Wenn sich Eltern über Kindsbelange in den Haaren liegen, sind sie sich trotz Zwist in einem Punkt einig: Das Wohl des Kindes hat Vorrang. Diese Einigkeit bedeutet aber noch lange nicht, dass sie dasselbe meinen. Was zum Wohl eines Kindes geschehen oder nicht geschehen soll, birgt Zündstoff. Weil es meist in der Natur der Sache liegt, dass Mutter und Vater das Kindswohl unterschiedlich definieren, mischen sich früher oder später Juristen, Pädagogen, Ärzte und Psychologen in den Streit ein.

Dumm nur, dass sich zumeist auch diese Fachleute nicht einig sind, was das Kindswohl ist: Was für den Juristen oberste Maxime ist, erachtet der Psychologe unter Umständen als irrelevant für die Entwicklung eines Kindes. Und was dem Lehrer oder einer Behörde wichtig ist, beurteilen die Eltern unter Umständen als Kindsgefährdung. So haben alle ihre eigene Sicht der Dinge. Für das Kindswohl gibt es nämlich keine allgemeingültige Definition, die welt- oder landesweit für die gesamte Bevölkerung Gültigkeit hätte. Was einem Kind guttut, kann Gegenstand grosser Kontroversen sein.

«Zum Beispiel in einer Höhle drin»
Wie definieren denn Kinder das Kindswohl? Der sechsjährige Sohn einer Arbeitskollegin, der sich neuerdings weigert, nach dem Kindergarten in die Krippe zu gehen, antwortet auf die Frage, was das Kindswohl seiner Meinung nach sei, ganz spontan, dass das Kindswohl dort sei, wo man sich als Kind wohl fühlt. Und wohl fühle er sich nur daheim und im Kindergarten.

Die Tochter einer Nachbarin, eine Zweitklässlerin, kann mit der Frage wenig anfangen. Ihr ist es nämlich immer wohl, wenn es ihr wohl ist. «Es sei denn, ich habe Angst. Zum Beispiel in einer Höhle drin oder so», fügt sie nach kurzem Überlegen an, als ihr einfällt, dass sie neulich während einer Schulreise in einer Tropfsteinhöhle war. Und ihr Klassenkamerad findet, dass einem Kind nicht wohl sein könne, wenn sich die Eltern wie bei ihm während des Scheidungsprozesses um das Sorgerecht streiten.

Das Gesetz bleibt schwammig
Während jüngere Kinder ihr Wohl aus der jeweiligen Situation oder aus einer Begebenheit heraus beschreiben, sehen es ältere differenzierter. Mein soeben volljährig gewordener Göttibub findet, man müsste den Begriff nach Altersstufen definieren: «Während für einen 17-Jährigen mehr Freiheiten, von den Eltern entgegengebrachtes Vertrauen und die Chance auf eine Berufsausbildung im Vordergrund stehen, ist für Kleinere das Gefühl von Geborgenheit wohl von zentralerer Bedeutung», sinniert er.

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch unterscheidet jedoch nicht zwischen grösseren und kleineren Kindern. Es sagt den Eltern nur, was sie auf dem 18 Jahre dauernden Weg bis zur Volljährigkeit des Nachwuchses zu tun haben: «Die Eltern leiten mit Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung und treffen unter Vorbehalt seiner eigenen Handlungsfähigkeit die nötigen Entscheidungen.» Wie sie das tun könnten, sagte die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss vor Jahren an einem Vortrag: Sie definierte das Kindswohl so, dass die Voraussetzungen geschaffen werden müssten, damit sich ein Kind psychisch, physisch, gefühlsmässig, geistig, sozial und kulturell entwickeln kann. Doch was heisst das konkret?