Für einmal sind sich Gewerkschafter und Pensionskassenberater einig: Der Zwang zum Kapitalbezug widerspreche dem Sinn der zweiten Säule, sagen beide Seiten. «Nur eine Rente garantiert, dass man bis zum Tod über ein verlässliches Einkommen verfügt», so Stephan Skaanes vom Vorsorgeberater PPCmetrics. Und die Gewerkschafterin Doris Bianchi ergänzt: «Mit dem Kapitalbezug wird das Langlebigkeitsrisiko auf den Versicherten übertragen.»

Ausgelöst hat die Debatte die Pensionskasse der Credit Suisse. Ab 2017 zahlt sie maximal 98'700 Franken Rente pro Jahr. Wer mehr Altersguthaben hat, muss es als Kapital beziehen. Gewerkschafterin Bianchi fürchtet, dass das nur der Anfang ist. «Was jetzt nur für Kaderleute gilt, könnte bald auch für tiefere Lohnsegmente kommen.»

«So wird private Vorsorge attraktiver»

Weitgehend unbeachtet geblieben ist: Die Pensionskasse von Novartis geht seit fünf Jahren noch weiter. Eine Rente gewährt sie nur noch für Löhne bis 150'000 Franken. Wer mehr verdient, muss sich den entsprechenden Teil des Vorsorgevermögens auszahlen lassen. Und muss dafür zuvor auch seine Anlagestrategie wählen. Das bedeutet zusätzliche Risiken: Wenn die Finanzmärkte richtig schlecht laufen, erhält der Versicherte womöglich weniger, als er eingezahlt hat. Immerhin übernimmt bei Novartis der Arbeitgeber zwei Drittel der Beiträge. Das Konzept habe sich bewährt, heisst es bei der Pensionskasse.

Die Kassen sind heute um jeden Versicherten froh, der sich bei der Pensionierung möglichst viel Kapital auszahlen lässt. 2014 haben gemäss Bundesamt für Statistik 36'363 Versicherte insgesamt 6,1 Milliarden Franken bezogen. Laut Gewerkschafterin Bianchi eine gefährliche Entwicklung. Die Risikoverlagerung hin zu den Versicherten führe zu einer Entsolidarisierung in der zweiten Säule. «Das macht die private Vorsorge für den Einzelnen attraktiver als das Zwangssparsystem der zweiten Säule.»

Gegen den Kapitalbezug spricht noch etwas: Wenn es an den Finanzmärkten gut läuft, können die Pensionskassen Reserven bilden; wenn es schlecht läuft, fangen diese Reserven die Kursverluste auf. Weil die Kassen so das Auf und Ab der Finanzmärkte glätten, können sie höhere Risiken eingehen als der einzelne Anleger.

«Eine sehr kleine Minderheit»

Anders sieht das Kurt Gfeller, Vizedirektor des Schweizerischen Gewerbeverbands. Das Solidaritätsprinzip sei in der zweiten Säule «systemfremd». Zudem gelte der Zwang zum Kapitalbezug und zur Wahl der Anlagestrategie ja nur für eine «sehr kleine Minderheit». Betroffen seien ausschliesslich Besserverdiener, die nicht zum ersten Mal Geld anlegten. Jérôme Cosandey vom wirtschaftsliberalen Think-Tank Avenir Suisse ergänzt: «Kapitalbezüge oder die freie Wahl der Anlagestrategie im überobligatorischen Teil können nicht weniger Solidarität bedeuten, weil diese in der zweiten Säule gesetzlich gar nicht vorgesehen ist.»

Allerdings gibt es auch in der zweiten Säule Solidaritäten. Da sind zunächst die klassischen Versicherungsleistungen gegen Invalidität, Tod und Langlebigkeit. Wer gesund bleibt, zahlt für Menschen mit Behinderungen; wer während des Arbeitslebens nicht stirbt, zahlt für die Hinterbliebenen früh Verstorbener; wer als Rentner früh stirbt, zahlt an die, die länger leben.

