Man kann sich den «gmögig» wirkenden Mann als Traumangestellten vorstellen: fleissig, pflichtbewusst, loyal. Doch wenn Werner Mäder* auf den Gerichtsentscheid zu sprechen kommt, verliert er die Gelassenheit. «Was dieser Richter geschrieben hat, ist eine Frechheit.» Man habe ihn als faul hingestellt.

Dabei war es für Mäder immer eine Selbstverständlichkeit, hart zu arbeiten. Er wuchs ohne Vater in einer kinderreichen Familie auf, ging als Kind den Bauern helfen, «weil es dort gutes Essen gab». 

Durch die Schule kam er mit Ach und Krach. In der Lehre als Schlosser fingen dann die Beschwerden an. «Ich habe nichts anderes gekannt, als unter Schmerzen zu arbeiten.» 

Am ganzen Körper Schmerzen

Es begann mit Entzündungen in den Gelenken, an den Armen, Beinen, Hüften, die immer schlimmer wurden. Mäder hatte unter anderem eine Hüftarthrose und Lähmungserscheinungen in den Beinen, konnte kaum noch gehen, musste mehrmals die Ellbogen operieren lassen. Zum Arzt ging er trotzdem jahrelang nicht. Heute hat er von der Schulter bis zu den Füssen Schmerzen. Woher die Beschwerden kommen, dafür hat er letztlich keine Erklärung.

Doch Jammern ist nicht seine Art, immer hat er die Zähne zusammengebissen und sich so arrangiert, dass es irgendwie weiterging. In seinem angestammten Beruf konnte er bald nicht mehr arbeiten, also wechselte er mehrmals die Branche und den Wohnort. Um seine Anstellungen nicht zu gefährden, verschwieg er, dass er körperliche Probleme hatte. Auf Anraten von Ärzten nahm er jahrelang enorme Dosen von Schmerzmitteln. Ohne hätte er nicht arbeiten können.

2006, als die Beschwerden schon weit fortgeschritten waren, diagnostizierte ein Arzt eine «Erkrankung der Wirbelsäule, der Hüfte und der Schultergelenke und des linken Fusses». Mäder solle Arbeiten aussuchen, die «regelmässige Positionswechsel sowie eine Entlastung der Wirbelsäule erlauben» – genau so hatte er es schon lange gemacht. Manchmal hatte er zwei Jobs gleichzeitig, um die körperlichen Belastungen auszugleichen: Beim einen konnte er sitzen, beim anderen stehen. Und damit er weiterhin Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatte, bildete er sich stetig weiter, holte in Abendkursen die Matura nach.

«Was dieser Richter geschrieben hat, ist eine Frechheit!»


Werner Mäder*, IV-Rentner

Werner Mäder war unter anderem Zugbegleiter und Wachmann bei der Securitas. Doch nach einigen Jahren konnte er nicht mehr so lange stehen. Also suchte er sich eine Arbeit im Detailhandel. Als er keine Gestelle mehr auffüllen konnte, wechselte er an die Kasse. 

Mit der Zeit waren die Schmerzen aber so stark, dass er nur noch mit einer Hand arbeiten konnte. «Die Kunden in der Warteschlange fluchten laut, weil es so langsam vorwärtsging.» Mäder war an einem Wendepunkt angelangt. Nach Jahrzehnten des Sich-Durchbeissens musste er einsehen, dass er nicht mehr konnte. Doch statt sich krankschreiben zu lassen, kündigte er die Stelle. 2011 meldete er sich bei der IV an.

Zuletzt war er zu 60 Prozent bei der Migros angestellt gewesen und hatte daneben an einer Fernuniversität Rechtswissenschaften studiert. Seine Idee war, in einer Anwaltspraxis im Sekretariat zu arbeiten, doch auf seine Bewerbungen hagelte es Absagen. «Eine gewisse Naivität ist mir nicht abzusprechen», sagt Mäder, und ein leichtes Schmunzeln erscheint auf seinem Gesicht. Einen Quereinsteiger über 50 würde wohl kaum ein Anwalt als Sekretär anstellen.

Es war die Pensionskasse, die klagte

Vier Jahre lang wartete er auf den Rentenentscheid, lebte von der Sozialhilfe und leistete Freiwilligenarbeit als Museumsaufseher. 2015 sprach ihm die IV eine volle Rente zu. Neben zahlreichen körperlichen Leiden diagnostizierten die Ärzte auch mittelschwere Depressionen. Mäder wurde als zu 50 Prozent arbeitsunfähig eingestuft, seine «Restarbeitsfähigkeit» galt für die IV als «nicht verwertbar». Der damals 57-jährige, offensichtlich kranke Mann fände realistischerweise keine Anstellung mehr.

Gegen den IV-Entscheid legte die Migros-Pensionskasse Beschwerde ein. Sie wäre zu einer Rentenzahlung verpflichtet gewesen. Sie brachte vor, der entscheidende Gesundheitsschaden sei erst nach der Anstellung bei der Migros bekanntgeworden, daher sei sie nicht zahlungspflichtig. Die Pensionskasse bekam vor Sozialversicherungsgericht recht. Mäders Anwalt kann den Entscheid nachvollziehen.

Doch das Gericht hob gleich die ganze IV-Rente auf. Selbst für Juristen schwer verständlich, errechneten die Richter eine Arbeitsunfähigkeit von lediglich 15 Prozent. Damit entfällt der Rentenanspruch. Das Gericht fand, Mäder – 59 und kaum fähig, irgendeine Tätigkeit ohne Schmerzen auszuüben – sei sehr wohl vermittelbar im Arbeitsmarkt. Und da er jahrelang vollkommen freiwillig Teilzeit gearbeitet habe, sei sein Rentenanspruch sowieso stark reduziert. 

Diese Begründung empört Mäder: «Ich habe Teilzeit gearbeitet, weil ich daneben ein Studium machte – und auch wegen der Schmerzen.» Mäders Anwalt, Andreas Noll, findet die Urteilsbegründung «sachlich falsch». Die Richter hätten schlicht ignoriert, dass Mäder neben der Arbeit studiert habe. «Somit wird ein Mensch abgestraft, der stets die Zähne zusammengebissen hat.» Es sei stossend, dass das Gericht einen Entscheid der IV aufhebe, der auf mehreren ärztlichen Gutachten beruhe – ohne neue Abklärungen vorzunehmen. «Manche Richter wollen wohl den sozialpolitischen Sparkurs stützen», sagt Noll.

Er mag nicht mehr kämpfen

Doch auch der Gang vors Bundesgericht half Mäder nicht: Die höchste Instanz stützte das Urteil des Sozialversicherungsgerichts im Wesentlichen. Nun muss Mäder erneut Sozialhilfe beziehen. «Dass es einmal so weit kommen würde, hätte ich nicht im Traum gedacht.» Besonders bitter: Er musste auch die Prozesskosten von 17'000 Franken berappen, da er keine unentgeltliche Rechtspflege bekam. Offen ist, ob er die bereits bezogenen IV-Gelder zurückzahlen muss.

Kämpfen mag Werner Mäder nicht mehr, jammern mag er auch nicht. Doch etwas wird bleiben: Er fühlt sich von der Justiz betrogen.


*Name geändert

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