Ich setzte mich an einen Schreibtisch mitten auf einer Blumenwiese. Um mich herum Berggipfel. Kein Mensch war zu hören. Via Laptop schaltete ich mich auf eine elektronische Leinwand im Zürcher Hauptbahnhof ein und sah plötzlich diese vielen Menschen. Alle rannten durch die Bahnhofshalle, schauten auf ihre Uhr oder auf das Handy.

Dann gings los. Für einen Werbefilm für «Graubünden Ferien» sollte ich Passanten spontan einen Tag zu mir in die Berge locken. Ich sprach sie via Webcam an und erklärte ihnen mein Anliegen. Sobald sie einwilligten, konnte ich per Knopfdruck ein Zugbillett in Zürich ausdrucken, das sie nach Vrin brachte. Von morgens um sechs bis abends um fünf sass ich vor der Kamera, sagte «Grüazi» und «Allegra». Einer habe ich mal «Grüazi, schöni Frau» zugerufen. Da fragte mich mein Enkel im Nachhinein, ob das Grossmutter gut gefunden habe.

«Ich hätte tatsächlich noch etwas mehr lächeln können.»

Ernst Scherrer, 66, Förster und Alpöhi

Die meisten Passanten schauten mich verwirrt an, waren verwundert, dass ein Werbeplakat mit ihnen spricht. Manche erschraken, manche glaubten, ich mache einen Scherz. Es war gar nicht so einfach, die Leute aus ihrem Alltag zu reissen und für einen Ausflug zu begeistern. Es dauerte zwei Stunden, bis sich jemand darauf einliess. Wer das war, kann ich nicht mehr sagen. Ich habe an diesem Tag mit so vielen Fremden gesprochen, dass ich den Überblick verloren habe.

Bündner Spezialitäten zum Zvieri

Offenbar hatte «Graubünden Ferien» im Voraus ein paar Leute gebeten, an diesem Tag an den Bahnhof zu kommen. Sie wurden allerdings nicht darüber informiert, was dort passieren soll. Auch ich wusste nicht, wer nun extra gekommen ist und wer nur zufällig am Bahnhof war, und redete deshalb mit allen genau gleich. Am Schluss sassen etwa 25 Leute bei mir auf der Alp. Das hat mich überrascht. Ich hätte nie gedacht, dass wirklich so viele kommen. Als alle da waren, haben wir gemeinsam Zvieri gegessen – Bündner Spezialitäten, versteht sich. Manche Besucher wären wohl gerne noch länger geblieben. Aber sie mussten ja alle wieder auf den letzten Zug zurück ins Unterland. Die Fahrt dauert immerhin fast drei Stunden.

Alte Freunde schickten eine SMS

Am anstrengendsten war, den ganzen Tag so freundlich in die Kamera zu grinsen. Irgendwann gegen Mittag sagte mir einer vom Filmteam, ich müsse etwas mehr lächeln. Aber kasch dänn, wänn ab em Morga am segsi grinsa muasch! Als ich mir das Video dann mit meiner Frau zusammen anschaute, fand ich es nicht schlecht. Ich hätte wohl aber tatsächlich noch etwas mehr lächeln können. Den Leuten hat es aber offenbar gefallen. Ich habe sehr viele Komplimente bekommen. Schulfreunde, von denen ich 40 Jahre nichts mehr gehört hatte, schrieben mir plötzlich eine SMS und beglückwünschten mich zu dem gelungenen Video.

«Manche Leute erschraken»: Ernst Scherrer live von der Alp. (Bild: Jung von Matt/Limmat AG)

Quelle: Nicola Pitaro

Aber es ging noch viel weiter. Plötzlich kamen Interviewanfragen von Journalisten aus der ganzen Welt. Es ist schon verrückt, wie viele Leute man mit diesem Facebook und Youtube erreicht. Meine Kinder meinten, jetzt müsse ich mir auch eine Facebook-Seite zutun. Aber kasch dänka! Das brauche ich nicht. Ich habe der Werbeagentur schnell gesagt, dass ich nicht die ganze Zeit Interviews geben kann. Schliesslich habe ich einen Job.

Ich bin Förster. Und zwar seit über 40 Jahren. Normalerweise bin ich im Wald, fälle Bäume und transportiere das Holz zu den Kunden. Im Sommer zeige ich Touristen als Wanderführer die schönsten Ecken Graubündens. Ich selbst fühle mich in St. Antönien am wohlsten. Für meine Familie und mich ist das wie eine zweite Heimat. Für den Job war es aber wichtig, im Zentrum zu leben. Deshalb wohnen wir in Zizers.

Im Herbst gehts in den Nationalpark

Förster ist ein strenger Beruf. Man ist die ganze Zeit auf den Beinen. Einen ganzen Tag lang vor dem Computer zu sitzen war daher eher ungewohnt für mich. Wieder einmal einen Alpöhi spielen würde ich trotzdem gerne. Das Werbevideo zu drehen war eine wahnsinnige Erfahrung. Ich habe vorher noch nie geskypt, und plötzlich musste ich vor der Filmkamera mit Leuten in Zürich sprechen. Auch die Arbeit mit der Agentur war sehr spannend. Eine ganz neue Welt für mich. Mittlerweile habe ich mich sogar daran gewöhnt, Journalisten Fragen zu beantworten. Ich finde das noch ganz nett und unterhaltsam.

Im Oktober gehts mit meiner Frau vier Tage in den Nationalpark nach Zernez. Ein Dankeschön von «Graubünden Ferien» für die vielen Interviews, die ich gegeben habe. Ich freue mich sehr auf diese Reise. Journalisten dürfen da allerdings nicht mit. Sonst muss ich mich am Ende noch für die «Schweizer Illustrierte» in einem Schaumbad präsentieren.