehr. Manchmal wagte sie monatelang keinen Versuch mehr. Aus Angst, ihn ganz zu verlieren. 

Damit ist Sommer nicht allein. «Man hat ständig Angst, etwas falsch zu machen. Es ist ein Eiertanz», erzählt eine Frau in der Berner Selbsthilfegruppe. Die meisten denken täglich an ihr Kind. Egal, wie viele Jahre seit dem letzten Kontakt vergangen sind. Sie möchten endlich zur Ruhe kommen, nach vorn schauen können. Doch das ist schwierig. Immer wieder googeln sie ihre Kinder oder überlegen, ob sie wieder einmal anrufen oder eine Karte schicken sollen, die dann beim Empfänger doch wieder im Abfall landet. Manchmal möchten sie ihren Kindern auch einfach die Meinung sagen. «Wissen die überhaupt, welchen Schmerz sie mit ihrem Schweigen bei uns auslösen?», fragt ein Vater in den Raum. 

Nicht alle leiden ewig. Manche haben akzeptiert, dass ihre Kinder verstummt sind. «Meine Tür ist nicht mehr einfach offen», sagt eine Mutter. Ihre Tochter lebt im Ausland und will seit zehn Jahren nichts mehr mit ihr zu tun haben. «Wir sind heute Fremde», sagt sie. «Es bräuchte Jahre, um so eine zerrüttete Beziehung zu kitten.»

Das stellte auch Margrit Sommer fest, als sie an einer Beerdigung zufällig ihren Sohn traf. Er blieb auf Distanz. «Das Band zwischen uns gibt es nicht mehr. Diese Erkenntnis hat mich erschüttert.» Mittlerweile hat sie aufgegeben. Alle Kontaktversuche eingestellt. «Ich muss mein eigenes Leben leben.» Trotzdem bäte sie ihn herein, falls Daniel eines Tages vor der Tür stünde. «Ich trage die Hoffnung auf eine Versöhnung wohl immer in mir.

* Name geändert

Adressen von Schweizer Selbsthilfegruppen finden Sie unter www.selbsthilfeschweiz.ch.

«Kontaktabbruch ist ein Phänomen unserer Zeit»

Psychotherapeutin Claudia Haarmann über Überbehütung, Vernachlässigung und verzweifelte Hilferufe in Familien.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.

 

Beobachter: Ist der vollständige Abbruch des Kontakts zwischen Eltern und Kindern ein verbreitetes Problem?
Claudia Haarmann: Es ist ein Phänomen unserer Zeit. Ich bin 65 Jahre alt. Meine Generation hat gelernt, Mutter und Vater zu ehren. Wenn uns etwas nicht gepasst hat, haben wir die Faust im Sack gemacht. Die jetzige junge Generation ist mutiger. Das sieht man auch daran, dass sie mehr über die eigenen Gefühle spricht. Wir haben noch vieles in uns hineingefressen. Stopp zu sagen und die Eltern zu verlassen wäre für uns nicht in Frage gekommen.

Beobachter: Machen es sich die Kinder nicht zu leicht, wenn sie den Eltern einfach die Tür vor der Nase zuschlagen?
Haarmann: Einfach so macht das kein Kind. Oft geht diesem Schritt ein jahrelanger Entscheidungsprozess voraus. Kinder lieben ihre Eltern ja. Man muss das als Schutzmechanismus verstehen. Die Kinder versuchen, Abstand zu gewinnen, um mit einem erlittenen Schmerz fertigzuwerden. Zugleich senden sie auch ein Signal an die Eltern: Mir geht es nicht gut mit euch! Oft ist das ein verzweifelter Hilferuf.

Beobachter: Auffallend ist, dass in vielen betroffenen Familien zuvor alles glattging. Welchen Schmerz meinen Sie?
Haarmann: Um das zu verstehen, muss man sich die Art der Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern konkret anschauen. Zum einen gibt es Eltern, die ihrem Kind wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, weil sie seine Bedürfnisse nicht richtig wahrgenommen und gestillt haben. Sie konnten nicht, weil sie vielleicht krank waren oder Geldsorgen hatten oder grosse Konflikte mit dem Partner ausfochten. Ein anderer Grund, der hineinspielen kann: Manche Eltern brauchen ihr Kind. Sie bauen eine Familienidentität auf, der sich das Kind mit seinen Bedürfnissen unterzuordnen hat. Dieses Kind hat kaum Entscheidungsfreiheit und kriegt irgendwann keine Luft mehr.

Beobachter: Dann sind also die Eltern schuld?
Haarmann: Es geht hier nicht um Schuld. Diese Eltern wollten nur das Beste für ihr Kind, sie lieben es. Oft ist es ja so, dass diese Mütter und Väter genau das Gleiche mit ihren Eltern erlebt haben. Sie stammen aus Elternhäusern, in denen ebenfalls Vernachlässigung, Beziehungskälte oder Schweigen stattgefunden haben. Oder das Gegenteil davon: Überbehütung, zu viel Nähe. Das sind Muster, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. 

Beobachter: Ist nach einem Kontaktabbruch ein gemeinsamer Neuanfang denn überhaupt noch möglich?
Haarmann: Beide Seiten müssen sich bewusst machen, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungen haben. Das Kind hat sich vielleicht unterjocht gefühlt, während der Vater findet, dass alles nicht so schlimm sei. Man habe das Kind ja immer unterstützt. Hier müssen die Eltern lernen, zuzuhören, und den Schmerz des Kindes anerkennen. Sie müssen ihm zeigen, dass sie es ernst nehmen. Als erster Schritt ist das wichtig. 

Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox
«Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox»
Jasmine Helbling, Redaktorin
Der Beobachter Newsletter