Ledige Männer müssten mehr kriegen

Zum anderen gibt es individuelle Solidaritäten: zwischen Männern und Frauen, Ledigen und Verheirateten, Versicherten mit und ohne Kindern sowie zwischen Versicherten mit älteren und mit jüngeren Ehegatten oder Partnern. Rein versicherungstechnisch müsste etwa der Umwandlungssatz für einen ledigen Mann rund einen Prozentpunkt höher sein als derjenige für eine Frau, die mit einem gleichaltrigen Mann verheiratet ist. Die Rente des Ledigen wäre rund 20 Prozent höher als die ihre.

An diesen Solidaritäten will niemand rütteln. Pensionskassenexperte Olivier Deprez findet das auch richtig. «Ohne die personenbezogenen Solidaritäten wäre die Vorsorge teurer, oder es käme zu einem Leistungsabbau.» Wie die meisten Fachleute kritisiert Deprez hingegen «ungewollte und systemfremde Solidaritäten, die der zweiten Säule regelrecht aufgezwungen» würden. Weil der Umwandlungssatz zu hoch sei, zahlten die aktiven Versicherten heute zu hohe Beiträge. Und falls ihre Pensionskasse in die Unterdeckung gerate, müssten sie darüber hinaus auch die Sanierungsmassnahmen selber finanzieren. 
Fachleute kritisieren vor allem den Umwandlungssatz von 6,8 Prozent für den obligatorischen Teil der zweiten Säule. Um ihn zu finanzieren, muss eine Kasse eine jährliche Rendite von rund 4,7 Prozent erzielen. Weil das seit Jahren nicht mehr möglich ist, kürzen die Kassen den Umwandlungssatz für den überobligatorischen Teil, also den Teil des Jahreslohns, der 84'600 Franken übersteigt. Die Folge: Der effektive Umwandlungssatz – also der Durchschnittswert der Umwandlungssätze für Obligatorium und Überobligatorium – sinkt. Gegenwärtig liegt er bei durchschnittlich 6,13 Prozent. Dafür braucht eine Pensionskasse eine Jahresrendite von knapp 3,9 Prozent.

Weil auch das in den letzten Jahren kaum mehr möglich war, kam es zu 
einer Umverteilung von den Arbeitenden hin zu den Rentnern. Aktuell werden so rund vier Milliarden Franken jährlich umgelagert. Das wäre nicht so schlimm, wenn das Alterskapital der Aktiven auf lange Sicht mindestens so hoch verzinst würde wie die Guthaben der Rentner. Und für die heute benachteiligten Jahrgänge müsste es einen Bonus geben. Beides ist nicht in Sicht.

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Glatt ein Drittel weniger Rente

Seit Jahren senken die Pensionskassen auch den technischen Zins, mit dem die erwartete Rendite des Vorsorgekapitals der Rentner ermittelt wird. Je tiefer er ist, umso tiefer auch der effektive Umwandlungssatz. Seit 2007 sank der technische Zins von 3,6 auf durchschnittlich 2,6 Prozent. Die tiefsten Sätze liegen nun unter 2 Prozent.

Mit dem tiefen technischen Zins senken die Pensionskassen ihr Risiko. Doch wenn sie zu weit gehen, handeln sie sich den Zorn der Versicherten ein. Das VZ Vermögenszentrum hat ausgerechnet, dass das Pensionsguthaben über eine durchschnittliche Berufskarriere gesehen um gut einen Drittel schrumpft, wenn der Zins von 4 auf 1,25 Prozent gesenkt wird.

Wenn Kassen beim Anlegen keine Risiken mehr eingehen wollen, untergraben sie das Prinzip der Solidarität, sagt Gewerkschafterin Bianchi. Und machen sich letztlich überflüssig. Es ist eine Gratwanderung – denn umgekehrt gefährden auch ein zu hoher technischer Zins und zu hohe Umwandlungssätze die zweite Säule.